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Auszug aus «Gestalten um Alfred Adler - Pioniere der Individualpsychologie»

Warum uns die Arbeit dieser Pioniere etwas angeht, zeigt der folgende Beitrag.
30. Mai 2023

Buch Titel Gestalten um A.Adler

 

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, mit der Individualpsychologie ist es Alfred Adler vor 100 Jahren gelungen, einen wesentlichen Grundstein zur jungen Wissenschaft der Psyche des Menschen zu legen. Viele Forscher haben inzwischen mit diesen Erkenntnissen weitergearbeitet, so auch unser Lehrer Friedrich Liebling, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Zürich die «Psychologische Lehr- und Beratungsstelle» aufgebaut hat. Liebling sah vor allem die pädagogisch-psychologische Aufklärung der Eltern und Lehrer als vordringlich, was er im Geleitwort zu «Grosse Pädagogen» prägnant zum Ausdruck gebracht hat.

Der bekannte Schüler Lieblings, Dr. Josef Rattner, hat im vorliegenden Buch einen informativen Beitrag zur grossen psychologischen Aufklärungsarbeit von Friedrich Liebling verfasst, den wir Ihnen hier gerne zur Kenntnis bringen.

Wir sind überzeugt, dass mit den psychologischen Erkenntnissen Alfred Adlers und Friedrich Lieblings - und aller anderen Pioniere - ein wissenschaftlicher Schatz zur Verfügung steht, der von der Menschheit nur noch nicht wirklich stringent erkannt worden ist. Sowohl mit seniora.org, wie auch mit unserer Beratungsstelle für Lebensfragen und unserer seit einiger Zeit im Entstehen begriffenen kulturgeschichtlichen Aufklärungs-Seite copernicus.seniora.org bemühen wir uns, diesen Schatz zum Wohle aller zu heben. Sie, liebe Freunde, sind gerne zum Mitdenken und zur Mitarbeit an unseren Aufklärungsbemühungen eingeladen. Herzlich, Margot und Willy Wahl

Friedrich Liebling und die Grossgruppentherapie

Josef Rattner

Friedrich Liebling ist einer der Schöpfer der individualpsychologischen Grossgruppentherapie, oder genauer gesagt: Mit ihm zusammen habe ich im Zeitraum von 1952 bis 1967 diese neue Form der Therapie aus der Wiege gehoben. Er war nicht nur ein grosser Seelenarzt, sondern auch ein sehr beeindruckender und geistvoller Mensch. Dieser Mann war für mich Vorbild und Wegweiser, Muster und Ideal.

Es scheint heute nicht mehr modern zu sein, Vorbilder zu haben. Die jungen Leute lehnen das ab und meinen, sie könnten schon sehr früh aus eigener Hand leben. Das ist wohl ein Irrtum. Vorbilder sind unentbehrlich, um den Weg zu sich selbst zu finden. Der Philosoph Ludwig Marcuse sagt in seinem Buch «Argumente & Rezepte» (Zürich 1973, S. 54) unter dem Stichwort «Heldenverehrung» mit Recht:

«Ich glaube an die Macht des Vorbildes, des ganz individuellen und sehr sterblichen Ideals; an den beispielgebenden Einzelnen, den man in früheren Zeiten einen Helden nannte. Ich glaube, dass man in unseren Zeiten sich der Pflicht, musterhaft zu sein, entzieht mit der Ausrede, es gilt den Führern zu entgehen und die Institutionen zu verbessern. Man soll das nur tun; doch werden sie niemand zur Selbständigkeit erziehen: Zum Mut zu denken, was man denkt, zu fühlen, was man fühlt, zu wollen, was man will. Der beste Weg zum Selbst ist die Faszination durch ein anderes Selbst   – die lebende Illustration, wie einer sich traut, er selbst zu sein.»

Auf den folgenden Seiten zeichne ich ein Porträt von Friedrich Liebling, da ihn wohl kaum jemand so gut und so genau kannte wie ich. Dies ist ein Nachruf und ein Dokument der Dankbarkeit, ein Teil des nahezu unendlichen Dialogs, den ich mit ihm geführt habe.

Biographisches

Friedrich Liebling wurde am 25. Oktober 1893 im galizischen Dorf Augustowka (Ukraine) geboren. Sein Vater war Gutsverwalter irgendwo an der Peripherie des altösterreichischen Kaiserreiches. Friedrich war das Älteste von fünf Geschwistern. 1912 legte er die Reifeprüfung ab und ging als junger Mann nach Wien, um dort Medizin zu studieren.

Dann kam aber der Erste Weltkrieg; von der Woge der patriotischen Begeisterung mitgerissen, meldete sich Friedrich als Freiwilliger zum Kriegsdienst, den er vier Jahre lang absolvierte. Er stand vor allem im Einsatz an der russisch-polnischen Front. Die Kriegszeit beeinflusste zutiefst sein Denken und seine Weltanschauung. Er ging aus dem grossen Massenmorden als entschiedener Pazifist hervor und gelobte sich, sein ganzes Dasein der Kriegsverhütung und Friedenssicherung zu widmen.

Nach 1919 traf der junge Mann, der sich in Kreisen der Sozialisten und Humanisten Wiens bewegte, auf Alfred Adler, der für ihn zum Leitstern seiner inneren und äusseren Entwicklung wurde. Friedrich Liebling verehrte Adler als Forscher und Lehrer der Lebenskunst; immer wieder kam er im Gespräch auf seine Begegnungen mit diesem Pionier der Tiefenpsychologie zurück, der seinem Leben Ziel und Richtung gewiesen hat.

Friedrich Liebling widmete sich vor allem der Jugendarbeit. Die Betreuung von jungen Menschen nahm einen Grossteil seiner Zeit in Anspruch; er war aber als Psychologe auch zum Teil Berater grosser Firmen, die er in der Personalführung beriet.

Als 1934 in Österreich der sogenannte Austrofaschismus die Macht an sich riss (es war dies eine Spielart des Faschismus , aber mit deutlich katholischer Ausrichtung), kam eine harte Zeit für Friedrich Liebling und seine Familie. Nur durch Zufall entging er den scharfen Repressalien, mit denen die Dollfuss-Regierung alle freiheitlichen Menschen verfolgte. Auch Alfred Adler spürte diese Einschränkungen seiner Tätigkeit; ab 1930 verlagerte er den Schwerpunkt seiner Tätigkeit in die USA.

Noch schlimmer wurde es für Friedrich Liebling, als Hitler seinen Eroberungs- und Annexionszug begann und seine alte Heimat Österreich kassierte. Das war im März 1938; damals marschierten die deutschen Truppen ins Donauland ein, frenetisch bejubelt von den reaktionären Volksmassen, die sich vom Grossdeutschen Reich eine goldene Zukunft versprachen. Es sollte allerdings anders kommen.

Friedrich Liebling verliess Österreich bald nach dem deutschen Einmarsch und fand in der Schweiz Zuflucht. Als Homo politicus sah er voraus, dass der Nationalsozialismus nach und nach jede Form von Humanität abstreifen und sein barbarisch-kriminelles Antlitz zeigen würde. Sozialisten und Humanisten endeten bekanntlich in Hitlers Konzentrationslagern, wo sie einer primitiven Söldner­ und Mörderschar ausgeliefert wurden.

Die Jahre im schweizerischen Exil nützte Friedrich Liebling zu weit ausholenden Studien in allen Bereichen der Humanwissenschaften. Er war ein grosser und vielseitiger Leser. Tag für Tag setzte er sich in die Stadtbibliothek in Schaffhausen (dem Städtchen, in dem er sich niedergelassen hatte) und studierte die Klassiker der Psychologie, der Philosophie, der Soziologie und der Politik. Die Behörden der Schweiz erlaubten den Flüchtlingen keine Berufsausübung. Das war hart für einen stets tätigen und energischen Menschen wie Friedrich Liebling; aber er schickte sich in diese Bedingungen, die er nicht ändern konnte.

Schon in seiner Schaffhauser Zeit lernte ich Friedrich Liebling kennen und profitierte von seinem reichen Wissen und Können. Später absolvierte ich bei ihm eine Charakter- und Lehranalyse. Diese war ungemein tiefgründig, sodass ich noch heute von den Erfahrungen und Erkenntnissen dieser Zusammenarbeit zehre.

1952 war ich frisch gebackener Doktor der Philosophie und Psychologie. Mit Friedrich Liebling zusammen eröffnete ich in Zürich etwas später die «Psychologische Lehr- und Beratungsstelle», in der wir fast fünfzehn Jahre zusammenarbeiteten. Wir standen auf dem Boden der Individualpsychologie Alfred Adlers, die wir umsichtig weiterentwickelten. Vor allem begründeten wir damals die sogenannte Grossgruppentherapie, die ein Novum in der Psychotherapie darstellte.

Wie wir porträtieren wollen

Ein Porträt liefert bekanntlich nicht nur ein Bild der gemalten oder geschilderten Person, sondern auch des Malers oder Schreibers, der porträtiert hat. Wir sind uns deshalb bewusst, dass wir im Folgenden nicht nur Friedrich Liebling, sondern auch uns selbst   – zumindest teilweise   – darstellen.

Wir setzen unseren Ausgangspunkt bei einer ganz fragmentarischen Charakterisierung der Idee der Grossgruppentherapie, die zu den eigenständigsten Leistungen von Friedrich Liebling gehört. Nur mit wenigen Worten deuten wir an, was er mit dieser Therapieform wollte, aber auch, welche Gefahren in diesem Modell stecken. Das Thema ist natürlich viel komplizierter, als man in wenigen Druckseiten sagen kann. Aber es ist hier nicht der Ort, darüber zu reflektieren; meine Meinung über die Grossgruppentherapie und ihre Probleme habe ich ausführlich erörtert in meinem Buch «Gruppentherapie   – die Psychotherapie der Zukunft» (Bergisch Gladbach 1972). .

Ich werde in der Folge fast impressionistisch vorgehen, indem ich Eigenschaften und Merkmale von Friedrich Liebling nebeneinanderstelle, ohne auf einen stringenten Zusammenhang zu achten. Ich lasse mich sozusagen von meinen Erinnerungen führen und leiten; was mir dabei in den Sinn kommt, erläutere ich und ergänze diese Erläuterungen durch meine Kommentare.

Es liegt mir am Herzen, die geistige Gestalt von Friedrich Liebling sichtbar zu machen. Dieser Mentor meiner Jugend und Reifezeit war äusserlich ein schlichter, vielleicht sogar unscheinbarer Mann; wer ihn aber genauer kennenlernte, war immer bewegt vom menschlichen Format, das er repräsentierte. Ich las einmal bei Max Stirner, dem Philosophen des Individualismus (den Friedrich Liebling genauso schätzte wie ich selbst), die Worte: «An grossen wie an befreundeten Menschen interessiert uns alles, selbst das Unbedeutendste, und wer uns von ihnen Kunde bringt, erfreut uns sicherlich.»

