Säuglinge in Kinderkrippen – Ein interessanter Briefwechsel mit einer Mutter
In Europa bringen Immer mehr Mütter ihre Kinder bereits ab dem zweiten oder dritten Monat in Kinderkrippen. In der Schweiz stellt man einen Run auf Krippenplätze fest. Aus diesem Anlass haben wir kürzlich die Forschungen von Professor Zdenek Matejcek auf dieser Webseite vorgestellt: “Kinder ohne Liebe“** und „Betreuen der Kleinkinder zwischen Familie und Staat“ . Daraufhin erhielten wir das engagierte Schreiben einer Mutter, das wir für so wesentlich erachten, dass wir es hier, zusammen mit unserer Antwort, veröffentlichen:
Sehr geehrter Herr Wahl
Ich habe seit einiger Zeit Ihren Newsletter abonniert und ich möchte Ihnen danken für die vielen interessanten Artikel die ich zugeschickt bekam. Heute aber habe ich mich von der Mailing-Liste entfernen lassen – und das hat einen Grund:
Der Newsletter zum Thema "Kinder ohne Liebe" und der heutige Newsletter sind mir "etwas sauer aufgestossen". Offensichtlich sind Sie ein Gegner von Kinderkrippen – nun das ist Ihre persönliche Meinung und ich habe damit absolut kein Problem. Störend finde ich aber, dass Sie offenbar ein völlig falsches Bild von Kinderkrippen haben!
Ich weiss nicht wieviele Kinderkrippen Sie schon besucht haben, aber das Bild, dass Sie vermitteln, stimmt sicher nicht für alle Kinderkrippen.
Ich haben den Film "Kinder ohne Liebe" (noch) nicht gesehen, bloss einen kurzen Ausschnitt auf YouTube. Aber was da gezeigt wird, hat mit den heutigen Kinderkrippen nichts zu tun. Unsere Tochter war fast 2 Jahre in einer Kinderkrippe. Sie musste nie an einem Seil gehen, die Krippe sah auch nicht aus wie eine Militärkaserne (wie im Film) und die Kinder wurden auch nicht in einer Reihe aufs Töpfchen gesetzt. Geschlafen haben sie in einem Zweierzimmer oder bei Bedarf auch alleine, also nichts von Massenlager wie man es im Film sieht. Heute wird Nora von meinem Mann betreut wenn ich arbeite (2 Tage / Woche). Dies ist sicher der Idealfall, da gebe ich Ihnen absolut recht!
Der beste Platz für ein Kleinkind oder überhaupt ein Kind ist bei seinen Eltern, dass bestreitet ja wohl niemand. Nur ist es aber leider so, dass dies nicht für alle Familien möglich ist. Manchmal reicht ein Gehalt nicht aus und die Frau muss mitverdienen oder alleinerziehende Mütter (seltener auch Väter) sind ja wohl gezwungen einer Arbeit ausser Haus nachzugehen. Und nicht immer sind da Grosseltern, welche mit Freude die Kinderbetreuung übernehmen. In unserem Fall sind meine Eltern leider beide bereits verstorben und meine Schwiegereltern wohnen nicht gleich um die Ecke. Also war es für uns damals die beste Lösung, Nora in die XYZ-krippe zu bringen (2 Tage pro Woche). Ich kenne nur diese Krippe, kann also keine Vergleiche anstellen. Ich hatte immer das Gefühl, dass meine Tochter da in guten Händen ist. Ich habe sie zweimal im Tag besucht, zum Stillen! Nora hat sich lange geweigert, abgepumpte Muttermilch aus einem Fläschchen zu trinken, also habe ich, nach Rücksprache mit der Krippenleitung und meinem Chef, Nora weitergestillt. Ich war in 5 Minuten von meinem Büro in der Krippe und habe meine Pausen zum Stillen genutzt. Dies war auch für die Krippenleitung eine neue Situation, man ist mir da aber völlig unkompliziert und unbürokratisch entgegengekommen. Und was mich besonders gefreut hat ist, dass danach auch andere Mütter zum Stillen in die Krippe gekommen sind.
