Laut Bundesverfassung treffen der Bundesrat und die Bundesversammlung Massnahmen zur Wahrung der Neutralität der Schweiz. Die Neutralität der Schweiz wurde weder im Zweckartikel noch in den aussenpolitischen Grundsätzen verankert, denn sie ist „nur“ ein Mittel zum Zweck. Politische Neutralität ist also das, was unser Bundesrat und das Parlament darunter verstehen. Und da hat sich Vieles in letzter Zeit verändert: Bundesrat und Parlament begannen, die Wirtschaftssanktionen der NATO bzw. der USA mitzutragen, wenn auch eher klammheimlich. Inzwischen sind wir mitten in einem Zeitenumbruch, der zum Nachdenken zwingt.
... und so haben wir derzeit einen grandiosen Neutralitäts-Salat
Im Ukraine-Konflikt hat Ignazio Cassis, zusammen mit den Bundesrätinnen Karin Keller Suter und Simonetta Sommaruga, im März dieses Jahres die politische Neutralität der Schweiz zu Grabe getragen: Die Schweiz hat sich offen gegen Russland und hinter die Ukraine gestellt, und es wurde lauthals verkündet hat, dass die Schweiz die Sanktionen der EU und der NATO mitträgt. Tanner hat dazu in der NZZ (7.4.22) einen Artikel verfasst mit dem treffenden Titel: „«Ich persönlich» oder wie die Bundesräte mit Einzelaktionen den Bundesrat schwächen“. Dazu stellen sich zahlreiche Fragen: Wurde die Angelegenheit vorher im Bundesrat abgesprochen oder ist Cassis dem Druck der vorpreschenden Karin Keller Suter gefolgt? Handelten und redeten die Damen nach ihrem persönlichen Belieben und Geschmack? Immerhin ist Cassis als Aussenminister befugt, in dieser für die Schweiz so wichtigen Sache offiziell zu reden. Eine ausreichende Begründung für den fundamentalen Kurswechsel jedoch gab er nicht. Schwindet da am Ende der Sinn für formelle Amtsrollen?
Eine integrale bewaffnete Neutralität gegen eine zeitgemässe aktive Neutralität?
Altbundesrat Blocher lanciert vermutlich eine Initiative für eine integrale bewaffnete Neutralität. Doch wenn er stur auf der alten Neutralität bzw. der engen rechtlichen Neutralitätsdefinition beharrt, treibt er vermutlich viele Bürger:innen in die Arme der Neutralitätsgegner und riskiert eine Ablehnung. Damit wäre das Gegenteil von dem erreicht, wozu Besonnenheit uns rät: die aktivistische Neutralitätspolitik des Bundesrats zu unterbinden.
Denn Neutralität kann auch nicht das sein, was Altbundesrätin Micheline Calmy-Rey mit ihrem Konzept der aktiven Neutralität vertritt: Sie schlägt in ihrem Interview im Bund (12.4.22) vor, dass die Schweiz die Sanktionen der EU, der USA und der NATO aktiv mittragen soll – eine Politik, welche die einstige Aussenministerin bereits mit der Anerkennung vom Kosovo eingeleitet hat. Konkret heisst das: Die Schweiz übernimmt die Weltsicht der westlichen Grossmächte und trägt damit fraglos auch die teils üblen Praktiken des Westblocks mit – samt kriegerischen Interventionen, Völkerrechtsbrüchen und Regime-Change-Aktivitäten – Libyen, Afghanistan, der zweite Irak-Krieg oder das bombardierte Serbien lassen grüssen.
Mit der Neutralität à la MCR gibt die Schweiz nämlich zwei wichtige Aufgaben auf: Zum einen das hohe Ansehen des IKRK und seine bislang einzigartigen Einsätze in Krisengebieten, die denn doch für den guten Ruf der Schweiz sorgten. Zum andern die vornehmsten und wichtigsten Aufgaben, die ein neutraler Kleinstaat wie die Schweiz leisten kann: jene der Konfliktvermittlung bzw. der guten Dienste! Denn Neutralität ist das, was von den Konfliktparteien als solche wahrgenommen wird. Beispielsweise wurde der Schweizer Staatssekretärin Livia Leu im Iran die Vertretung der USA entzogen, weil die Schweiz die von den USA diktierten Sanktionen mitgemacht hat. Dank viel Diplomatie hat die Schweiz später ihr Mandat – wenn auch reduziert - wieder erhalten. Doch genug der Kritik an der alten Politik-Garde.