Nun: Gerade das will ich mit diesem Aufsatz leisten. Wer Friedrich Liebling gekannt, geschätzt oder geliebt hat, wird mir Dank dafür wissen, dass ich die Persönlichkeit des Verstorbenen zu evozieren versuche.

Grossgruppentherapie

Auf den Anregungen von S. R. Slavson, J. Moreno und vielen anderen aufbauend, haben Friedrich Liebling und ich als vermutlich Erste im deutschsprachigen Raum 1955 die Grossgruppentherapie eingeführt. Es gab etwa gleichzeitig solche Versuche in der angelsächsischen Welt; aber sie waren nur von kurzer Dauer und haben sich nicht bewährt. Unser Versuch in Zürich jedoch konnte sich gut halten und hat sich hervorragend entwickelt.

Die Idee der Grossgruppentherapie ist eigentlich den Vätern der Tiefenpsychologie zu verdanken. Meiner Meinung nach haben Freud, Adler und Jung bereits Grossgruppen geschaffen. Denn die erste Schülergeneration von Freud war selbst in keiner Weise analysiert; gleichwohl wurde sie mit Therapieaufgaben betraut. Wer Probleme irgendwelcher Art hatte, machte einen Spaziergang mit Meister Freud; das genügte angeblich. Charakter- und Lehranalysen für Psychoanalytiker kamen erst um 1910 (durch Anregung von C. G. Jung) auf.

In dieser Situation schuf Freud 1902 die Mittwoch-Gesellschaft und später die Psychoanalytiker-Vereinigung. Diese war unseres Erachtens eine Grossgruppe. Die Analytiker kamen oft zusammen, diskutierten ihre Fälle, trugen theoretische Arbeiten vor und bildeten eine Forschergemeinschaft: Diese hatte offensichtlich therapeutische Qualitäten. Und wer damals Analytiker war, hatte wahrlich eine solche Unterstützung bitter nötig; man befand sich in einer feindseligen Umwelt, setzte sich mit seelisch Kranken auseinander und wurde dabei unweigerlich mit den eigenen Schwächen und Gebrechen konfrontiert.

Auch Adler und Jung schufen ihre Therapeuten- und Anhängergruppen. Bei Adler kam etwas Neues hinzu: In seinem unerschütterlichen Demokratismus hob er die Schranke zwischen Therapeuten und Analysanden auf, indem er die These vertrat, seine Individualpsychologie sei eine Lebensanschauung für jeden vernünftigen und gut gesinnten Menschen. Im Adler-Kreis verkehrten bald Fachleute und Patienten bunt gemischt miteinander. Man diskutierte oft so, dass jeder denkende Teilnehmer davon profitieren konnte.

Mit diesen Vorbildern vor Augen wurde von uns in Zürich Grossgruppentherapie betrieben. Wir hatten zahlreiche Patienten, die von uns einzeltherapeutisch behandelt wurden. Unser geistiges Fundament war die Individualpsychologie Alfred Adlers. Diese hat einen lehrhaften Aspekt; sie will den Patienten nicht nur um sich selbst kreisen lassen, sondern regelrecht in Menschenkenntnis und Weltkenntnis schulen.

Alfred Adler war immer der Meinung, nur die Entfaltung von Sozialinteresse oder Gemeinschaftsgefühl könne dazu verhelfen, eine Neurose oder eine andere Art von Seelenpathologie zu überwachsen. Also sollte der Analysand auch geeignetes Wissen erwerben; am besten eben das psychohygienische Erkenntnismaterial, das in der Tiefenpsychologie vorliegt. Das war nicht nur Alfred Adlers Marotte; auch Siegmund Freud empfahl, der Analytiker solle «Erzieher, Lehrer, Vorbild, Aufklärer und Künder einer freien Weltanschauung» sein: Eine Empfehlung, die sicher heute von vielen orthodoxen Psychoanalytikern vergessen wird!

Wie sollten wir nun unsere Patienten schulen? Friedrich Liebling und ich führten Kurse ein, die auf möglichst breiter Basis tiefenpsychologische Lehren erörterten. Oft war ich selbst dabei der Referent; nicht selten aber trugen Patienten Probleme vor, die in der Gemeinschaft bearbeitet wurden. Diese Schulungsabende erfreuten sich einer ausserordentlichen Beliebtheit. Es kamen immer mehr Interessenten dazu, was dazu führte, dass immer grössere Räumlichkeiten gesucht werden mussten.

Wir hatten die Genugtuung zu sehen, dass auf Grund unserer behutsamen Führungskunst in allen diesen Zusammenkünften die gefürchteten Massenreaktionen ausblieben. Teilnehmer lernten bald, einander ausreden zu lassen, ohne dazwischenzureden; Aggressionen kamen selten vor; man hörte einander an, trug Gegensätze klug und vernünftig aus und lernte gemeinsam die hohe Kunst des Einander-Verstehens.

Ich selber habe in leitender Funktion der «Zürcher Grossgruppe» bis 1967 angehört. Ich kann daher nur bis zu diesem Zeitpunkt beurteilen, wie das ganze Therapie- und Schulungsgeschehen verlief. Was nachher kam, habe ich nicht mehr verfolgt, da ich nach Berlin ging, um meine eigene Praxis und mein «Institut für Tiefenpsychologie, Gruppendynamik und Gruppentherapie» aufzubauen.

Nutzen und Nachteil der Grossgruppentherapie

Ich arbeite seit etwa 35 Jahren ziemlich erfolgreich mit Grossgruppen, sodass ich wahrscheinlich abschätzen kann, welche Chancen und Gefahren diese neuartige Therapiemethode bietet. Ich bin heute noch der Auffassung, dass sie eine sehr wertvolle Innovation darstellt. Aber ich weiss auch, dass grosse Gruppen sehr stark von der Qualifikation ihres Leiters abhängen und dass sie in die Nähe von Massenorganisationen geraten können.

Man hat der Grossgruppentherapie vorgeworfen, dass sie die Patienten nicht loslässt, sondern sie über viele Jahre hinweg festhält: Man bleibt in ihr, wenn einen nicht Konflikte mit dem Leiter oder mit anderen Gruppenmitgliedern ins Exil treiben. Erinnert man sich an das, was ich weiter oben über die Grossgruppen von Freud, Adler und Jung sagte, dann wird man diesen Einwand doch einigermassen entkräften können. Wer eine in unserem Sinne geführte Grossgruppe als sein geeignetes Therapie- und Lernmilieu empfindet und anerkennt, wird nach Behebung seiner Lebensschwierigkeiten kaum den Impuls verspüren, die Gruppe zu verlassen. Er reiht sich sehr oft in die Gruppe als Helfer ein; nun, da ihm geholfen wurde, will er zur Gesundung anderer beitragen. Auch entstehen unter Gruppenmitgliedern Freundschaften, Arbeitsgemeinschaften und Kollegialität: Warum sollte man da abwandern, wo es in unserer Gesellschaft im allgemeinen furchtbar schwer ist, idealistisch gleichgesinnte Freunde und Gesinnungsgenossen zu finden!

Man weiss es aus dem Altertum: Wenn lernwillige Menschen einen guten Lehrer fanden, bildeten sie mit ihm zusammen eine Akademie; die Philosophenschulen des Altertums von Platon über Aristoteles bis zu den Stoikern, Skeptikern, Zynikern und Epikuräern geniessen heute noch einen legendären Ruf. Warum sollten sich solche Lehr- und Lerngemeinschaften nicht auch heute bilden können? Gewiss sind die Meister von heute oft nur Karikaturen jener Geistesriesen, die wir beim Studium der Antike bewundern. Aber eine gut geführte Grossgruppe kann durchaus eine geistige Heimat sein, ohne das Mitglied von der übrigen Umwelt abzuschirmen. Sie darf nur nicht dogmatisch, selbstgefällig und demagogisch sein.

Man hat es oft beklagt, dass der Mensch in der heutigen Gesellschaft weitgehend vereinsamt ist. David Riesman sprach sogar von der «einsamen Menge»; man lebt zwar in Massen, aber niemand kümmert sich wirklich um den Nachbarn, ja oft sogar nicht einmal um die Mitglieder der eigenen Familie. Nun gilt Einsamkeit in den tiefenpsychologischen Lehren als einer der schlimmsten Krankheitsfaktoren; wer allein ist, kann meistens das seelische Gleichgewicht nicht aufrechterhalten. Er wird nicht selten Opfer von Ängsten, Depressionen, Süchten aller Art und Suizidalität, von Neurosen und eventuell auch Psychosen.

Die Idee der Grossgruppentherapie will dieser allgemeinen Vereinsamung den Kampf ansagen; ob das in der Praxis immer gut gelingt, sei vorerst dahingestellt. Denn es gibt sicher auch ein Einsamsein mit vielen, wenn das Individuum dabei verlorengeht und sich selbst nicht mehr findet. Gemeinschaft hat nur Sinn zwischen in sich selbst ruhenden Individualitäten; unprofilierte Charaktere bringen es nur zu einem primitiven Nebeneinander, das gegebenenfalls durch eine als feindlich empfundene Umwelt oder eine als Projektionsschirm für Ängste und Aggressionen gedachte Umgebung zusammengehalten wird.

Wächst eine solche Psychohygiene-Bewegung ins übermässig Grosse hinein, kann sie von Massenreaktionen affiziert werden. Massen-Meetings können nur unter sehr erschwerten Bedingungen Niveau aufrechterhalten. Man muss die «Botschaft» vereinfachen, wenn man bei sehr vielen Menschen damit ankommen will. Oft sind ja auch Patienten, welche die Psychotherapie aufsuchen, Bildungsgeschädigte, das heisst, sie haben wenig Kultur und Wissen assimilieren können, da sie von Kindheit an in Beziehungskonflikte verstrickt waren.

Mit solch lädierten Kulturmenschen en masse zusammenzuarbeiten, kann für den Therapeuten und sein Team äusserst beschwerlich werden. Wie soll er der Therapieforderung genügen, jeden Einzelnen zu kennen, zu verstehen und zu fördern? Es kann zu Globalbehandlungen kommen, die Scheintherapie und Scheinerfolge bedeuten. Ist der Leiter eine wahrhaft grosse Persönlichkeit, dann bleiben solche Gefahrenquellen kontrollierbar; auch eine Grossgruppe kann Ordnung und innere Struktur bewahren.

