Hauptakteure waren natürlich die Erstunterzeichner des Memorandums. Es fanden aber auch intensive Gespräche mit weiteren Personen statt, die unser Memorandum unterstützten. Der Austausch fand über Mail statt.
Keine Frage, es ist etwas gegangen. Die Lehrplanverantwortlichen haben in einigen Punkten der öffentlichen Kritik Rechnung getragen. Das spricht für ihre Lernfähigkeit, zeigt aber auch, dass unsere Kritik berechtigt war.
Im Gegensatz zu unseren Lehrerverbänden haben sich die UnterzeichnerInnen des Memorandums 550 gegen 550 nicht voreilig auf eine zustimmende Linie behaften lassen. Die rund 1000 Praktiker haben den Lehrplan auch nicht pauschal abgelehnt, sondern den Entwurf auf seine Praxistauglichkeit, seine Zielsetzungen und seinen Inhalt hin untersucht.
Der Erziehungsdirektor des Kantons Bern, Bernhard Pulver, sagte anlässlich der Präsentation der 3. Version: «Die Kompetenzorientierung ist unbestritten.» («Tagesanzeiger» 7.November 2014).
Die Initianten des Memorandums 550 gegen 550 müssen diese Einschätzung natürlich korrigieren. Das «Zuviel» war nie unsere Hauptkritik, auch die heutigen Lehrpläne sind teilweise massiv überladen. Der Umfang war vor allem von den Lehrplanverantwortlichen herausgepickt worden, und die stolz präsentierte 20%ige Kürzung müssen wir als Teil der Durchsetzungsstrategie bezeichnen. Für die 1000 Praktiker, welche ihre Kritik im Memorandum zum Ausdruck brachten, gab vor allem der diffuse Kompetenzbegriff, der auf einer wissenschaftlich fragilen Basis formuliert ist, Anlass zu Widerspruch.
Regierungsrat Pulver ist bemüht, den Ball flach zu halten. Von einer Jahrhundertreform will er nichts wissen. Er sieht den Lehrplan als Kompass, als Orientierungshilfe. Damit hat er – im Gegensatz zu seiner Kollegin, der Zürcher Erziehungsdirektorin Regine Aeppli, die von einem «Jahrhundertwerk» sprach, welches die Schule nachhaltig verändern werde – eine andere Kommunikationsstrategie gewählt.
Seine Auffassung der Kompetenzorientierung, die er auch in der Sonntagszeitung formuliert hat, ist in der Tat banal und wird, sollte sie so umgesetzt werden, tatsächlich keine Veränderungen der Schullandschaft bewirken.
Die 1000 Praktiker, welche das Memorandum 550 gegen 550 unterschrieben haben, werden gegen diese Interpretation des Kompetenzbegriffs, der sich im wesentlichen auf die Begriffe Fertigkeiten und Fähigkeiten zurückführen lässt, nicht viel einzuwenden haben.
Vielleicht hat dieser durchaus integre Bildungspolitiker die Rechnung ohne den Wirt gemacht.
Namhafte Professoren wie Walter Herzog, Roland Reichenbach, Mathias Binswanger und auch viele unserer Memorandums-Unterzeichner sehen aber die Hintergründe und die theoretische Basis dieser Kompetenzorientierung nämlich ganz anders!
Der Kompetenzbegriff im LP 21 bezieht ausdrücklich auf den deutschen Pädagogen Franz E. Weinert und ist Teil einer Bildungstheorie oder -ideologie, die man als Konstruktivismus bezeichnet. Sie bildet die Grundlage der heutigen Lehrerausbildung. Der Konstruktivismus geht davon aus, dass es keine verbindliche Wahrheit gibt, sondern von jedem einzelnen konstruiert wird. Das gilt auch fürs Lernen bzw. die Bildung; entsprechend muss jedes Kind eigenverantwortlich seine Lerninhalte, -ziele, -tempo und -inhalte festlegen. So die Theorie, die individualisiertes (=personalisiertes) Lernen als Methode der Wahl einschliesst und der Lehrperson die Rolle eines Coachs zuschreibt, der die individuellen Lernumgebungen der SchülerInnen aufbereiten muss.