Sicher war das ein Glücksfall und nicht für jede Mutter wird dies möglich sein (es sind auch nicht alle Arbeitgeber so flexibel wie in meinem Fall....). Für mich aber war das so okay (und ich hoffe für Nora auch!) In dieser Krippe waren übrigens 7 Betreuerinnen (wovon eine noch in Ausbildung) auf 20 Kinder (ich habe extra auf dem Krippen-Gruppenfoto nachgezählt). Auch haben die Betreuungspersonen nicht ständig gewechselt, die Kinder waren über lange Zeit bei den selben zwei Betreuerinnen in kleinen Gruppen. Die Eingewöhnungszeit ging über 2 Wochen, ich war erst mit Nora in der Krippe und habe sie dann immer ein bisschen länger alleine da gelassen. Diese Eingewöhnung haben wir vor meinem Wiederbeginn auf der Arbeit durchgeführt.
Es ist also nicht so, dass man am Tag X wieder zu arbeiten beginnt und das Kind dann zum ersten Mal in die Krippe bringt und den ganzen Tag dort lässt! Nora war gute 4 Monate alt, als sie in die Krippe kam. Dies ist recht früh – aber wir sind in der Schweiz nun mal nicht in der komfortablen Situation wie z. B. in Deutschland, wo man bis zu einem Jahr Elternzeit bekommt. Vielleicht müsste die Politik mal da ansetzen!***
So nun habe ich meinem "Ärger" etwas Luft gemacht.
Sicher ist es ratsam genau zu schauen in welche Krippe man sein Kind bringen möchte. Und es ist bestimmt auch gut, wenn man sich verschiedene Krippen anschaut, bevor man sich entscheidet. Aber ich denke, man müsste das Thema "Kinderkrippe" etwas differenzierter angehen, bevor man eine pauschale Verurteilung vornimmt.
Mit freundlichen Grüssen
Marianne Pfeiffer marianne@panoma.ch
Unsere Antwort:
Sehr geehrte Frau Pfeiffer,
für Ihr ausführliches und engagiertes Schreiben zum Thema „Kleinkinder in Kinderkrippen“ bedanke ich mich bei Ihnen ganz herzlich.
Ich bin sehr beeindruckt von Ihrer genauen Schilderung so vieler wesentlicher Details Ihrer Krippenerfahrung, aus denen ersichtlich wird, dass die im Film „Kinder ohne Liebe“ dokumentierte – von Professor Matejcek zurecht kritisierte Behandlung der Kleinkinder damals in der Tschechoslowakei – keinesfalls mit der heutigen Situation in Schweizer Kinderkrippen verglichen werden kann. Da gehe ich vollkommen mit Ihnen, sehr geehrte Frau Pfeiffer, einig.
Nachdem der Film aus dem Land herausgeschmuggelt und in Venedig prämiert worden war, wurden die Krippenverhältnisse in Tschechien ja auch geändert.
Ihren umfassenden, detaillierten Erfahrungsbericht, z. B. über die sorgfältige zweiwöchige Eingewöhnungszeit Ihrer vier Monate alten Tochter in die neue Krippenumgebung, Ihr täglich zweimaliger Besuch der Tochter zum Stillen – was sogar andere Mütter zur Nachahmung bewogen hat – die Stabilität der beiden Betreuerinnen über lange Zeit, das Entgegenkommen der Krippenleitung, die Flexibilität Ihres Arbeitgebers und last but not least nun der Einsatz Ihres Mannes zur Betreuung der Tochter, damit Sie zur Arbeit gehen können, erachte ich als ein wertvolles Dokument, das mich zum Nachdenken angeregt hat. Bezüglich der kurzen Baby-Pause in der Schweiz erwähnen Sie die komfortable Situation z.B. in Deutschland, wo bis zu zwölf Monate Elternzeit gewährt wird, sprechen Sie mir mit Ihrer Aussage „vielleicht müsste die Politik da mal ansetzen!“ aus der Seele. Die Mütter in der Schweiz sollten sich zusammentun, um Druck auf die Politik auszuüben. Zum Beispiel könnte man die Eidgenössische Kommission für Familienfragen, die 24 Wochen Extrazeit für Eltern fordert, unterstützen.( http://www.nzz.ch/nachrichten/schweiz/elternzeit_elterngeld_vorschlag_kommission_1.8156506.html )
Ich denke, es wäre auch für andere Mütter interessant, Ihre Ausführungen lesen zu können. Daher würde ich gerne Ihr Schreiben (anonymisiert) zusammen mit meiner Antwort auf seniora.org publizieren, vorausgesetzt, Sie sind damit einverstanden. Ihr Name, Name des Kindes und Name der Krippe würden geändert. (Aber auch volle Namensnennung wäre möglich, falls Sie dies wünschen würden, mit Ihrer E-Mailadresse, sodass andere Mütter möglicherweise mit Ihnen Kontakt aufnehmen könnten.)
Ich bedaure , dass Sie sich vom Newsletter abgemeldet haben, aber Sie können sich ja überlegen, ob Sie sich gelegentlich wieder anmelden möchten; das würde mich sehr freuen..
Ihrer Antwort sehe ich mit Interesse entgegen und
grüsse Sie herzlich
Willy Wahl
Frau Pfeiffers Antwort:
Sehr geehrter Herr Wahl,
Bitte entschuldigen Sie meine etwas verzögerte Antwort – aber mit einem kleinen Kind komme ich oft nur frühmorgens oder dann spätabends dazu, meine Korrespondenz zu erledigen.
Gerne dürfen Sie mein Schreiben und Ihre Antwort auf seniora.org publizieren, auch mit voller Namensnennung und E-Mail Adresse. Betreffend XYZ-Krippe weiss ich jetzt nicht, ob wir da deren Einwilligung brauchen, wenn wir sie namentlich erwähnen.
Ich habe noch sporadisch Kontakt zu den Krippenleiterinnen und weiss von ihnen, dass sich im letzten Jahr einiges geändert hat im Krippenbetrieb. Aus Sparmassnahmen(!) wurden die Gruppen vergrössert und es gibt jetzt neu altersgemischte Gruppen, auch wurde darüber diskutiert, ob man den Kinderhort (Kinder ab Kindergartenalter bis ca. 3. Klasse, die zum Mittagessen und nach Kindergarten- bzw. Schulschluss am Nachmittag in den Hort kommen) schliessen soll, um dafür mehr Babys aufnehmen zu können.
Man wird in dieser Krippe leider nicht mehr ganz die Verhältnisse antreffen, wie wir sie noch vor 2 Jahren hatten. Auch hier wird – meiner Meinung nach – wieder mal am falschen Ort gespart.
Ich habe mich bei Ihrem Newsletter wieder angemeldet, ich wollte doch nicht auf die interessante Lektüre verzichten.
Herzliche Grüsse
Marianne Pfeiffer
***Petition "Familienergänzende Kinderbetreuung fair finanzieren"
Am 26.2.10 reichten VPOD und KiTaS ihre Petition „Familienergänzende Kinderbetreuung fair finanzieren“ zuhanden des Bundesrates bei der Bundeskanzlei in Bern ein. Rund 10‘000 Mitarbeitende von Kitas, Mitglieder von Trägerschaften, Eltern sowie weitere Interessierte haben die Petition unterschrieben. Nun sind Bundesrat und Parlament an der Reihe: Sie sollen die Forderung nach Anerkennung der familienergänzende Kinderbetreuung als Service public unterstützen und wesentlich mehr Staatsmittel zur Verfügung stellen.
**"Kinder ohne Liebe"
Film von Zdeněk Matějček
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