Wir wollen in der Folge Friedrich Lieblings Charakter und Lebensanschauungen beschreiben, die ihm den Aufbau einer grossen, hilfreichen und effizienten Therapiegemeinschaft ermöglichten.

Psychogramm eines Helfers

Wir haben hier nicht die Absicht, eine Hagiographie (Heiligenlegende) zu schreiben; aber unser Thema nötigt uns, die Vorzüge und Tugenden der von uns zu würdigenden Persönlichkeit ins Licht zu rücken. Es versteht sich von selbst, dass Friedrich Liebling kein Übermensch war und auch keiner sein wollte. Aber er besass Eigenschaften, die ihn über den Durchschnitt der meisten Menschen erhoben und die sein Leben und Wirken als Psychotherapeut ermöglichten.

Eines der wichtigsten Merkmale von Friedrich Liebling war seine Hilfsbereitschaft. Er sah den Sinn seines Lebens darin, anderen Menschen zu helfen, sie aufzuklären und ihnen das Dasein zu erleichtern. Woher er diese Grundorientierung hatte, ist nicht leicht zu erklären. Manches davon ist aber psychologisch einsehbar: Friedrich Liebling war offenbar das Lieblingskind seiner Mutter. Er war von früh auf von Liebe und Güte umgeben; diese gab er später an andere weiter.

Dazu kam, dass er das Älteste von fünf Kindern war. So lernte er bereits als Kind, andere zu betreuen, zu fördern und zu erziehen. Die in den USA noch lebende Schwester von Friedrich Liebling erzählte mir, dass ihr Bruder schon in jungen Jahren eine nahezu unendliche Geduld mit anderen Kindern hatte; er spielte stundenlang mit ihnen, immer gute Laune verbreitend und kooperativ.

Aber auch die Weltanschauung, die Friedrich Liebling wählte oder sich erarbeitete, begünstigte seine fürsorgliche Haltung zum Du. Er war Sozialist von ganzem Herzen; daraus leitete er die Forderung ab, in jeder Hinsicht Mitmensch zu sein, also niemandem zu schaden und allen zu helfen, wo immer das möglich war. Die Individualpsychologie bildete Schlussstein und Krönung dieser Lebensphilosophie; Adler schärfte seinen Schülern ein, dass nur Sozialinteresse und Gemeinschaftsgefühl ein wahrhaft menschliches Leben konstellieren können.

Frau von Stein nannte Goethe einen «Geber»; zu dieser Auffassung rang sie sich nach der Enttäuschung durch, die ihr die Abwendung des ehemaligen Geliebten um 1789 verursacht hatte. Auch Friedrich Liebling war ein Geber grossen Stils. Was er wusste und konnte, gab er gern an andere weiter. Ein Teil dieser Gebefreudigkeit bestand in einer fast grenzenlosen Kommunikationsbereitschaft. Man konnte mit Friedrich Liebling sozusagen im Dauergespräch leben; er fand immer neue Themen des Dialogs, die ihn selbst und sein Gegenüber zu bereichern pflegten.

Friedrich Liebling war ein energisch-tüchtiger Mensch, der durchaus auf Leistung eingestellt war. Aber diese Arbeitsfreude wurde ergänzt durch eine ausgewogene Tendenz zur Musse und zur Selbstbesinnung. Überall verspürte man Reife und Vernunft, die selbst wiederum in einer gewissen Treue zu sich selbst gründeten. Nun ist ein In-sich-selber-Ruhen die Voraussetzung für echte Hingabe an andere. Wir wollen damit sagen, dass Friedrich Liebling aus der Selbsttreue heraus auch treu gegenüber anderen war. Wer seinen Schutz und seine Hilfe aufsuchte, musste schon grosse Verstösse gegen Sitte und Anstand machen, um aus dieser Schutzsphäre entlassen zu werden. Friedrich Liebling hielt jahre- und jahrzehntelang an jenen fest, mit denen er Verbindung aufgenommen hatte. Eine Atmosphäre der Verlässlichkeit umgab ihn, und diese wirkte in hohem Masse therapeutisch.

Seine Freunde in Wien nannten ihn scherzhaft den «russischen Grafen», weil er in Auftreten und Umgang etwas Aristokratisches an sich hatte. Das war nicht gespielt und nicht gewollt; es war lediglich Ausstrahlung seiner noblen Gesinnung und Einstellung. Dieser Faktor trug viel zum therapeutischen Erfolg von Friedrich Liebling bei. Auch grobe und verwahrloste Patienten wurden in seiner Gegenwart gesittet und anständig; sie wollten ihn nicht enttäuschen. Seine feinen Manieren wurden von Friedrich Liebling unbewusst eingesetzt, um das Gegenüber daran zu erinnern, dass Gemeinschaft nur Sinn hat, wenn wechselseitiger Respekt in ihr tragend ist.

Niemand hätte es gewagt, mit Friedrich Liebling billige Kumpanei schliessen zu wollen. Dazu war er viel zu ernst und würdevoll. Würde ohne Einschüchterung, Nobilität ohne Schauspielerei, Güte ohne Sentimentalität, Heiterkeit ohne Leichtsinn: Mit dieser Charakterstruktur gewann er fast alle seine Patienten zur sorgfältigen und gründlichen Arbeit am Charakter, die allein innere Wandlung zustande bringt.

Aber der Charakter allein tut es bekanntlich nicht; in der Psychotherapie muss man auch (unendlich) viel wissen. Friedrich Liebling war ein psychologischer Forscher und Praktiker aus Leidenschaft. Jede menschliche Begegnung brachte ihm neue Einsichten, Probleme und Fragen: Er lernte immer. So konnte er andere dazu animieren, das Leben als einen nie abgeschlossenen Bildungsprozess zu erfahren.

Immer auf der Seite des Schwächeren

Von Frieda Fromm-Reichmann, der bedeutenden Schizophrenie-Therapeutin, ist bekannt, dass als sie als Kind mit ihrer jüngeren Schwester spazieren ging, die beiden Mädchen von einem Hund überfallen wurden. Friedas Schwester geriet in Angst, weil der Hund Anstalten machte, sie zu beissen; da warf sich Frieda dem Angreifer entgegen und rief ihrem Schwesterchen zu: «Du musst keine Angst haben, solange ich bei dir bin!»

Ähnlich war die Haltung von Friedrich Liebling gegenüber seinen Schützlingen und Patienten. Er nahm sie in seine Obhut, und das hiess, dass er für jetzt und für alle Zukunft für sie da sein wollte. Wer schwach war, konnte sich an ihn anlehnen und wurde gestützt. Wer in Bedrängnis war, hatte in ihm einen Helfer, der unermüdlich, geduldig und einfühlsam war.

Friedrich Liebling rühmte an Schopenhauer, dass der Philosoph die Rolle des Mitleids in der Ethik überzeugend hervorgehoben hatte. Mitleid galt ihm als eine besondere Therapeuten-Tugend; oft sagte er, man müsse mit dem Patienten erkranken, das heisst mitleiden, und aus diesem Leid heraus einen Ausweg für den Bedrängten finden.

Kam etwa ein Ehepartner in die psychologische Beratung, der unter seinem Eheverhältnis litt, dann ruhte Friedrich Liebling nicht, bis er den «Bedränger» auch für psychologische Gespräche gewonnen hatte, um Frieden stiften zu können in der Partnerschaft. Dabei erwies er sich als Diplomat von höchster Geschicklichkeit; ist es doch jeweils eine äusserst schwierige Aufgabe, in Ehestreitigkeiten zu vermitteln, weil beide Beteiligte Recht zu haben glauben (und auf gewisse Weise auch haben).

Wenn Eltern durch ungeschickte Erziehung ihr Kind in eine Sackgasse getrieben hatten, warb Friedrich Liebling mit Takt und Liebenswürdigkeit um Verständnis für das schwierige Kind, das im Grunde nur ein Abbild seiner schwierigen Eltern war. Kaum jemals wurde er mit den Eltern ungeduldig, selbst wenn diese einfältige Vorurteile zum Ausdruck brachten und grosse Mühe hatten, psychologische Gedankengänge zu verstehen. Es ging darum, dem betroffenen Kinde Hilfe zu leisten, und da durfte man nicht aus der Haut fahren, selbst wenn die Eltern Gewaltmethoden propagierten und der vermeintlich üblen Vererbung die Schuld gaben.

Die Sympathie für den Schwächeren erklärt auch die Stellungnahme von Friedrich Liebling zum Problem der Schwangerschaftsverhütung. Natürlich begrüsste er die Einführung der Antibabypille als einen bedeutenden Fortschritt; oft genug hatte er als Berater mit Frauen zu tun gehabt, die ungewollt schwanger geworden waren und dann den mühseligen Weg der Abtreibung beschritten. Vor allem der ärmere Teil der Bevölkerung leidet ja am meisten unter den gesetzlichen Paragraphen, die eine Interruptio verbieten. Wer Geld genug hat, fand und findet immer einen Arzt, der fachkundig eine Schwangerschaft unterbricht.

Nun bot die Pille für Liebes- und Ehepaare mehr Schutz und Freiheit, und das war sicher gut. Aber Friedrich Liebling empörte sich bei dem Gedanken, dass es wiederum die Frauen sein mussten, welche die Hauptlast bei den Risiken der Liebe tragen sollten. Denn noch sind nicht alle Spätfolgen der Pille restlos geklärt; auch waren die anfänglichen Präparate nicht so perfekt wie jene, die wir jetzt besitzen. Darum propagierte Friedrich Liebling die Vasektomie, das heisst die Unterbindung des Samenstrangs beim Mann. Das ist eine einfache Operation, die ambulant durchgeführt werden kann und eine nahezu perfekte Verhütungsmethode darstellt.

Friedrich Liebling hatte sich selbst nach der Geburt seiner zweiten Tochter diesem Eingriff unterzogen. Er erzählte gerne, dass im katholischen Österreich die Kirche einen grimmigen Kampf gegen die Vasektomie eingeleitet hatte. Ärzte, welche die Operation durchführten, wurden durch ein Gerichtsverfahren belangt, wobei die Staatsanwaltschaft eifrig ehemalige Patienten suchte, die nachträglich den Eingriff bereuten. Man fand aber keine Zeugenaussagen, welche die Anklage unterstützten.

Vor allem in den Kreisen freiheitlich gesinnter Menschen war die Vasektomie sehr beliebt; sie sollte auch heute noch in Betracht gezogen werden, wenn ein Paar das Zeugungsgeschäft nicht weiter betreiben will. Friedrich Liebling empfahl daher die Vasektomie bei entsprechend disponierten Paaren. Allerdings gab es auch eine gewisse Zahl unter seinen Schülern, die von vornherein keine Kinder wollten («Wenn wir ein Kind wollen, können wir ja eines adoptieren», hiess es.) und durch die Vasektomie ein für allemal dieses Problem lösten. Viele Frauen waren glücklich darüber, dass ihre Partner ihnen die Verhütungsaufgabe endgültig abnahmen.