Kaugummi-Neutralitäten - viele Parteien köcheln derzeit ihr eigenes Neutralitätskonzept
Die Schweiz - unterwegs zu einer Drückeberger-Neutralität?
Noch bin ich überzeugt, dass die Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung die Neutralität nicht fraglos aufgeben will. Aber wie weit wird derzeit sogar einem feigen, ja hinterhältigen Neutralitätskonzept Vorschub geleistet? Auch dafür ein Beispiel; leider ein unheimliches - im Freud’schen Sinn. Grossnachbar Deutschland hat sie nämlich nie ganz aufgegeben: die besonderen Verbindungen mit Staaten und Gruppierungen, die sich einst mit Hitler gegen Russland verbündet hatten. Zu diesen Staaten gehören Kroatien und Slowenien: im Juni 1991 vom damaligen Aussenminister Genscher als souveräne Staaten anerkannt und aus dem jugoslawischen Staatenverbund herausgelöst. War das der Funke für den Kriegsausbruch im Pulverfass Jugoslawien? Zu den Staaten, die eng mit den Nationalsozialisten zusammenarbeiteten, gehören aber auch das Baltikum und die Ukraine[3]: jenes Land, mit dem Deutschland sogar eine hundertjährige Tradition im Machtkampf gegen Russland gepflegt hat. Die langzeitlichen, wenn auch wechselnd engen Verbindungen mit den faschistischen Gruppierungen im Osten wurden erst von Willy Brandt unterbrochen. Auch das hat sich inzwischen wieder geändert.
Im April 2022 reiste Annalena Baerbock in die baltischen Staaten und schwadronierte zu Beginn:[4] „Wir stärken unsere Wehrhaftigkeit, und über Wehrhaftigkeit können wir von Lettland, Estland und Litauen viel lernen.“ Heldinnenmutig hat die deutsche Aussenministerin dann ein Denkmal für die Opfer des Kommunismus besucht. Nicht eingeplant war ein Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, obwohl im Baltikum von den Nazis und ihren Kollaborateuren ca. 260 000 Juden vernichtet wurden. Und bis heute werden in allen vier Oststaaten, in Estland, Lettland, Litauen und in der Ukraine, die faschistischen Kollaborateure verehrt und öffentlich geehrt: mit Denkmälern, Strassennamen, Feiertagen etc.
Noch irritierender: Deutschland nimmt immer wieder neu Rücksicht auf diese Kollaborateursverehrung. Und auch die Schweiz trägt das – jüngst oder immer schon? - brav und neutral mit! Das sei am Beispiel der UN-Resolutionen vom 21.12. 2021[5] illustriert: Sie fordert ein entschlossenes Vorgehen aller Mitgliedstaaten gegen Rassismus und Antisemitismus und drückt „tiefe Sorge über die Glorifizierung ... der Nazibewegung, des Neonazismus und ehemaliger Mitglieder der Waffen-SS aus“. [6]
Die Resolution wurde mit klarer Mehrheit angenommen, aber nicht einstimmig verabschiedet: 130 Staaten stimmten dafür, 49 Staaten enthielten sich der Stimme, zwei Staaten stimmten „nein“: die Ukraine & die USA! 12 Staaten waren abwesend; die Enthaltungen kamen alle von den EU- und NATO-Ländern... und von der Schweiz. Auch Australien, Neuseeland, Japan, Südkorea und einige vom Westen abhängige Kleinstaaten enthielten sich der Stimme. Darunter alle Staaten, die jetzt Sanktionen gegen Russland verhängt haben. Besonders pitoyabel: Auch die Deutsche Regierung hat dieser Resolution nicht zugestimmt und es unterlassen, die Verherrlichung des Nationalsozialismus und seiner Kollaborateure unmissverständlich zu verurteilen. Persönlich schäme mich allerdings am meisten für die Schweiz: einmal mehr hat sie sich ihrem grossen Nachbarn und der noch mächtigeren USA gebeugt.