Der Zürcher Pädagogik-Professor, Urs Moser, wird im Auftrag der EDK die Teste entwickeln, mit denen der «Output» unserer Schulen künftig kontrolliert wird. Urs Moser kämpft für die Detailliertheit der im Lehrplan ausgeführten und formulierten Kompetenzen. Sie bilden die Grundlage für die Kompetenzraster, die Kompetenzstufenmodelle und schliesslich der Bildungsstandards, die Professor Moser überprüfen möchte.
Sowohl Herr Amsler wie auch Herr Pulver betonen, dass es nicht zu flächendeckenden Testen kommen wird. Daran zweifeln nicht nur wir.
Der Leiter für Pädagogische Fragen des LCH, Brühlmann, meinte in einem Gespräch mit den VertreterInnen des Memorandums im Frühjahr 2014 resigniert: «Die Kompetenzorientierung nach OECD-Vorgaben wird kommen, und auch die Teste werden kommen – keine Frage – ganz Europa arbeitet schon danach. Und wenn die Teste da sind, will die Öffentlichkeit auch wissen, wie sie ausgefallen sind. Pisa lässt grüssen.»
Die Kompetenzstufenmodelle sind alles andere als gottgegeben und ihre Erstellung ist in der Wissenschaft mehr als umstritten. Es sind technokratische Konstrukte, die in erster Linie messtechnischen Vorgaben folgen, keinesfalls aber die Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten berücksichtigen, die nicht vorhersehbar sind. Man kann noch nicht einmal sagen, was sie überhaupt genau messen – Lesekompetenz, Alltagswissenskompetenz oder einfach die Kompetenz, derartige Aufgabenformate lösen zu können. Die eindimensionalen «Kompetenzhäppchen-Aufgaben» jedenfalls sind trivial und lassen jeden Bildungsanspruch vermissen.
Viele der Aufgaben sind nach dem Pisa-Prinzip aufgebaut: Die Texte und Grafiken der Aufgaben enthalten weitgehend schon die Antworten. Um die höchste Kompetenzstufe zu erreichen, genügt teilweise also Lesekompetenz, manchmal auch das Ankreuzen des richtigen Kästchens bei Multiple-Choice-Aufgaben. Hat der Schüler das Kreuz an der richtigen Stelle gemacht, gehen die Tester davon aus, dass der Schüler entsprechend ihren eigenen Gedankengängen beim Erstellen der Aufgabe das zugrundeliegende Wissen verstanden, analysiert und bewertet hat. In Wahrheit hat der Schüler aber nur ein Kästchen angekreuzt, manchmal bei nur einer vorgegebenen, teilweise nicht mal halbwegs angemessenen Alternative. Oft sind Aufgaben nur deshalb einer hohen Kompetenzstufe zugeordnet, weil die Aufgabentexte kompliziert, teilweise verwirrend formuliert sind. Die Kompetenzstufen entsprechen in diesen Fällen keinesfalls dem inhaltlichen Schwierigkeitsgrad.
Man muss sich fragen, wie diese Vermessungstechnokratie beispielsweise in den Sprachen funktionieren soll. Analysen und Interpretationen von Texten stellen gerade dann hervorragende Leistungen dar, wenn nicht vorhersehbare, kreative und innovative Lösungen gefunden werden, die eben nicht mit psychometrischen Verfahren messbar sind. Aber auch in den Naturwissenschaften kann die Wirkung langfristig verheerend sein: Wenn Querdenken nicht mehr gefördert wird, nur weil es vom Messinstrumentarium der Empiriker nicht erfasst werden kann, wird es keine Innovationen mehr geben. Schlimmer noch: Die Fähigkeit zur praktischen Durchführung von grundlegenden naturwissenschaftlichen Untersuchungen, wie beispielsweise das Mikroskopieren von Zellen, kann mit solchen Tests überhaupt nicht erfasst werden.
Trotz der Bekenntnisse zur Methodenfreiheit, trotz der immer wieder betonten Absicht, keine flächendeckenden Teste durchzuführen, besteht eine Gefahr des Faktischen.