Pädagoge und Jugendfreund

Friedrich Liebling hatte überhaupt keine Mühe, mit Menschen jeglichen Lebensalters Umgang zu pflegen; mit den Alten war er ernst und besinnlich, mit der Jugend jedoch war er jung und lebensfroh. Er war enorm wandlungsfähig, sodass verschiedene Menschen möglicherweise ganz verschiedenartige Bilder und Charakterstudien von ihm zeichnen könnten. Aber eine besondere Zuneigung hatte er offenbar zu den Jugendlichen; sie genossen seinen speziellen Schutz und seine oft aufopfernde Förderung.

Jemand hat einmal gesagt, dass jene, die auf sehr beschwerlichem Wege zur Reife gelangt seien, eine besondere Disposition zur Erziehung der Jugend hätten; sie seien äusserst bemüht, den Heranwachsenden die Komplikationen ihres eigenen Werdegangs zu ersparen. Etwas Ähnliches mag bei Friedrich Liebling der Fall gewesen sein; ich habe oft beobachtet, dass er mit unglaublicher Intuition junge Leute verstand, von denen ihn mehr als sechs oder sieben Jahrzehnte trennten: Er fühlte sich eins und einig mit ihnen und gab ihnen eine Entwicklungshilfe, die von hoher Qualität war.

Man kann das ein sokratisches Element in seinem Charakter nennen; ähnlich wie Sokrates wollte Friedrich Liebling in jungen Menschen die Liebe zum Guten und Wahren wecken. Irgendwie hatte er ein positives Vorurteil gegenüber Jugendlichen; er glaubte an ihre Zukunft und meinte, sie könnten alle etwas Rechtes werden. Ich selbst war da skeptischer als er und staunte oft darüber, wieviel Zeit, Kraft und Geduld er einem dieser jungen Menschlein zu widmen imstande war. Aber von dieser menschenfreundlichen Einschätzung profitierte ich selbst nicht wenig. Ich hatte Friedrich Liebling nämlich auch schon in meiner Pubertät kennengelernt; wiewohl ich damals   – meiner Erinnerung nach   – ein verwirrter und relativ hilfloser Jüngling war, schien er einen Narren an mir gefressen zu haben und verkündete mir selbst und anderen gegenüber, dass aus mir «etwas Bedeutendes» werden könne.

Ich glaubte ihm nicht recht, liess mich aber mit der Zeit gewinnen. Jedenfalls ermutigte er mich mit aussergewöhnlicher Geschicklichkeit, sodass ich schwerste Aufgaben und Anforderungen auf mich nahm, ohne zu murren und zu klagen. Ein guter Lerner war ich immer schon gewesen; aber unter Friedrich Lieblings Einfluss wurde ich zum Lernenthusiasten, dessen Begeisterung für Kultur und Bildung nicht leicht überboten werden konnte.

Georg Trakl sagt in einer seiner Dichtungen: «Wie scheint doch alles Werdende so krank.» Ähnlich mag es Friedrich Liebling empfunden haben. Wenn er mit einem jungen Menschen zu tun hatte, überkam ihn Mitleid und Mitgefühl, sobald er daran dachte, welchen langen und schwierigen Entwicklungsweg dieses Kind oder dieser Jugendliche noch vor sich hatte. Darum wandte er alle Höflichkeit seine Herzens an, um sein junges Gegenüber nicht kleinmütig und abwehrend zu machen; im Gegenteil: Er flösste Mut und Kühnheit ein, weil er darin ein Gegengift gegen jede Form von Neurose und Verwahrlosung sah.

Ich habe schon bei anderer Gelegenheit erzählt, dass ich einmal ein eindrückliches Erlebnis mit Friedrich Liebling hatte. Wir machten einen Spaziergang und suchten eine Strasse, die wir nicht finden konnten. Da wandte sich Friedrich Liebling mit ausgesuchter Höflichkeit an einen kleinen Jungen, zog seinen Hut und fragte mit Grandezza und Wiener Charme, ob der Junge uns den Weg sagen könne. Was der Dreikäsehoch antwortete, weiss ich nicht mehr; aber in Erinnerung habe ich noch seinen erstaunten Blick, da er sich von dem würdevollen alten Mann anerkannt fühlte.

Das Pädagogische in Friedrich Liebling bestand auch darin, dass er nie etwas zu erzwingen suchte, was noch nicht als innere Entwicklung anstand. Er konnte Jahre geduldig warten, bis jemand begriff, was er ihm vielleicht schon in der ersten Therapiesitzung erklärt hatte. Ein Erzieher muss zeitlos arbeiten   – das verstand Friedrich Liebling zutiefst. Er arrangierte oder schuf nur Bedingungen, unter denen etwas wachsen konnte; aber er verfiel nie in den Fehler, dieses Wachstum durch Aktivismus erzwingen zu wollen.

So war Friedrich Liebling auch als Therapeut, denn für ihn galten Pädagogik und Psychotherapie nicht als getrennte Sphären; sie waren teilweise sogar wesensidentisch. Das wird heute von vielen Psychoanalytikern bestritten; Freud und Adler waren jedoch genau dieser Meinung. Ich bin froh darüber, dass ich bei Friedrich Liebling lernte, wie wichtig dieses Ingredienz für die Psychotherapie ist.

Friedrich Liebling als Gatte und Vater

Liebling FL Bild Ehepaar Liebling

Friedrich Liebling war mehr als 40 Jahre (seit 1929) verheiratet mit seiner Frau Maria, geborene Ulbl (gestorben 1971). Maria Liebling stammte aus Graz. Friedrich Liebling hatte sie kennengelernt, als er nach Kriegsende von Wien aus in die Provinz fuhr, wo man eher Nahrungsmittel erwerben konnte als in der hungernden Hauptstadt.

Zwischen den beiden Eheleuten bestand eine starke und unerschütterliche Harmonie. Sie zogen zwei Kinder gross: die Töchter Erna (geboren 1921) und Lilly (geboren 1925). Wiewohl Maria Liebling kein Studium absolviert hatte, nahm sie lebhaft Anteil an den psychologischen Interessen ihres Gatten. Sie hat auf ihre Weise sein Lebenswerk gestützt und mitgestaltet.

Beide Eheleute waren weltoffen und gastfreundlich. Schon in Wien war das «Haus Liebling» dafür bekannt, dass dort ein freier Platz am Tisch und freundschaftliche Aufnahme gesichert waren. Viele politische Flüchtlinge aus dem damals sehr unruhigen Europa kreuzten dort auf, um verköstigt und beherbergt zu werden. Sie brachten authentische Berichte von den neuralgischen Punkten der europäischen Politik mit und konnten mit einem aufmerksames Gemüt bei den grosszügigen Gastgebern rechnen. Friedrich Liebling hat mir oft erzählt, dass er mitunter politisch Exilierte völlig neu eingekleidet und mit Bahnbilletten zu ihren zukünftigen Bestim­ mungsorten versehen hatte. Nicht immer kamen Dankesschreiben, wenn der Hilfsbedürftige sein Ziel erreicht hatte.

Friedrich und Maria Liebling erzogen ihre Kinder sehr sorgfältig und modern. Es gab keinen Autoritarismus, natürlich auch keine Schläge. Man sprach über alles und jedes im Familienrat. Friedrich Liebling hing mit spürbarer Zuneigung an seinen Töchtern. Die jüngere der beiden hat in den USA später auch den Psychologenberuf gewählt. Beide Kinder wissen an ihrem Vater zu rühmen, dass er mit wunderbarer Echtheit als freiheitlicher Erzieher ihre Jugend sorgenfrei und glücklich gestaltete.

Es ist ein untrügliches Zeichen für die Qualität eines Psychotherapeuten, wenn er seine Ehe durch alle Gefahren und Beschwernisse des alltäglichen Zusammenseins führen kann. Friedrich Liebling gelang dies mit überzeugender Souveränität. Seine Gattin bestätigte vielfach, dass sie mit einem «weisen Mann» verheiratet sei. Dieser habe ihre Launen und Stimmungsschwankungen immer mit Verständnis hingenommen und sei in allen Belangen höchst kooperativ gewesen. Natürlich gab es auch bei diesem Paar Meinungsverschiedenheiten, die kraftvoll ausgetragen wurden. Aber stets wurde die Idee der Gemeinsamkeit im Auge behalten; man hielt zusammen durch dick und dünn.

Als Friedrich Liebling die Zürcher Grossgruppentherapie aufbaute, unterstützte ihn seine Frau mit Beharrlichkeit und Geschick. Sie war sozusagen die Mutter seiner Patienten. Oft wurden schwierige Patienten in bedrängter Lage zum Mittagstisch eingeladen. Man ass gut im «Hause Liebling», und man war dort gleichsam in die Familie einbezogen. Hunderte Patienten werden sich daran erinnern, dass man bei Friedrich Liebling nicht nur Patient, sondern auch Kind der Familie war; und in sehr komplizierten Fällen konnte gerade das lebensrettend sein.

Friedrich Liebling war liebevoll, geduldig, humorvoll, ernst und heiter zugleich. Er übernahm gerne die Verantwortung für andere; auch seine Gattin und seine Kinder spürten stets den Schutz und die Fürsorge, die von ihm ausgingen.

Wiewohl er ein strenger Kritiker der überlieferten Moral war, lebte Friedrich Liebling selbst sehr tugendhaft. Er hat mir glaubhaft versichert, dass er in den vielen Jahren seiner Ehe keinen Seitensprung gemacht habe. Gelegenheiten hierzu hätten sich dem überaus liebenswürdigen, geistreichen und gewandten Mann unzählige Male geboten. Aber er hielt dafür, dass Treue zu sich selbst auch Treue zu einem Du einschloss; es war für ihn offenbar kaum vorstellbar, seine Gattin zu betrügen.

Diese Familie hatte ein lebendiges geistiges Leben. Am Esstisch wurde immer lebhaft diskutiert: von den Tagesereignissen über die Literatur bis zur Philosophie. Friedrich Liebling verstand es ausgezeichnet, andere zum Sprechen anzuregen und selbst aufmerksam zuzuhören. Wenn er selbst sprach, bestätigte er die anderen und gab doch dem Gespräch überraschende und originelle Wendungen.

