Eine echte Lösung für die Tragödie der Ukraine
Der Konflikt in der Ukraine hat mehrere Ebenen.
Zum einen handelt es sich um einen Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und Russland darüber, zu wessen Einflussbereich die Ukraine gehört. Wie Carl Gershman, der damalige Präsident der vom Kongress finanzierten National Endowment for Democracy, 2013 sagte, "ist die Ukraine der größte Preis". Wenn sie von Russland weg und in den Westen hineingezogen werden könnte, dann "könnte Putin nicht nur im nahen Ausland, sondern auch innerhalb Russlands selbst auf verlorenem Posten stehen."
Auf einer anderen Ebene geht es jedoch um einen Konflikt zwischen den russischen und ukrainischen Eliten über die Frage, ob ihre Beziehungen freundschaftlich oder antagonistisch sein sollen. In Russland wird der Antagonismus durch die Befürchtung genährt, dass die Rechtsextremen, die seit 2014 an Einfluss gewonnen haben, die Ukraine zu einem "Anti-Russland-Land" machen werden. In der Ukraine wird der Antagonismus durch die Befürchtung genährt, dass freundschaftliche Beziehungen zu Russland die Herausbildung einer unabhängigen ukrainischen nationalen Identität verhindern werden. Wie der ehemalige ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko es ausdrückte: "Wenn Russen und Ukrainer ein Volk sind, dann gibt es das ukrainische Volk nicht." Diese gegenseitigen Ängste haben jeden sinnvollen Dialog verhindert.
Schließlich und vor allem ist es auch ein Konflikt innerhalb der Ukraine, zwischen dem historisch eher russophilen Osten und dem historisch eher russophoben Westen. Dieser Konflikt darüber, wer die ukrainische nationale Identität und ihre Zukunft definieren darf, besteht seit mindestens 150 Jahren und ist dreimal in ernsthaften militärischen Auseinandersetzungen innerhalb der Ukraine ausgebrochen: während des Ersten und Zweiten Weltkriegs und nach dem Euromaidan 2014. Jedes Mal brach die Gewalt aus, weil externe Mächte versuchten, die Waage zu ihren Gunsten zu kippen.
Aus meiner Sicht ist dieser interne Konflikt der wichtigste, denn seine Lösung würde die Hauptquelle der internen Spannungen beseitigen, die von ausländischen Akteuren genutzt wurden, um die beiden anderen Konfliktebenen zu schüren. Er kann jedoch nur durch Dialog, Mitgefühl und gegenseitige Versöhnung unter den Ukrainern selbst gelöst werden.
Warum ist Russland jetzt einmarschiert? Weil Russlands bisherige Strategie auf allen Ebenen zum Scheitern verurteilt war.
Im strategischen Konflikt mit den Vereinigten Staaten lehnte Washington die drei grundlegenden Sicherheitsforderungen ab, die Russland im November letzten Jahres vorbrachte: keine neuen NATO-Mitglieder, insbesondere die Ukraine, keine strategischen US-Waffen an der russischen Grenze und eine Rückkehr zu dem gesamteuropäischen Sicherheitsrahmen, den die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Ende der 1990er Jahre beschlossen hatte. Dieser Rahmen wäre auf eine gegenseitige Anerkennung des ineinandergreifenden Charakters der Sicherheit aller europäischen Staaten, einschließlich Russlands, und auf die Zusage hinausgelaufen, das derzeitige Gleichgewicht der Interessen nicht durch eine NATO-Erweiterung zu untergraben.
Im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat die Ukraine Russland inzwischen den Rücken gekehrt. Nachdem die Ukraine im Februar 2019 ihre Verfassung geändert hatte, um die NATO-Mitgliedschaft zu einem verbindlichen Ziel für alle künftigen Regierungen zu machen, wurde sie auch ohne NATO-Mitgliedschaft zu einem militärischen Bollwerk der NATO. Sie wurde nach NATO-Standards bewaffnet und erhielt NATO-Ausrüstung und -Ausbildung, während Großbritannien zustimmte, neue Marinestützpunkte im Schwarzen Meer zu errichten und zu beliefern.
Schließlich war der achtjährige Konflikt im Donbass de facto zu einem Zermürbungskrieg gegen die russischsprachige Bevölkerung des Landes geworden. Der von Russland sieben Jahre lang geförderte Minsk-II-Prozess sah eine föderale Ukraine mit regionalem Kulturschutz für die russischsprachige Bevölkerung vor. Dies wurde Ende 2021 von hochrangigen ukrainischen Regierungsvertretern ausdrücklich abgelehnt. Schon vorher wurde jedoch der führende Oppositionspolitiker des Landes, Viktor Medwedtschuk, wegen Hochverrats verhaftet. Alle wichtigen regimekritischen (d.h. russophilen) Fernseh- und Medienanstalten wurden von der ukrainischen Regierung geschlossen. Ein russophiler Ukrainer zu sein, wurde nun im Wesentlichen damit gleichgesetzt, anti-ukrainisch zu sein.