Die Lehrkräfte, welche das Memorandum unterschrieben haben, möchten nicht zu Lerncoachs oder Lernbegleitern und damit zu Handlangern der empirischen Bildungsforschung degradiert werden. Das passiert, wenn sie beispielsweise nur noch Arbeitsblätter aus den ihnen übermittelten Kompetenzstufen-Aufgabenpools ihren SchülerInnen austeilen und sie wieder einsammeln, um sie dann mit Aufgaben vom nächsten «Kompetenzstapel» zu beglücken und anschliessend das ganze Paket zur Auswertung an die Empiriker weiterzuleiten. Wem würde dies dienen? Sicherlich nicht dem Lernen und Verstehen von Inhalten! Von Bildung und Wissen ganz zu schweigen.
Wenn die Jahresziele nicht mehr verbindlich sind, dann werden die begabten mathematischen Schülerinnen zum Beispiel bereits Ende 6. Klasse die Dreieckskonstruktionen der nächsten Kompetenzstufe (7. Klasse) erreichen. Die Unterschiede innerhalb der Klasse werden so bewusst ausgedehnt. Damit ist nur noch ein stark individualisierter Unterricht möglich, in welchem die SchülerInnen jeweils an ihrem aktuellen Kompetenzthema arbeiten. Und so ein Unterricht ist quasi nur über Arbeitsblätter steuerbar. So jedenfalls läuft dies in den USA und Grossbritannien, denen man das Ganze abzugucken scheint.
Wissen die Verantwortlichen genau, wovon sie reden?
Können wir den beschwichtigenden Aussagen der Bildungsexperten vertrauen? Auffallend sind die höchst widersprüchlichen Aussagen der «Experten», also der Protagonisten des Lehrplans. Sie zeigen, dass auch unter ihnen höchst unterschiedliche Auffassungen bestehen.
Ein Musterexemplar solch verbaler Verrenkungskünstler ist der oberste Lehrervertreter Beat Zemp: Am 26. Juni 2013 meinte er: «Der neue Lehrplan ist ein Meilenstein und bringt der Schule entscheidende Fortschritte.» Am 22. November 2013 mahnte er: «Der Lehrplan 21 ist überladen und muss abgespeckt werden.»
Einen Monat später (23. Dezember 2013) forderte er: «Die nachhaltige Entwicklung muss im Lehrplan 21 berücksichtigt werden.»
Und am besagten 7. November 2014 verkündet er wieder: «Ein Meilenstein, Note 51/2.»
Wunderbar auch die rhetorischen Wendemanöver der Regierungsräte. Am 30. Mai 2011 verkündete die EDK: «Bund und Kantone verständigen sich auf wenige konkrete und überprüfbare Ziele für das laufende Jahrzehnt.» Am 26. Juni jubilierte Regierungsrätin Aeppli: «Das ist ein Jahrhundertwerk, welche unsere Schule grundlegend verändern wird.»
Am 18. August meinte ihr Kollege und designierter EDK-Präsident Eymann: «Für die Lehrkräfte wird sich gar nichts ändern.» Gleichzeitig mahnt ein internes Papier der PH Zürich: «Der Unterricht für die Einführung der Kompetenzorientierung ist von grosser Bedeutung. Die Lehrer sind der Schlüssel für die erfolgreiche Umsetzung des ambitionierten Vorhabens.» Trotzdem meinte Regierungsrat Amsler am 7. November im «10vor10»: «Nein, dieser Lehrplan ist keine Schulreform.»
Angesichts dieser höchst widersprüchlichen Aussagen müssen sich die Lehrplanverantwortlichen, die sich ja selber gerne als Experten sehen, unangenehme Fragen stellen lassen.
Wissen Sie genau, wovon sie reden, oder ist auch diese Kommunikation ein Teil ihrer Durchsetzungsstrategie?
Jan Jirat schrieb am 9. Februar 2013 in der WOZ dazu: «Der Lehrplan wurde in einem hermetisch abgeschirmten Entwicklungslabor mit gut hundert Eingeweihten hergestellt und soll nun als Produkt in die Welt der Kantonshoheiten zur Nutzung ‹freigegeben› und ‹entlassen› werden. Man hätte den Prozess auch als laufende und offene Diskussion gestalten können.»