Psychologe und Therapeut

Liebling FL Bild AMY

Friedrich Liebling war ein hervorragender Kenner der Tiefenpsychologie, aber auch der allgemeinen Psychologie, der Pädagogik und der Charakterkunde. Was ihn jedoch am meisten interessierte, war die menschliche Persönlichkeit, der reale Mensch, der ihm gegenüberstand oder gegenübersass. Ihn wollte er angemessen verstehen, und in diese Aufgabe investierte er seine beachtlichen intellektuellen und emotionalen Kräfte. Was bedeutete da die graue Theorie, wenn man eine Individualität verstehen sollte, um ihr zu helfen? Nur sehr wenig; aber sie bildete den geistigen Hintergrund der Verstehensakte.

Dieses Verstehen war bei Friedrich Liebling sehr intuitiv, was aber nicht ausschloss, dass er bei jedem Einzelnen enorme Arbeit leistete, um sich in ihn hineinzuversetzen. Ich habe aber auch oft erlebt, dass er blitzschnell und mit halluzinatorischer Sicherheit Diagnosen stellte, die sich hernach als durchaus korrekt erwiesen.

Diese Kunst des Verstehens erwuchs aus seiner immensen Lebenserfahrung und aus seinem reichen Gefühlsfundus. Friedrich Liebling hatte in seinem Leben mit Tausenden Menschen intensiven Kontakt gehabt; daraus war bei ihm eine praktische Menschenkenntnis entstanden, deren Sicherheitsgrad erstaunlich war.

Er schuf bei seinem Gesprächspartner zunächst ein Klima der Ruhe, der Geborgenheit und des Angenommenseins. So konnten sich auch misstrauische und sehr verhaltene Charaktere weitgehend öffnen. Von Freundlichkeit eingehüllt, zeigten sie die verstecktesten Regungen ihrer Gesamtpersönlichkeit.

Friedrich Liebling rühmte Alfred Adler als den Mann, der uns das Werkzeug geschenkt habe, mit dem man therapeutisch effektiv arbeiten könne. Damit meinte er unter anderem die finale oder teleologische Betrachtungsweise des Seelenlebens. Friedrich Liebling hatte in der Schule bei Adler gelernt, wie man möglichst schnell und zuverlässig die offenen und geheimen Zielsetzungen eines Menschen erkundet. In scheinbar harmlosen Gesprächen achtete er auf die Äusserung des Unbewussten, das heisst seiner Motivationen und Ziele. Hatte er diese begriffen, dann konnte er die Lebensschwierigkeiten des Patienten geistreich interpretieren: «Ein Mensch ist die Summe seiner Zielsetzungen.»

Hatte Friedrich Liebling die neurotischen Ziele und Erlebnisverarbeitungen seines Gegenübers erkannt, war er nie darauf aus, diese in krasser oder direkter Form mitzuteilen. Er verstand es vorzüglich, «lächelnd die Wahrheit zu sagen». Mit winzigen Andeutungen enthüllte er dem Patienten seine meist fehlerhafte Lebenseinstellung; immer aber so, dass der Betroffene es annehmen konnte. Es war die Kunst der kleinen Schritte, die diese Therapie so wirksam machte.

Friedrich Liebling wusste aus tiefster Erfahrung, dass eine Umorientierung für keinen Menschen leicht ist. Daher baute er dem Patienten goldene Brücken, auf denen dieser ins Neuland des Lebens und Erlebens schreiten konnte. Niemals verlor er die Geduld, auch wenn die Gegenseite sich in Widerstandsmanövern verstrickte und die Therapie zu torpedieren begann.

Es war sein grosser Respekt vor der Fremdpersönlichkeit, der in Friedrich Lieblings Therapieform zum Tragen kam. Er wollte aufklären und helfen, nicht Recht behalten. Darum liess er sich kaum je mit einem Analysanden in einen streitähnlichen Disput ein. Wenn der Letztere noch nicht reif war, eine Erkenntnis anzunehmen, dann musste man eben weiter zusehen, genauer beobachten und noch besser zusammenarbeiten: Irgendwann kam dann der Moment, in dem selbst der Uneinsichtige einsichtig wurde.

Diese Haltung bewies Friedrich Liebling gegenüber allen Patienten, den schweren und den leichten Fällen. Selbst schizophrene Patienten nahmen diese Toleranz und Geduld wahr und konnten sie fruchtbar verwerten. Gerade in der Schizophrenen-Therapie zeigte sich seine Meisterschaft besonders deutlich: Er beherrschte eben viele Seelensprachen, darunter auch das «Schizophrenische». Ich habe oft beobachtet, wie er auch mit sehr desorientierten Menschen blitzschnell in Kontakt kam und ihr Vertrauen zum Gespräch gewann.

Nur so lässt sich erklären, dass Friedrich Liebling in seinen Grossgruppen etwa 3000 Menschen betreuen konnte. Zu vielen von ihnen baute er eine persönliche Beziehung auf; andere wieder integrierte er in Gruppen, die unter seiner Leitung Schutz und Einsicht vermittelten. Nur eine sehr starke und bedeutende Persönlichkeit kann   – ohne Hilfe von Religion und Massen-Idolatrie   – so viele Menschen zusammenhalten und an eine arbeitsfähige Gemeinschaft binden.

Die Gabe des Staunens

Platon und Aristoteles haben die These vertreten, dass das Staunen der Anfang der Philosophie sei. Würde sich der Mensch nicht über alles und jedes wundern können, käme er gar nicht zum Nachdenken. Je primitiver deshalb der Mensch ist, desto selbstverständlicher erscheint ihm alles in der Welt. Er hat keine Fragen und sucht darum auch keine Antworten. Wer nicht staunen kann, lebt fast ungeistig.

Bei Friedrich Liebling beobachtete ich eine ausgeprägte Fähigkeit zum Staunen und Sich-Verwundern. Das passte zu seiner tiefernsten und nachdenklichen Lebenseinstellung. Er war ein «Grübler», aber durchaus nicht im übertriebenen Sinne. Vieles, was andere kaum der Beachtung wert fanden, wurde für ihn zum Gegenstand der Reflexion und Forschung.

Oft hörte ich ihn «den Menschen» preisen, weil er durch Wissenschaft und Technik die menschlichen Möglichkeiten ins Unglaubliche ausgeweitet hatte. Aber im selben Atemzug sagte er dann: «Der Mensch kann so vieles; aber sich selbst versteht er noch gar nicht!» Er war wohl auch der Meinung, dass es für uns heutige Menschen viel leichter ist, zum Mond zu fliegen als die innere Distanz zwischen dem Ich und dem Du zu überwinden.

So anerkannte er die Errungenschaften der modernen Medizin, aber es tat ihm fast physisch weh, dass die Ärzte von heute so wenig Tiefenpsychologie zu assimilieren imstande sind. Kliniken und Spitäler sind zwar beinahe technisch perfekt, aber die Ärzte, die in ihnen arbeiten, wissen wenig von sich selbst und haben auch nicht die Fähigkeit, das echte Gespräch mit ihren Patienten zu führen.

Der Mensch steht immer noch im Banne naturwissenschaftlicher Leitvorstellungen; dass der Mensch eine Seele hat, hat sich in Medizinerkreisen noch nicht herumgesprochen. Wohl wird niemand mehr so naiv wie Rudolf Virchow sein, der von tausend sezierten Leichen sprach, in denen er keine Seele gefunden habe; aber auch wenn man das Psychische verbal anerkennt, heisst das noch lange nicht, dass man sachgerecht mit ihm umgehen kann.

Friedrich Liebling war ein leidenschaftlicher Promotor des psychosomatischen Den­ kens. Ich darf hier daran erinnern, dass er selbst jahrzehntelang unter einem Ulcus duodeni litt, das schliesslich durch eine Billroth-Operation (Teilresektion) entfernt wurde. Friedrich Liebling diskutierte oft mit seinen Ärzten über die psychischen Voraussetzungen dieses Geschwürleidens, das mit seinem Perfektionismus, seiner nahezu rigorosen Pflichteinstellung und bestimmten Bedingungen seiner Lebensschicksale zusammenhing. Durch ein eminentes Mass an Vorsicht und Vernunft hielt er sein Ulcus unter Kontrolle. Aber er amüsierte sich darüber, wie wenig seine Ärzte auf den seelisch-geistigen Hintergrund dieser Problematik einzugehen vermochten. «Sie sind vom somatischen Befund fasziniert», sagte er. «Das Psychische ist und bleibt ihnen ein Buch mit sieben Siegeln.»

Jeder einzelne Mensch gab Friedrich Liebling Anlass zum Staunen, da er in jedem Individuum eine Welt für sich fand. Das psychoanalytische Bestreben, Naturgesetze des Seelenlebens zu formulieren, hielt er für ganz abwegig. Ich las damals Georg Simmel und erzählte ihm von dessen berühmter Formulierung, wonach es ein «individuelles Gesetz» gebe. Das fand bei Friedrich Liebling vollkommene Zustimmung. Jeder Mensch trägt seine eigene Gesetzmässigkeit in sich; ja, er schafft sie vermutlich sogar. Diese zu erspüren und zu verbalisieren ist die vornehmste Aufgabe des Psychotherapeuten.

Technische Machbarkeit wurde zwar von Friedrich Liebling geschätzt; aber viel höher stufte er die kulturelle Schöpferkraft des Menschen ein. Was der Mensch in den Künsten, in den Wissenschaften und in der Philosophie geleistet hat, galt für Friedrich Liebling als vorbildlich. Da er selbst ein geistiger Menschentyp war, imponierte ihm in erster Linie das Geistige. Grosse Dichter und Denker waren die eigentlichen Heiligen in seinem Kalender. Er lehrte mich seit den Anfängen unserer Beziehung die geistige Tradition Europas als die Hauptsphäre der geistigen Welt überhaupt zu sehen.

Das europäische Menschentum hat der Menschheit die Gabe der Vernunft geschenkt. Griechen und Römer, Renaissance, Aufklärung und Klassik, moderne Naturwissenschaft und Vernunftphilosophie, Sozialismus und Tiefenpsychologie, Ideologiekritik und Utopismus: Das waren die Sterne am Himmel von Friedrich Liebling, hinter denen kein Gott mehr zu suchen nötig war, weil diese Geisteswelt selbst schon «göttlich» war.

Der Mensch ist gut!

Eine grundsätzliche Überzeugung von Friedrich Liebling war, dass der Mensch von Natur aus nicht böse ist; er ist sozial in seinem Wesen, und wenn man ihn halbwegs gut erzieht und nicht verängstigt, wird er auch gerne zur Kooperation bereit sein. Zu dieser Auffassung war Friedrich Liebling durch das Studium der sozialistischen Klassiker gelangt.