Höchste Zeit, um nachzudenken: Doch satteln wir das Pferd zuerst am Schwanz auf!
Russland hat mit seinem Überfall klar gegen das Völkerrecht verstossen und wurde dafür zu Recht verurteilt. Laut UN-Charta, Artikel 2. ist aber beides verboten: sowohl andere Länder anzugreifen als auch andere Staaten zu bedrohen. Russland hat das Erstere, die NATO das Letztere getan: Nicht nur wurden die einstigen Versprechungen gegenüber Russland gebrochen, sondern die NATO hat sich in den vier Wellen der Osterweiterung Russland immer bedrohlicher angenähert; zum Schluss sogar Putins mehrmalig vorgetragene Bitte nach Sicherheitsgarantien für sein Land abgeschlagen.
- Weshalb aber hat niemand auf die Völkerrechtsbrüche der NATO verwiesen?
- Weshalb wurde nicht auf den Bruch des Artikels 2 in der UN-Charta aufmerksam gemacht?
- Weshalb hat die Schweiz, die an der Ausarbeitung des Minsker-Abkommens wesentlich beteiligt war, nicht rechtzeitig und mit Nachdruck alarmiert, als der Vertrag nicht eingehalten wurde?
Doch weshalb soll bei den einen etwas völkerrechtlich in Ordnung sein, bei den anderen hingegen nicht? Fehlt es da zu guter Letzt an einem Gebot der Fairness? An einer Regel auf der Metabene von der Art: Niemand kann bzw. darf sich auf ein Recht berufen, das er seinem Gegner nicht zubilligt!
Wie denn könnte eine zeitgemässe Neutralität der Schweiz aussehen?
Ich bin jetzt kühn, aber aus drei guten Gründen: Erstens ist die Schweiz heute Mitglied der UNO, zweitens weiss ich, wie sehr die liberale Weltwirtschaft weltweit eine immer gewaltigere Ungleichentwicklung produziert, die sich im Innern der armen Staaten als wachsende interne Polarisierung umsetzt – etwas, das wiederum die zunehmende Einwegwanderung von Süd nach Nord verursacht. Drittens bezweifle ich, dass der westliche Machtblock seinen bislang grenzenlosen Zugriff auf die globalen Ressourcen und den damit verbundenen Überkonsum auf die Dauer halten und durchsetzen kann. Weshalb sind wir in der Schweiz so blind dafür, dass die geopolitischen Machtverhältnisse sich künftig ändern werden? Ich bin überzeugt: Friedensarbeit und Ausgleich werden immer dringender und nötiger. Deshalb wäre es klug, wenn die Schweiz künftig eine aktive und gleichzeitig faire und konstruktive Neutralitätspolitik betreiben würde. Eine solche kann nur praktiziert werden, wenn sie längerfristig überlegt und verfassungsrechtlich abgesichert ist. Definitiv kann «Neutralität“ nicht das sein, was Politikerinnen schweizweit ad hoc grad so alles meinen oder zur Steigerung ihrer Popularität von Fall zu Fall definieren und umdefinieren. Neutralität ist auch keine Windfahne, die sich grad nach den jeweils Mächtigen dreht, seien das die jeweiligen Amtsinhaber:innen oder aber grossmächtige Staaten und Interessenorganisationen. Kurz – die Schweiz braucht eine Neutralität mit Zukunft, die weder janusköpfig noch hinterhältig ist, sondern aktiv, konstruktiv und fair.
Einige Vorschläge für eine aktive, aber konstruktive und allerseits faire Neutralität
1. Die Schweiz benennt die Verletzungen von Völkerrecht und der UN-Charta, von wem auch immer sie begangen werden. Und zwar mahnt sie diese Verletzungen rechtzeitig in der UNO bzw. bei den verantwortlichen UN-Organisationen an. Russland hat mit seinem Krieg gegen die Ukraine das Völkerrecht verletzt, die NATO vorher mit ihrer Osterweiterung die Sicherheit von Russland bedroht und, erst recht mit der Weigerung, Russland die nötige Sicherheit zu garantieren, den Artikel 2 der UN-Charta verletzt – alle drei Tatbestände sind relevant! Es geht also nicht um eine Parteinahme für oder gegen Staaten, sondern für eine Parteinahme für das Völkerrecht und die UN-Charta.