Da die russische Regierung jegliches Vertrauen in die Bereitschaft des Westens verloren hatte, einen für beide Seiten akzeptablen Kompromiss in Bezug auf ihre wichtigsten Sicherheitsbelange zu finden, sah sie sich gezwungen, den ultimativen Preis zu zahlen: Um aus dieser aussichtslosen Situation herauszukommen, musste sie die Tagesordnung neu festlegen. Sie entschied sich dafür, dies durch eine brutale Invasion in der Ukraine zu tun, um das Ergebnis des Euromaidan 2014 rückgängig zu machen.
Durch einen De-facto-Regimewechsel in Kiew versucht Russland, der Ukraine Neutralität und Föderalismus aufzuzwingen und damit seine Nachteile auf allen drei Konfliktebenen gleichzeitig auszugleichen: Auf der strategischen Ebene wären die Vereinigten Staaten nun gezwungen, Russlands "rote Linien" zu beachten, weil sie verstehen würden, dass deren Missachtung Krieg bedeutet. Auf bilateraler Ebene würde die Auferlegung der Neutralität gegenüber der Ukraine den militärischen Plänen der NATO für das Land ein Ende setzen. In dem entscheidenden internen Konflikt schließlich stellt der Föderalismus das Interessengleichgewicht zwischen der Ost- und der Westukraine wieder so her, wie es vor 2014 war.
Was kommt als nächstes?
Ein Regimewechsel ist ein sehr langer, teurer und blutiger Prozess. Es sei daran erinnert, dass es den Vereinigten Staaten trotz all ihres Reichtums und ihrer militärischen Ressourcen nie gelungen ist, irgendwo im Nahen Osten einen dauerhaften Regimewechsel herbeizuführen, obwohl sie es seit mehr als zwanzig Jahren versuchen.
Was in der Ukraine geschieht, wird letztlich vom ukrainischen Volk entschieden werden. Wie viele werden die russische Invasion als einen Versuch betrachten, ihre nationale Identität zu beenden? Wie viele werden die Russen als Befreier von ihrem achtjährigen Albtraum sehen? Das Leid wird in jedem Fall groß sein, denn im Krieg, so erinnert uns William Butler Yeats in The Second Coming, "fehlt den Besten jede Überzeugung, während die Schlimmsten voller leidenschaftlicher Intensität sind".
Eine Sache, die wir mit Sicherheit vorhersagen können, ist, dass sich der tragische Zyklus der Ukraine als Folge dieser Invasion fortsetzen wird. Für die griechischen Klassiker ist die Tragödie das Ergebnis der Unfähigkeit der Akteure, zu erkennen, wie sehr ihre eigenen Handlungen zu ihrer aktuellen Katastrophe beigetragen haben. Hybris führt die Nationen in die Katastrophe, weil die Menschen die wahre Bedeutung von Gerechtigkeit – nämlich Barmherzigkeit – nicht begreifen und sich stattdessen mit Rache zufrieden geben.
Indem die griechischen Dramatiker auf der Bühne die Schrecken vor Augen führten, die aus dem unnachgiebigen Streben nach Rache resultieren, wollten sie das Publikum zur Katharsis führen, einer Reinigung von Emotionen, die so stark ist, dass neue Emotionen wie Mitleid und Mitgefühl in die Seele eindringen und an die Stelle der Wut treten können. Aristoteles war der Meinung, dass die Katharsis Einzelpersonen und Gesellschaften von der endlosen Wiederholung eines tragischen Drehbuchs befreien könnte, aber erst, wenn die Beteiligten selbst erkannten, wie ihr eigener Mangel an Mitgefühl sie in den Ruin und die Zerstörung geführt hatte.
Es gibt also nur eine wahre Lösung für den Zyklus der Tragödie. Wie der berühmte walisische Sozialkritiker Raymond Williams in seinem Klassiker "Modern Tragedy" schrieb, handelt es sich dabei um eine "ganz andere Art des Friedensstiftens, die versucht, die bestimmende tragische Unordnung zu lösen, anstatt sie zu überdecken. Eine solche Lösung würde bedeuten, dass wir uns selbst grundlegend ändern müssten".
Nicolai N. Petro ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität von Rhode Island (USA). Er war US-Fulbright-Stipendiat in der Ukraine 2013-2014 und ist Autor des in Kürze erscheinenden Buches The Tragedy of Ukraine: What Classical Greek Tragedy Can Teach Us About Conflict. Resolution.
Quelle: https://nationalinterest.org/feature/true-solution-tragedy-ukraine-201302
Die Übersetzung für seniora.org wurde besorgt von Andreas Myläus
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