Mit grossem Respekt erwähnte er immer wieder das hervorragende Buch von Fürst Peter Kropotkin über die «Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt» (1904). Kropotkin hatte dieses Werk gegen jene Darwinisten (z. B. Thomas Henry Huxley) geschrieben, welche die Formel vom «Kampf ums Dasein» dahingehend missverstanden hatten, dass sie die Welt als eine Art Dschungel charakterisierten, wo jeder gegen jeden sei. Der russische Menschenfreund und Sozialist hingegen konnte unzählige Beispiele von Solidarität innerhalb der Arten und auch zwischen den Arten namhaft machen; er pries die Mutualität (Gegenseitigkeit) als den eigentlichen Motor des menschlichen Fortschritts.

Friedrich Liebling war sich klar darüber, dass jede Verteufelung der menschlichen Natur auch ein Politikum ist. Wenn der Mensch von seinem Wesen her böse wäre, dann wären Tyrannei und soziale Bevormundung gerechtfertigt. Darum hat jeder Konservatismus und jeder Faschismus eine Vorliebe für das Dschungel-Theorem; auch die Religion schwärzt den Menschen als Sünder und Bösewicht an, um ihn einzuschüchtern und für die Erlösung bereit zu machen.

Freuds Postulat eines menschlichen Aggressions- und Destruktionstriebes wurde von Friedrich Liebling mit einem Achselzucken als Naivität und Oberflächlichkeit abgetan. Gewiss gibt es unsäglich viel Feindseligkeit in der bisherigen Geschichte, aber man muss diese als Folge der menschlichen Unwissenheit, des Hungers, der Angst und der aggressiven Institutionen (Militarismus, Staat, Wirtschaftsleben und Kirche) sehen. Die Psychoanalyse erleichterte sich ihre Integration in die bürgerliche Welt, indem sie in jenen Chor einstimmte, der das Böse am Menschen nicht auf die Verhältnisse, sondern auf die Naturkonstanten der Gattung Homo zurückführte.

Als Konrad Lorenz in den Sechzigerjahren mit einer ähnlichen Theorie wie Freud Schlagzeilen machte, beeindruckte das Friedrich Liebling in keiner Weise. Er stellte sofort die Diagnose auf «Kryptofaschismus» bei dem berühmten Naturforscher. Natürlich anerkannte er den Wert der sonstigen Forschungen von Lorenz; wenn aber der «Graugans-Spezialist» zu philosophieren begann, erntete er bei Friedrich Liebling nur einen spöttischen Kommentar, etwa in dem Sinne: «Reaktionäres Denken wird wieder Trumpf.»

Erst später veröffentlichte die Zeitschrift «Der Spiegel» Dokumente aus der faschistischen Vergangenheit von Lorenz, der in der NS-Zeit Karriere (er wurde Philosophie-Professor in Königsberg) gemacht hatte. Inzwischen hat sich gezeigt, dass das Lorenz-Buch «Das sogenannte Böse» weit überschätzt wurde; der Autor gestattete sich darin einige kulturphilosophische und psychologische Primitivismen, die nur kleinbürgerlichen und engstirnigen Geistern imponieren konnten. Dass die bürgerliche Welt Konrad Lorenz sogar den Nobelpreis verlieh, ist wohl ein Fauxpas, den man nur dadurch entschuldigen kann, dass die Verhaltensforschung durch ihn tatsächlich mächtig gefördert wurde.

Friedrich Liebling war der Meinung, dass man als Psychotherapeut einen unbedingten Glauben an das Konstruktive im Menschen haben müsse. Er selbst war oft genug durch Menschen bitter enttäuscht worden. Aber das machte ihn nicht wankend in seiner Rousseauschen Überzeugung; er entschuldigte böswillige und betrügerische Menschen mit dem Argument, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend nichts Besseres gelernt hätten.

Selbstverständlich war er auch ein Gegner der Todesstrafe. Wenn ein Mensch durch eine trostlose Sozialisation und durch missliche Lebensbedingungen auf die Bahn des Verbrechens gedrängt wird, hat die Gesellschaft kein Recht, ihn zu töten. Gewiss gibt es ganz abscheuliche Delikte, aber man muss deren Ursprünge suchen und darf nicht glauben, dass man durch die Hinrichtung einzelner Delinquenten die grosse Verbrechensproblematik bewältigen könne. Im übrigen mordet der Staat im Krieg die Menschen in Millionenzahl und geht dabei straffrei aus; wie kann er sich da zum Richter jener Psychopathen und Halbverrückten machen, die im Wahn und in der Panik ebenfalls töten?

Das Leben lehrte Friedrich Liebling, vorsichtig im Umgang mit Menschen zu sein. Oft zitierte er Schopenhauer, der die menschlichen Lumpereien grimmig ventilierte; aber, wie Friedrich Liebling sagte: «Man muss auch mit Lumpen gütig sein!»

Pazifismus

Es versteht sich fast von selbst, dass Friedrich Liebling aufgrund seiner Welt­anschauung ein radikaler Pazifist war. Der Erste Weltkrieg hatte ihm die Realität des Krieges deutlich genug gezeigt; alles in ihm empörte sich dagegen, dass unschuldige Menschen einander abschlachten sollten, weil die Regierungen der Völker in ihrer Dummheit und Verantwortungslosigkeit den Entschluss dazu fassten.

In Österreich gab es nach 1918 eine umfängliche pazifistische Bewegung, der sich Friedrich Liebling anschloss. Aber die Sozialdemokraten, die da und dort an die Macht gelangten, unterstützten den Abrüstungsgedanken nur sehr halbherzig. Als Folge der Kompromissbereitschaft gegenüber konservativen Volkskreisen, mit denen Wahlbündnisse abgeschlossen wurden, wurde aber bald in den verarmten Ländern des Nachkriegseuropa wieder aufgerüstet. Der Militarismus erhob aufs Neue sein hässliches Haupt. In seiner Nähe gediehen wiederum Patriotismus, Revanche-Gedanken, ja sogar Rassismus. Die Sozialdemokratie schaufelte sich selbst ihr Grab, indem sie es nicht wagte, gegen die Reaktion entschlossen aufzutreten.

Ich fand einmal in einem Antiquariat das «Handbuch des aktiven Pazifismus» von Franz Kobler (Hrsg.), 1928 erschienen. Ich kaufte es und zeigte es Friedrich Liebling. Er erinnerte sich daran, in Wien mit Kobler gelegentlich zusammengearbeitet zu haben. In diesem Werk war auch ein schöner Aufsatz von Alfred Adler zu finden mit dem Titel «Psychologie der Macht». Adler hatte, nach Friedrich Lieblings Worten, in seinen Vorlesungen stets auf den Pazifismusgedanken hingewiesen, da auch er im Ersten Weltkrieg ein philosophisches Erlebnis hatte, nämlich die Erkenntnis, dass nur das Gemeinschaftsgefühl die Menschheit vor dem Untergang retten könne.

Faschismus und Militarismus waren für Friedrich Liebling Brüder, genauer gesagt siamesische Zwillinge. Man hat später davon gesprochen, dass die Soldaten doch nur «Bürger in Uniform» seien, die einzig und allein daraufhin geschult würden, ihre Heimat zu verteidigen. Friedrich Liebling wusste es besser; er hatte im Krieg gesehen, wie brave Menschen im wilden Wahnsinn getötet und gewütet hatten. Es war sein Stolz, dass er niemals absichtlich einen «Feind» erschossen hatte. Die patriotischen Slogans beeindruckten ihn nicht, und er wollte kein Held sein.

Friedrich Liebling liebte es sehr, bei Tisch die Tageszeitungen zu kommentieren. Er kam auf die täglichen Nachrichten zurück und nahm häufig zu ihnen Stellung. Auch wenn irgendwo «weit hinten in der Türkei die Völker aufeinander einschlugen», gab er seiner Entrüstung darüber Ausdruck, dass die Politiker die Probleme und Konflikte nicht friedlich zu lösen imstande waren. Auch die ständig wachsenden Rüstungsausgaben waren stets Gegenstand seiner Empörung. Er pflegte zu sagen: «Wenn es um Erziehung und Bildung geht, haben die Staaten meistens kein Geld. Das Budget für Kultur ist winzig im Vergleich zum Rüstungsbudget. Doch die Jugend ist verwahrlost und verzweifelt, die Gefängnisse sind voll, die Suchtkrankheiten nehmen überhand, und auch in den Nervenkliniken hat man ausreichend zu tun!»

Wenn uns jugendliche Wehrdienst-Verweigerer konsultierten, setzte sich Friedrich Liebling immer dafür ein, dass diese nach Möglichkeit straffrei blieben. Die Schweiz war nämlich in diesen Belangen sehr rückständig. Wer den Dienst mit der Waffe verweigerte, kam zunächst als Übeltäter ins Gefängnis. Ein Ersatzdienst wurde erst nach ziemlich langwieriger Prüfung bewilligt. Friedrich Liebling und ich untersuchten die Motive für die Absage an das Soldatentum; wo immer diese redlich waren, unterstrichen wir in unseren Gutachten die Notwendigkeit, solche Wehrdienst-Verweigerungen rechtlich anzuerkennen.

Die Friedensbewegung der Fünfzigerjahre fand in Friedrich Liebling einen begei­ sterten Befürworter. Am liebsten wäre er wohl an den Ostermärschen mitgegangen; nur sein Alter hinderte ihn daran. Er empfand es als hohen Idealismus bei Jugendlichen, wenn diese gegen den Strom schwammen und sich für die allgemeine Abrüstung einsetzten. Als 1960 in der BRD die Deutsche Friedens-Union (DFU) gegründet wurde, verfolgte Friedrich Liebling ihr Schicksal mit lebhafter Sympathie; es war für ihn schmerzlich zu sehen, dass gerade diese Partei nicht einmal die Fünf-Prozent-Hürde nehmen konnte (also nicht in den Bundestag kam).

Friedrich Liebling vermittelte seinen Schülern und Patienten eine Abscheu vor Aufrüstung und Krieg. Oft malte er in Gruppensitzungen die enormen Möglichkeiten der heutigen Menschheit aus, wenn sie auf Krieg und Aufrüstung verzichten würde.

Atheismus

Friedrich Liebling war einer der leidenschaftlichsten Atheisten, die mir je begegnet sind. Offenbar verlor er jeglichen Glauben an Gott bereits in jungen Jahren. Aber die endgültige Abkehr von jeder Religiosität kam wohl im Ersten Weltkrieg zustande. Während der vier Kriegsjahre von 1914 bis 1918 fragte er sich immer wieder, wie denn eine Gottheit eine solch grausame und widernatürliche Massenschlächterei zulassen könne. Er beobachtete den Konformismus der Kirchen, die sowohl an der Heimatfront als auch im Felde die Soldaten zum «Tod fürs Vaterland» begeisterten. Damals segneten die Priester sogar Vernichtungswaffen und behaupteten dreist, dass der Herrgott auf der Seite der Rechtgläubigen stünde.