Erst recht hat die Schweiz die Verletzungen jener Verträge anzumahnen, für die sie mitverantwortlich ist: z. B. das MINSK-Abkommen II. Als Depositar-Staat der Verträge zum Humanitären Völkerrecht, nimmt die Schweiz ihre Rolle künftig aktiv wahr: Sie sorgt z. B. dafür, dass auch die andauernden Völkerrechtsverletzungen von Israel endlich deutlich und klar zur Sprache kommen. Und in diesem Sinne hatten wir in der Schweiz bereits seit langem sogar eine Drückeberger-Neutralität!
2. Als neutrales Land trägt die Schweiz künftig nur jene Sanktionen mit, die entweder von der Mehrheit der UN-Staaten oder vom Sicherheitsrat beschlossen wurden und damit als universell verbindlich gelten können. Mit einer gewichtigen Ausnahme:
3. Die Schweiz trägt, als humanitäres Land, k e i n e Sanktionen mit, welche die Bevölkerung treffen: Wasser, Elektrizität, medizinische Versorgung, das Gesundheits- wie das Bildungswesen müssen, trotz Sanktionen, reibungslos funktionieren können.
4. Die Schweiz engagiert sich aktiv für die Konfliktvermittlung - wer immer die Streithähne sind!
Konfliktvermittlung wäre im Ukraine-Krieg dringend nötig, weil dieser Konflikt ins Desaster führen kann: Entweder in einen Atomkrieg, der, wie erwähnt, n i c h t die USA, sondern Europa treffen würde – nota bene eine Schädigung, die ins Kalkül einer Grossmacht gehört, die die Welt regieren will. Oder aber es kommt zu einem Zusammenbruch Russlands – etwas, was möglicherweise einige Konzerne und Politmächtige in transnationalen Hochoben freuen könnte. Doch die gewaltigen Unruhen und Wanderungen, das Elend und die Anomie, die ein von aussen induzierter Umsturz mit sich bringen wird, werden zum grossen Schaden von ganz Europa sein.
5. Wenn die Schweiz eine konstruktive und allerseits faire Neutralität anstrebt, dann ist es allerdings nötig, dass wenigstens ihre staatliche Medien, SRF, auch in Kriegsfällen eine qualifizierte Öffentlichkeitsarbeit leisten. Derzeit wird das pure Gegenteil praktiziert. Zu den journalistische Grundregeln gehört es, dass faktenbasiert und allseitig informiert wird, d.h. dass die Probleme und Interessenpositionen auf beiden Seiten erforscht, die Widersprüche dargelegt und kommentiert werden. Nur auf diese Weise instruiert, kann das gefährliche Gruppendenken[7] verhindert werden und die Schweiz auch künftig eine Rolle einnehmen, die zwischen Kriegsparteien konstruktiv und fair zu vermitteln vermag.
6. Die Schweiz leistet künftig aktive Friedensarbeit: Sie tritt z. B. dem Atomwaffenverbotsvertrag bei.
___
[1] Robert Michael Gates: From the Shadows, The Ultimate Insider's Story of Five Presidents and How They Won the Cold War Taschenbuch. 9. Januar 2007
[2] https://www.rand.org/content/dam/rand/pubs/research_briefs/RB10000/RB10014/RAND_RB10014.pdf
[3] German Foreign Policy 22.6.21:Von Tätern, Opfern und Kollaborateuren (II)
[4] German Foreign Policy, 21.4.2022: Das Gedenken der Wehrhaften.
[5] https://digitallibrary.un.org/record/3951466[6] Combating glorification of Nazism, neo-Nazism and other practices that contribute to fuelling contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intolerance : resolution / adopted by the General Assembly
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Gruppendenken
Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.