Diese Geheimhaltung hatte natürlich ihren Grund. Denn so wie der LP21 präsentiert wurde, handelt es sich um einen umfassenden Steuerungsversuch der Schule, ähnlich wie wir es bei der Einführung der Bologna-Reform erlebt haben. Und im Zentrum dieses Prozesses steht nun einmal die Kompetenzorientierung. Wir bestehen deshalb darauf, dass diese Art von Kompetenzorientierung einen breiten Dialog mit den Betroffenen nötig macht. Deshalb unterstützen wir Vorstösse in den Parlamenten und Kantonen, diesen Dialog mitunter durch politische Initiativen zu erzwingen.
In den USA hat die linke Pädagogin und einst leidenschaftliche Befürworterin der Bildungsstandards, in ihrem Buch «Reign of Error» (Vintage Books 2013) bekannt: «Ich habe mich geirrt.» Und just in dem Land, wo das Modell der Kompetenzorientierung entstanden ist, beginnt man langsam aber sicher, sich von der Idee der Bildungsstandards und der Kompetenzorientierung zu verabschieden. In Australien haben Dr. Kevin Donelly, Australia Catholic University, und Prof. Ken Wiltshire, Queensland University, in einer Studie auf 300 Seiten Vorschläge zu einer Verbesserung und Neuorientierung des vor allem von Eltern und Lehrern kritisierten Lehrplans vorgeschlagen, der auf Kompetenzorientierung aufgebaut ist. Kernaussage auch hier: «Anstatt Kompetenzen soll wieder Bildung im Vordergrund stehen.»
In vielen europäischen Staaten aber ist die Vermessung der Bildungslandschaft in vollem Gang. Sie kostet Unsummen und trägt keineswegs zu einem pädagogischen Mehrwert bei, wie die Eckdaten der Bildungsforschung zeigen (Pisa, Lehrlingsweltmeisterschaften, Nobelpreise pro Kopf der Bevölkerung, Jugendarbeitslosigkeit)
Und mit grosser Sorge bemerken wir bei den von der Bildungsbürokratie vorangetriebenen Reformprojekten, dass auf Widerstand und Einwände mit Zugeständnissen, Beschwichtigungen und einer saloppen «Anything-goes-Haltung» reagiert wird. Damit droht aber unser System vollends von zum Teil massiven Widersprüchen gelähmt zu werden.
Individualisierung und Standards, Autonomie und vereinheitlichte Lehrpläne, Vereinheitlichung und Rücksicht auf die multikulturelle Vielfalt unseres Landes, Bologna-Masters und ein duales Berufsbildungssystem, Bedürfnisse des Kindes und Marktorientierung, intakte Lehrer-Schüler-Beziehung und Lehrer als Lerncoaches, Integration und Selektion sind nun einmal zusammen nicht zu haben. Wir sind dabei, ein hybrides Modell aufzubauen, die totale Überforderung der Lehrkräfte, ihrer Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern ist vorprogrammiert.
Mit unserem Memorandum sahen wir uns auf Grund unserer pädagogischen Erfahrungen verpflichtet, die Öffentlichkeit auf die schwerwiegenden Konsequenzen bei der Umsetzung des neuen Lehrplans hinzuweisen.
Wir erinnern noch einmal daran, dass unser bestehendes Bildungssystem
Damit hat das Memorandum 550 gegen 550 seine Arbeit abgeschlossen. Wir bezeichneten uns immer als eine überparteiliche Basisbewegung von Lehrkräften, die sich als eine Stimme der Praxis in der laufenden Diskussion um den Lehrplan verstand. Wir waren und sind keine politische Bewegung. Wir möchten allen Lehrpersonen, den vielen ProfessorInnen und BildungswissenschaftlerInnen und auch den anonymen ZuträgerInnen der PHs, die uns in dieser Zeit unterstützt haben, herzlich danken.
Für das Memorandum «550gegen550»
Alain Pichard, Hans-Peter Amstutz, Elfy Roca, Daniel Goepfert, Ruth Wiederkehr, Eliane Gautschi
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