Die Geschichte der Kirchen galt für Friedrich Liebling nahezu als eine «Kriminal­ geschichte». Oft kam er auf die Hexenverfolgungen, auf die Inquisition und auf die Vernichtung Andersgläubiger zu sprechen; er wunderte sich immer wieder darüber, dass gebildete Menschen über diese Tatsachen hinwegsehen und kirchengläubig bleiben konnten.

Über die Frömmigkeit unwissender und ungeschulter Menschen muss man kein Wort verlieren; wer nichts oder wenig gelernt hat, wird im Weltbild der Religion seine naturgemässe Weltanschauung finden. Wie aber steht es mit hochgeistigen Apologeten des altertümlichen Weltbildes? Für Friedrich Liebling war auch dies eine Frage der Erziehung. Was man in der Kindheit unter dem Druck von Autorität und Verdrängung lernt, bleibt meistens unauslöschlich. Auch in einem Spezialfach auffallend gescheite Menschen rekurrieren in Glaubensfragen auf das «Eiapopeia», das ihnen die Amme oder die Mutter in den Kindertagen vorgesungen hat.

Wer den Mut hatte, Kirche und Religion in die Schranken zu weisen, wurde von Friedrich Liebling stark bewundert. Als ich einmal im Gespräch mit ihm Erasmus und Luther gegenüberstellte, äusserte er: «Gegen Erasmus war Luther doch nur ein Bauerntölpel.» Galileis Zurückweichen vor der Inquisition billigte er als einen Schachzug, der diesem möglicherweise das Leben gerettet hat. Um 1600 durfte man im Streit mit den Inquisitoren nicht allzu tapfer sein.

Oft verwies mich Friedrich Liebling auf Ludwig Feuerbach, der ihm die Augen über das Wesen der Religion geöffnet hatte. Auch die Marxsche Religionskritik fand seine Zustimmung, wiewohl er einiges am Marxismus auszusetzen hatte.

Alfred Adler erhoffte sich in seiner Spätzeit einige Unterstützung durch protestantische Pastoren und sogar katholische Geistliche, da diese ja schon berufsmässig das Amt des «Seelenhirten» ausübten. Friedrich Liebling bezeichnete diese Annahme als Irrweg: Der Theologe sei fast immer ein Konformist, der sich nach der Obrigkeit richte, die ihm Brot und Amt gebe. Mit den Pfaffen solle man sich nicht einlassen. Gewiss gebe es unter ihnen auch «weisse Raben», die soziale Gesinnung und Freiheitsimpulse hätten; aber die Mehrzahl sei durch religiöse Indoktrination weitgehend denkunfähig.

Auch Friedrich Nietzsche war ein Lieblingsautor von Friedrich Liebling. Ihm rühmte er nach, dass er den Frömmlern aller Schattierungen entschieden den Boden entzogen habe. Dasselbe gelte für Bertrand Russell, der als Skeptiker immer gegen den Strom geschwommen sei und nie aus Karrieregründen Kompromisse geschlossen habe.

Als ich Martin Heideggers späte Mystizismen ins Gespräch einbrachte, konnte Friedrich Liebling sehr unmutig werden; er hatte Heideggers Solidarisierung mit dem Nationalsozialismus schon in den Dreissigerjahren mitbekommen und stufte die Zuwendung zur Mystik als Verschleierungstaktik ein. Der frühe Heidegger mochte grosse Verdienste um die moderne Philosophie erworben haben. Wenn er aber mit dem Faschismus paktieren konnte, war alles nicht sehr ernst gemeint; es ging um den eigenen Ruhm und um die Selbstverherrlichung, nicht um die Sache der Wahrheit. Da musste in der Spätzeit eben der «liebe Gott» (oder das geheimnisvolle Sein) herhalten, um einen Tiefsinn vorzutäuschen, der gar nicht vorhanden war.

Dass Goethe den Pfaffen und der Kirche spinnefeind war, hielt Liebling für rühmlich; aber er betonte oft, dass der «Herr Minister» sich so vieldeutig ausgedrückt habe, dass auch die Frömmler an ihm Gefallen gefunden hätten.

Wenn ich auf «religiöse Psychotherapie» zu sprechen kam, sagte Friedrich Liebling lakonisch: «Ja, ja   – hölzernes Eisen!» Es schien für ihn undenkbar, dass fromme Seelenärzte eine seelische und geistige Befreiung bei ihren Klienten bewirken könnten.

Stellungnahme zum Kommunismus

Wiewohl Friedrich Liebling in jeder Form des Sozialismus etwas Wahres zu erkennen glaubte, hielt er den Kommunismus für einen entsetzlichen Irrtum. Marx und Engels hatten sich, in der Not ihrer Zeit, einem phantastischen Utopismus verschrieben; sie meinten, dass eine anfängliche Vergottung des Staates nach einer Revolution zur späteren Befreiung aller Menschen führen könne. Das war unpsychologisch gedacht. Denn wer die Macht einmal in den Händen hält, wird sie nie wieder hergeben. Macht ist nicht nur   – wie Jacob Burckhardt lehrte   – an sich böse; sie ist auch die Ursache der schlimmsten Verrücktheit, die den Menschen befallen kann.

Die Staatsgläubigkeit des Bolschewismus stiess Friedrich Liebling schon in den frühen Zwanzigerjahren ab, als noch ein Grossteil der europäischen Intellektuellen von Russland einen Neubeginn der Geschichte erhoffte. Er erzählte mir oft, wie er durch Flüchtlinge aus Russland hautnah über die Greueltaten des bolschewistischen Regimes informiert worden sei; und das schon bald nach 1919. Es war für ihn kein Zufall, dass auf Lenin (der immerhin noch einen gewissen humanistischen Hintergrund hatte) das «Scheusal Stalin» folgte. Dieser war eben ein Mann des Apparates, ein «roter Spiesser». Durch die ungeheure Machtkonzentration in seinen Händen wurde Stalin paranoid; die Grundlagen für diese Paranoia mögen in seiner grausamen Kindheit und durch all die Härten, die er später erlitt, gelegt worden sein. Die anerzogene Autoritätsgläubigkeit der Menschen fügte ein weiteres hinzu, um den allmächtigen Diktator zu einem Gott zu machen. Aber hinter der Maske des «Grossen Bruders» (George Orwell) war leicht der Halbverrückte zu erahnen, der alle seine frühen Gesin­ nungsgenossen zu verfolgen begann und wegen antisowjetischer Umtriebe anklagte.

Friedrich Liebling hatte gewisse Sympathien für Trotzki, den er allerdings auch als absolutistischen Kommunisten einordnete. Verglichen mit Stalin war Trotzki aber ein grosser Revolutionär. Wenn Revolutionen die Freiheit bringen sollen, muss man möglichst bald damit anfangen; sonst etabliert man den Terror, der unsägliche Opfer kostet. Das lehrte schon die Französische Revolution von 1789; alle späteren Revolten haben dieses Gesetz bestätigt.

Für Friedrich Liebling waren Sozialismus und Freiheit (Antiautoritarismus) wesensidentisch. Auch war die Gewaltlosigkeit sein programmatisches Ideal; doch gab er zu, dass in revolutionären Situationen Gewaltanwendung mitunter nicht zu vermeiden war. Tolstoi und Gandhi hatten die Idee vom waffenlosen Widerstand (Satyagraha) mit Erfolg gepredigt. Gandhi hatte in Indien zwar mit einem skrupellosen Kolonialsystem zu tun, konnte aber voraussehen, dass die Engländer doch gewisse Grenzen der Humanität einhalten würden. Bei Hitler (und anderen faschistischen Diktatoren) wie auch bei Stalin war das anders. Wenn die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, kann man verstehen, dass sie Mord, Totschlag und den eigenen Untergang einplanen; dann muss auch die Revolte gewaltsam sein.

Friedrich Lieblings Vorbild Alfred Adler hatte schon 1919 dem Bolschewismus eine entschiedene Absage erteilt. Adler sah voraus, dass der Kommunismus in seinem Machtwahn keine Opposition dulden und die monolithische Machtausübung zuletzt im Cäsarismus enden würde. Friedrich Liebling hatte viele Revolutionäre persönlich gekannt, die nach Russland gingen, um dort den Sozialismus aufzubauen. Aber von diesen Idealisten kamen bald sehr enttäuschende Nachrichten. Später erfuhr man, dass sie in Stalins Lagern landeten, im Gulag.

Freunde von Friedrich Liebling gingen 1936 nach Spanien, um die Republik gegen Franco zu verteidigen. Auch dort konnte man die sowjetische Politik in extenso studieren. Durch die russischen Waffenlieferungen bekamen die Kommunisten die Oberhand über die spanischen Anarchisten und Syndikalisten; das Erste war, dass sie sich gegen ihre Waffenbrüder wandten und diese exekutierten. Friedrich Liebling musste nicht auf die Moskauer Schauprozesse von 1937 bis 1939 warten, um das Elend des Stalinismus zu durchschauen. Er litt sehr unter dem Fehlschlag des Bolschewismus und klagte oft darüber, dass eine der grössten Chancen der Neuzeit durch Dummheit und Autoritarismus vertan worden sei.

Auch die Sozialdemokraten waren nicht nach Friedrich Lieblings Geschmack. Er würdigte wohl die guten Absichten des «Austromarxismus» zum Beispiel; aber er brachte den Sieg des europäischen Faschismus mit dem Kleinmut und der Kleinbürgerlichkeit dieser Sozialisten in engen Zusammenhang. Er glossierte sie als «Lampenputzer», die gerne gewusst hätten, «wie man revoluzzt und zugleich auch Lampen putzt» (Erich Mühsam).

Nonkonformist

Friedrich Liebling war zwar ein exemplarischer Mitmensch, aber er wollte nie und nirgendwo mit der Menge laufen; er ging stets seinen eigenen Weg und bewies hierin einen bemerkenswerten Eigensinn. Es war etwas Aristokratisches in ihm, das trotz aller Solidaritätsgefühle keine billige Gemeinschaftsbildung zuliess. Er blieb Herr seiner selbst. Auch suchte er keine Führer und Vermittler; es war undenkbar, sich ihn als Mitglied einer Partei, Clique oder eines Klüngels vorzustellen.

