«Hört auf, die Kinder zu loben»
Eltern sollen «Leitwölfe» sein, fordern Sie in Ihrem neuen Buch. Läuten Sie die Rückkehr des autoritären Erziehungsstils ein?
Über 20 Jahre lang habe ich geschrieben, dass Eltern wie «Leuchttürme» sein sollten: dass sie allein die Verantwortung für eine gesunde Beziehung zu ihren Kindern tragen. Ich habe jedoch merken müssen, dass ich falsch verstanden wurde. Der Begriff des Leuchtturms war wohl zu romantisch. «Leitwölfe sein» verstehe ich deshalb als Weckruf. Mit einem autoritären Erziehungsstil, also mit Machtausübung und Gehorsam, hat das nichts zu tun.
Wie erziehen Leitwölfe denn ihre Kinder?
Indem sie Führung übernehmen. In den letzten 20 Jahren hatte ich vermehrt mit Eltern zu tun, deren Kinder Probleme mit Essen, Aufstehen oder Schlafen haben. Das sind direkte Folgen von zu wenig Führung. Wobei Führung nicht mit Erziehung verwechselt werden darf. Es geht nicht um die Vermittlung von Werten, sondern um Empathie, Dialog und vor allem: persönliche Autorität.
Was ist persönliche Autorität?
Eine Autorität, die nicht auf einer Rolle basiert. Eltern und Lehrer beziehen sich also nicht auf einen Status, sondern auf die eigene Persönlichkeit, auf das Selbstwertgefühl und die Selbsterkenntnis. Eine solche Autorität führt zu mehr Respekt – und letztlich auch zu mehr Einfluss.
Das klingt nun wieder antiautoritär.
Nein, Leitwölfe fällen durchaus Entscheide. Sie stellen sich Konflikten. Doch genau das tun viele heutige Eltern nicht. Harmonie ist für sie ein Ausdruck von Liebe. Ein solches Verhalten kann schlimme Folgen haben. Die Kinder lernen nicht, wie man mit vermeintlich unerwünschten Emotionen umgeht. Weil sie ständig im Mittelpunkt stehen, wachsen sie mit überdimensioniertem Ego, aber ohne genügend Selbstwertgefühl auf. Im späteren Leben kann dies zu selbstzerstörerischen Tendenzen führen, egal ob die Kinder in der Schule gut oder schlecht waren.
Nehmen wir an, ein Kind will nicht ins Bett. Wie verhandelt ein Leitwolf?
Er verhandelt eben nicht. Verhandlungen gehören in die Politik oder in die Geschäftswelt. Besagte Situation hängt stark vom Alter des Kindes ab. Zwischen 1 und 6 ist es wichtig, dass die Eltern ruhig, freundlich und souverän auftreten. Wobei eine resolutere Person einen resoluteren Stil hat – nicht zuletzt geht es bei der persönlichen Autorität um Authentizität. Ja nicht eine «handelsübliche» Methode kopieren! Gerade bei Kleinkindern hat man Zeit, den richtigen Ton zu finden, der einem bei späteren Konflikten hilft. Diese Konsequenz im Ton ist enorm wichtig, aber leider nicht immer vorhanden. Viele Eltern haben den richtigen Vorsatz, aber werfen ihn, wenn sie zum Beispiel müde sind, über Bord. Das verwirrt das Kind. Oft ist bei der Bettsituation übrigens eine andere Problematik vorhanden: Angelegenheiten in der Schule oder mit dem Lehrer. Idealerweise erkennt und diskutiert man zuerst diese.
Was, wenn man wirklich keine Energie hat, mit bestimmter Leitwolf-Empathie aufzutreten: Darf man nicht ab und zu nachgeben?
Natürlich, Sie sollten dem Kind dann einfach sagen, dass Sie zurzeit keine Energie für Kämpfe hätten – aber morgen wieder zurück seien.
Sind Drohungen und Bestrafungen erlaubt?
Nein, nie.
Sie geisseln auch das Loben. Wieso?
Wenn ein Kind etwas erreicht hat, ist Lob angebracht. In den letzten zehn Jahren haben aber viele Eltern damit begonnen, ihre Kinder für so ziemlich alles zu loben, was diese tun. Offenbar glauben sie, so das Selbstwertgefühl des Kindes zu steigern. Das Gegenteil ist wahr: Es kommt zu einem unrealistischen Selbstbild, das später meist in einem schmerzvollen Prozess korrigiert werden muss. Die Loberei ist letztlich auch ein egoistischer Akt, die Eltern fühlen sich dadurch gut.
Quasi eine Unterkategorie von übermässiger Harmonie ist ja die elterliche Babysprache. Einige Mütter verwenden diese noch bei Schulkindern. Was ist davon zu halten?
Babysprache und Hochfrequenzstimme sind für den Kontakt und die Beziehung wertvoll – bis die Kinder zehn Monate alt sind. Danach sollte man wie eine normale Person reden.
Immer wieder hört man bei Elterngesprächen, dass Kinder «Grenzen brauchen». Es gibt ganze Bücher zu diesem Thema. Wie wichtig sind Grenzen für Kinder?
Diese Ansicht teile ich überhaupt nicht. Als ob das Wohlbefinden von Kindern von Grenzen abhängt! Natürlich braucht es gewisse Regeln für das familiäre Zusammenleben – wie man isst, wie man schläft etc. Ansonsten sollten Kinder einfach mit Erwachsenen zu tun haben, die sich ihrer persönlichen Grenzen bewusst sind und diese in einer freundlichen, individuellen Sprache vermitteln können. Was wichtiger ist als das Gerede über «Grenzen setzen»: die Grenzen von Kindern kennen und respektieren. Jahrhundertelang wurden Kinder gekränkt, wurde ihnen wehgetan. Auch heute noch werden im Namen der Erziehung die persönlichen Grenzen von Kindern verletzt.
Wie zum Beispiel?
Zum einen mit Schlägen, die immer noch sehr verbreitet sind. Aber auch auf unbewusstere Art, indem Eltern ihre Kinder im Gespräch bevormunden: «Du bist jetzt so oder so.» Die norwegische Erziehungswissenschaftlerin Berit Bae nennt dies die «Definitionsmacht von Erwachsenen». Mit einem Erwachsenen würde man niemals so reden – ansonsten käme es zum Gesprächsabbruch. Kurz, respektieren wir die persönlichen Grenzen von Kindern, respektieren sie auch unsere.
Keine leichte Aufgabe: Kinder zu führen und gleichzeitig ihre Grenzen zu erkennen.
Das ist die grosse Herausforderung in der modernen Führung – in der Familie wie auch in Betrieben: zwischen Wünschen und Bedürfnissen unterscheiden zu können. Idealerweise bringt man auch den Kindern diese Unterscheidung bei. Doch viele Kinder wissen nicht einmal, was sie wollen. Fragt man sie danach, geben sie einem an, worauf sie Lust haben. Doch das ist nicht dasselbe. Lernen sie diesen Unterschied bis zur dritten Klasse nicht, kann es in der späteren Ausbildung zu Schwierigkeiten kommen, weil sie im Lustprinzip gefangen sind.
Wie sieht es mit den Wünschen heutiger, westeuropäischer Eltern aus – wie wollen diese ihre Kinder haben?
Eltern wollen seit jeher, dass ihre Kinder glücklich und erfolgreich sind. Was in den letzten Jahren dazugekommen ist, ist der Anspruch, perfekt sein zu müssen. Diese Perfektion fordern Eltern auch von sich selbst ein. Es ist eine Tendenz, die zu viel Schmerz, Frustration und Depressionen führt. Die Gesundheit der Gesellschaft leidet darunter mehr als unter dem Rauchen. Mein Elternmotto für 2016 lautet deshalb: «Gut genug ist das neue perfekt!»
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