Als ich Stefan Zweigs Erasmus-Biographie las, beeindruckte mich ganz besonders das Motto, das ungefähr lautete: «Ich versuchte zu erfahren, ob Erasmus von dieser oder jener Partei sei; aber ein gewisser Kaufmann erwiderte mir: Erasmus est homo per se   – Erasmus ist eine Partei für sich.» Das hatte ein Reisender im 16. Jahrhundert geschrieben. Friedrich Liebling lächelte bei diesem Zitat und meinte: «Genau so habe ich es immer gehalten; ich wollte nicht Parteimitglied sein, und wenn es auch die beste Partei gewesen wäre!» Er dachte wohl wie Paracelsus, der gesagt hat: «Wer sich selbst gehören kann, soll keinem anderen dienen.» Das zog sich wie ein roter Faden durch Friedrich Lieblings Biographie.

So verehrte er gewiss Alfred Adler als den Schöpfer einer lebensnahen Psychologie und Psychotherapie, aber er hielt es für unnötig, Mitglied der «Individualpsychologischen Gesellschaft» zu werden. Er traf Adler im Zusammenhang mit der Jugendarbeit, die ihn schon in Wien besonders in Anspruch nahm. Adler schätzte Friedrich Liebling als einen ausgezeichneten Praktiker, der als Mensch grossherzig und idealistisch gesinnt war. Scherzhaft nannte er ihn im Gespräch einen «überschwenglichen Idealisten», was zum Ausdruck bringen sollte, dass Friedrich Liebling alles, was er anpackte, mit Schwung, Leidenschaft und Zuversicht in Angriff nahm.

Aber die Zusammenkünfte der Adlerianer in den verschiedenen Kaffeehäusern mied Friedrich Liebling. Das war seiner Meinung nach ein kleinbürgerlicher Zirkel, in dem Adler selbst sich mitunter fremd fühlte. Friedrich Liebling lebte damals fast mehr für die Politik als für die Psychologie; am wichtigsten schien es ihm, die Heraufkunft des Faschismus zu verhüten. Die Nur-Psychologen hielt er für naiv in einer derartigen gefährlichen und gefährdeten Zeit.

Auch die Sozialisten, Freidenker, Naturfreunde usw. fanden in Friedrich Liebling keinen Gefolgsmann. Er nahm an ihren Bestrebungen teil, diskutierte sich den Kopf heiss und musste oft genug erfahren, dass sein Radikalismus wenig Verständnis finden konnte. Wiewohl alle fortschrittlichen Menschen und Gruppierungen ahnten, dass der Faschismus für sie Tod und Untergang bedeutete, tendierten sie zur Beschwichtigungspolitik und zeigten sich nachgiebig, wo immer sie konnten. Die Gegenseite honorierte die Kompromissbereitschaft keineswegs. Der Faschismus und der Autoritarismus enthüllten schamlos ihre Mörderfratze; sie mokierten sich über die freiheitlichen Bestrebungen, die nahezu kampflos in den Abgrund gingen.

Friedrich Liebling erkannte damals, dass mit den zum Masochismus und Autoritarismus erzogenen Menschen die gesellschaftliche Freiheit nicht geschützt und aufrechterhalten werden konnte. Deshalb vollzog er den endgültigen Schwenk zur Psychologie und Psychohygiene. Die Verzweiflung an der Politik liess ihn den kulturellen Wert der Psychotherapie erkennen: «Man muss die Menschen zuerst heilen», pflegte er zu sagen, «dann kann man mit ihnen eine humane Gesellschaft aufbauen.»

Als Nonkonformist fühlte sich Friedrich Liebling in der Nachfolge von Max Stirner und Friedrich Nietzsche, die in ihren Lehren das freie und schöpferische Individuum über alles stellten. Ich machte ihn auch mit Kierkegaard bekannt , der in seinem Grabspruch nur den lakonischen Hinweis haben wollte, er sei «ein Einzelner» gewesen. Ich habe sehr wenige Menschen in meinem Leben getroffen, die ähnlich wie Friedrich Liebling in allen Belangen des Lebens und Denkens durchgehend individualistisch waren.

Aber dieser Individualismus war in keiner Weise egoistisch oder privatistisch. Man hätte von ihm im Sinne Hugo von Hofmannsthals sagen können: «Nur dass er dienen durfte, freute ihn.» Friedrich Liebling hatte sich zu einer starken und unabhängigen Persönlichkeit entwickelt; nicht aber, um andere Menschen zu überragen oder gar zu beherrschen: Er wollte als Starker den Schwachen helfen. Das hat er bis zu seinem letzten Atemzug praktiziert. Die libertären Sozialisten (Michael Bakunin, Gustav Landauer, Erich Mühsam, Peter Kropotkin, Pierre-Joseph Proudhon usw.) bekräftigten in Friedrich Liebling diese Haltung, die ein Stück seiner menschlichen und therapeutischen Grösse ausmachte.

Friedrich Liebling war ein vorzüglicher Kenner der Tiefenpsychologie, der Philosophie, der Weltliteratur, der Geschichte und der Politikwissenschaft. Sein therapeutischer Erfahrungsschatz war weit überdurchschnittlich; er hat unzählige Menschen behandelt und gefördert, weshalb auch sein praktisches Wissen von kaum vorstellbarem Umfang war. Dem steht gegenüber, dass Friedrich Liebling nur wenige schriftliche Arbeiten hinterlassen hat. Er wollte kein Schriftsteller und kein «Schreiber» sein. Ich drang oft in ihn, sich publizistisch zu äussern; aber ich kam damit nicht an. Meine Haltung war das genaue Gegenteil. Ich brannte als junger Mensch darauf, mich literarisch bekannt zu machen. Ich soll angeblich als Jugendlicher gesagt haben, ich würde in Zukunft bestimmt mehr als «zwei Meter Bücher» schreiben   – nämlich aneinandergereiht im Regal .Wenn das wahr ist (ich erinnere mich nicht mehr daran), dann habe ich dieses Desiderat inzwischen einigermassen erfüllt.

Friedrich Liebling pflegte auf meine Vorhaltungen zu sagen: «Der Beruf des Menschenkenners und Menschenbehandlers ist so umfassend, dass man die volle Energie eines Menschenlebens in ihn investieren muss. Würde ich dazu noch schriftstellerische Ambitionen haben, dann kämen meine Patienten und Schüler irgendwie zu kurz. Für mich ist es nicht sinnvoll, den Doppelberuf des Therapeuten und Publizisten auszuüben!»

Allerdings bewunderte er grosse und produktive Schriftsteller aus vollem Herzen. Wir lasen fast alles, was zum Beispiel Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir publizierten. Friedrich Liebling wunderte sich darüber, mit welchem Elan Sartre ein umfängliches Werk nach dem anderen ans Licht brachte. Aber Sartre war eben mit der Manie des Schreibens herangewachsen; Schreiben bedeutete für ihn beinahe alles. Dabei kam vieles andere nicht so günstig zum Tragen: Sein Liebesleben war chaotisch, Alkohol-Abusus lag nicht fern, und das Kettenrauchen musste in flauen Momenten die Produktion stimulieren. Der massvolle und besonnene Friedrich Liebling hätte sich nie dazu hergegeben, um des Bücherschreibens willen seine Gesundheit zu untergraben.

Als ich etwa ein Dutzend Bücher geschrieben und veröffentlicht hatte und darauf auch ein bisschen stolz war, sagte Friedrich Liebling zu mir: «Meine Patienten sind meine Bücher!» Was ich einer anonymen Öffentlichkeit anvertraute, wollte er durchaus nur im persönlichen Lebensverhältnis weitergeben. Ich hielt das damals für einen Fehler und bin auch heute noch der Meinung, dass das Bücherschreiben die Gedanken des Autors klärt und ordnet. Im gewissen Sinn profitiert der Autor am meisten von seinen Büchern; er lernt sich im Schreiben kennen. Andererseits verstehe ich heute   – nach der Publikation von fast 70 Büchern   – den Standpunkt von Friedrich Liebling besser als zuvor. Es hat mich unsäglich viel Kraft und Einsatz gekostet, neben meiner aufreibenden Berufsarbeit noch wissenschaftliche Werke zu verfassen. Mitunter geriet ich sogar in gesundheitliche Krisen, weil ich begonnene Arbeiten nicht beiseite legen und unfertig lassen konnte. Einige der grossen Krankheiten meines Lebens sind vermutlich auf die Doppelbelastung als Arzt und Schriftsteller zurückzuführen.

Es wird ohnehin zu viel geschrieben und zu wenig gelesen. Die Menschen von heute haben nicht die Geduld und die Übung, sich wochen- und monatelang mit einem gehaltvollen Text auseinanderzusetzen. Der Fernsehkonsument von heute liest keine Bücher; wenn überhaupt, dann nur in «gekürzter Fassung». Es entsprach dem Sokratismus von Friedrich Liebling, gesprächsweise seine Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln. Auch Sokrates hat keine Bücher hinterlassen (die schrieb dann Platon). Und doch ist Sokrates für die abendländische Menschheit zum Lehrer der Weisheit geworden.

Friedrich Liebling legte seine ganze Kunst und alle seine Kenntnisse in die Gestaltung seiner Gespräche. Diese waren tatsächlich Kunstwerke. Sie hatten einen wundervollen Aufbau und zielten auf schöne und klare Resultate hin. Oft begann er ein Therapiegespräch mit Alltäglichem. Fünf bis zehn Minuten sprach er über das Wetter oder über den eigenen Gesundheitszustand (und Beschwerden des Alters). Der Ratsuchende wunderte sich schon, wo das hinführen sollte. Aber dann kam der elegante Schwenk zu den eigentlichen Problemen; und es wurde mit solcher Intensität gearbeitet, dass viel dabei herauskam. Diese Gespräche sind Friedrich Lieblings Schülern und Patienten unvergesslich geblieben.

Friedrich Liebling starb im Februar 1982 im Alter von 89 Jahren in Zürich. Sein Lebenswerk wurde durch meine Arbeit in Berlin fortgesetzt.

Literatur

Fellay, Gerda: La conception de l'education de Friedrich Liebling (1893  –1982), Dissertation an der Universität Lausanne, Bern 1997

Müller, Reinhard: Friedrich Liebling   – Psychologe und Psychotherapeut, in: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich, Newsletter Nr. 16, Graz 1997

Rattner, Josef: Erinnerungen an Friedrich Liebling, in: Miteinander leben lernen, Heft 2, Jg. 1992
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Rattner sitzend
Josef Rattner (* 4. April 1928 in Wien; † 29. Oktober 2022 in Berlin) war ein österreichischer Psychotherapeut, promovierter Philosoph und Mediziner sowie Autor. Rattner gilt als Pionier der Großgruppentherapie .

Alfred Lévy, Gerald Mackenthun (Herausgeber)

Buch | Softcover
332 Seiten
2002
Königshausen u. Neumann (Verlag)
978-3-8260-2156-5 (ISBN)

 

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling