Du sollst Dein Kind nicht loben
Dieses Buch zu lesen, ist ein eigenartiges Erlebnis. Erstens weil es, anders als viele andere Erziehungsratgeber, auf einer Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse fusst. Und zweitens weil es auf Konfrontation geht mit so ziemlich allem, was in herkömmlichen Erziehungsratgebern steht und was die Verhaltenstherapie, das wohl verbreitetste Fachgebiet der Psychotherapie, rät. Schon nach wenigen Seiten ertappt man sich dabei, ganze Passagen fett zu unterstreichen. Mehr als einmal möchte man diesen oder jenen Satz grossformatig ausdrucken und an die Wand hängen, um ihn nie wieder zu vergessen. Dann wieder versinkt man in tiefe Grübeleien darüber, ob man vielleicht alles, wirklich alles mit Kindern falsch macht.
Alfie Kohn beschränkt sich nicht darauf, unser Verständnis von Erziehung infrage zu stellen, er fordert unseren Blick auf die Gesellschaft als Ganzes heraus (weshalb das Buch auch für Nichteltern lesenswert ist und für solche, deren Kinder bereits erwachsen sind). Das Buch ist ein dreihundert Seiten dickes Argumentarium dafür, dass nicht nur Bestrafungen, sondern auch Belohnungen aus der Erziehung verbannt werden müssen: weil sie nicht nur unnütz, sondern sogar kontraproduktiv sind. Und vor allem weil sie die Beziehung zu unseren Kindern untergraben.
Kohn, geboren 1957, Vater zweier Kinder, ist vermutlich der schärfste, fundierteste Kritiker unseres Bildungssystems; sein Ansatz steht in der Tradition vieler Vertreterinnen und Vertreter progressiver Erziehungs- und Bildungsmethoden wie John Dewey, Alice Miller und Jean Piaget, er aber ist als One-Man-Show unterwegs. Hält Vorträge, tritt in Oprah Winfreys Talkshow auf, schreibt Bücher. Sein Daheim in Belmont, einem Vorort von Boston, ein zweistöckiges Haus im Kolonialstil, ist zugleich sein Büro.
Herr Kohn, meine Tochter wird bald drei. Warum schade ich ihr, wenn ich sie dafür lobe, dass sie ein schönes Bild gemalt hat?
Alfie Kohn: Weil Lob eine verbale Belohnung ist und Belohnungen ganz grundsätzlich falsch sind.
Sie verstehen sicher, dass es erst mal schwerfällt, das zu glauben.
Ich weiss. Lassen Sie es mich so sagen: Es gibt zwei Strategien, wie Menschen mit mehr Macht versuchen, Menschen mit weniger Macht zum Gehorchen zu bewegen. Eine ist das Bestrafen von Ungehorsam, die andere ist das Belohnen von Gehorsam. Beide beruhen auf demselben Prinzip. Bei einer Bestrafung sage ich dem Kind: «Tu dies, oder ich tue dir das an.» Ich signalisiere, es absichtlich unglücklich zu machen, damit es sein Verhalten ändert. Bei einer Belohnung sage ich: «Tu dies, und du bekommst das.» Eine Bestrafung stellt das Kind vor die Frage, was ihm widerfährt, wenn es nicht tut, was ich verlange. Eine Belohnung stellt es vor die Frage, was es bekommt, wenn es tut, was ich verlange. Beides mündet in Folgsamkeit, aber zu einem hohen Preis.
Was ist der Preis?
Viele denken, es gebe eine bestimmte Sache namens Motivation, von der Menschen viel, wenig oder gar nichts besitzen können. Doch es gibt verschiedene Arten davon. In der Psychologie unterscheidet man zwischen intrinsischer Motivation, was bedeutet, dass einem das, was man tut, aus sich heraus Freude bereitet, und extrinsischer Motivation, was bedeutet, dass man etwas tut, weil man eine Bestrafung fürchtet oder eine Belohnung erwartet.
Sie halten extrinsische Motivation für problematisch?
Oh ja. Sie ist nicht nur ineffizient, sondern auch zerstörerisch. Eine Studie hat Folgendes gezeigt: Wenn Kinder belohnt werden, weil sie ein Buch lesen, betrachten sie das Lesen in Zukunft nicht als etwas an sich Wertvolles, sondern als etwas, das sie tun müssen, um noch einmal dieselbe Reaktion von einem Erwachsenen zu bekommen. Von anderen Untersuchungen weiss man, dass Kinder, die für ihre Hilfsbereitschaft Lob erfahren, dazu tendieren, in Zukunft weniger grosszügig und mitfühlend zu sein. Sie lernen, dass Belohnung der einzige Antrieb ist, sich so und nicht anders zu verhalten.
Bisher dachte ich, Lob steigere das Selbstwertgefühl meiner Tochter.
Das ist der verhaltenstheoretische Ansatz. Behavioristen glauben, ein Kind werde generell motivierter, je öfter es gesagt bekommt: «Gut gemacht!» Dabei nimmt nur die extrinsische Motivation zu, und die ist nicht nur minderwertig und der intrinsischen unterlegen, sondern sie untergräbt diese auch noch. In dem Mass, wie die extrinsische Motivation steigt, sinkt meist die intrinsische Motivation. Je mehr jemand dafür belohnt wird, etwas zu tun, umso wahrscheinlicher ist, dass er das Interesse verliert an dem, was er tun musste, um die Belohnung zu bekommen.
Das lässt sich so allgemein festhalten?
Natürlich gibt es bei einer Verkürzung psychologischer Erkenntnisse auf einen Satz Einschränkungen und Ausnahmen. Doch die grundlegende Aussage ist von einer Vielzahl von Studien an Menschen unterschiedlichen Alters, Geschlechts und kulturellen Hintergrunds bewiesen worden: Belohnung und Bestrafung sind eine Form von Kontrolle mit einem langfristig in jedem Fall negativen Effekt. Wissen Sie, was die schlimmste Form von Kontrolle ist?
Nein.
Wenn Sie eine Bestrafung als Belohnung formulieren: «Du kriegst erst Dessert, wenn du dein Gemüse aufgegessen hast!» Am Esstisch sind Eltern ja besonders destruktiv. «Sei still! Iss nicht mit den Händen! Sitze aufrecht!» Bei diesem Thema ist die zerstörerische Kraft von Belohnungen eindrücklich belegt. Eine der ersten Studien einer Forscherin, die sich damit eingehend befasst hat, drehte sich um ein Getränk namens Kefir, ein dickflüssiges Sauermilchprodukt. Die Forscherin hatte es ausgewählt, weil die Kinder es mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht kannten. Die Kinder in der ersten Gruppe wurden einfach gebeten, Kefir mal zu probieren. Die Kinder in der zweiten Gruppe wurden gelobt, wenn sie es probierten. Und die Kinder in der dritten Gruppe bekamen eine Belohnung, eine Tüte Süssigkeiten oder ein Kinoticket. Was denken Sie: Welche Kinder tranken besonders viel Kefir?
Die in der zweiten und dritten Gruppe.
Richtig. Aber darum ging es der Forscherin nicht. Sie wollte wissen, wie die Kinder eine Woche später über Kefir denken. Die Kinder der ersten Gruppe mochten ihn geringfügig lieber. Aber jetzt kommts: Ohne Aussicht auf eine Belohnung wollten die Kinder in der zweiten und dritten Gruppe es nicht mehr anrühren. Die einmalige Erfahrung, gegen Belohnung ein unbekanntes Getränk zu versuchen, machte Kefir in ihren Köpfen zu etwas, das sie aus eigenem Antrieb auf keinen Fall trinken würden.
«Kinder wollen gelobt werden, wenn sie die bedingungslose Liebe, die sie sich eigentlich wünschen, nicht bekommen. Die Botschaft, die das Kind mit Lob verbindet, lautet: Ich muss immer wieder ein schönes Bild malen, um geliebt zu werden.»
Wenn ich meine Tochter lobe, verändere ich also die Natur ihrer Beweggründe.
Genau. Und Belohnungen sind noch aus einem weiteren Grund destruktiv, das ist nun die wirklich schlechte Nachricht: Sie stehen für eine an Bedingungen geknüpfte Liebe. Sie signalisieren dem Kind, sein Verhalten bestimme unsere Gefühle ihm gegenüber. Lieben wir unsere Kinder dafür, was sie tun, oder dafür, wer sie sind? Das ist ein wichtiger Unterschied. Die erste Art von Liebe ist an Bedingungen geknüpft, das heisst, Kinder müssen sich unsere Liebe verdienen. Die zweite Art von Liebe ist bedingungslos: Sie hängt nicht davon ab, wie sie sich verhalten, ob sie erfolgreich sind oder gute Manieren haben.
Die meisten Eltern würden sagen, dass sie ihre Kinder bedingungslos lieben.
Oh, aber natürlich. Bloss spielt das keine Rolle, wenn sich die Kinder nicht auch tatsächlich bedingungslos geliebt fühlen. Es geht nicht darum, was wir unseren Kindern zu geben glauben, sondern darum, wie das bei ihnen ankommt. Darum ist es so wichtig, als Eltern die Perspektive wechseln zu können, sich zu fragen: Wie wirkt das, was ich gerade getan habe, auf mein Kind?
Können Sie ein Beispiel geben?
Angenommen, Ihre Tochter weigert sich, schlafen zu gehen, obwohl es schon spät und sie eigentlich müde ist. Gut möglich, dass sie Ihrer Aufforderung Folge leistet, wenn Sie ihr damit drohen, ihr keine Gutenachtgeschichte zu erzählen oder im Bett nicht mit ihr zu kuscheln. Aus Angst, dass Sie auf Distanz zu ihr gehen, macht sie, was Sie ihr sagen. Doch selbst wenn die Massnahme kurzfristig zu funktionieren scheint, ist sie der Gesamteffekt negativ. Erstens wirkt das, was Sie vielleicht als Lektion für Ihre Tochter ansehen, in ihren Augen wie ein Liebesentzug. Und zweitens berücksichtigt die Lektion nicht, was im Kopf Ihrer Tochter vorgeht: Vielleicht hat sie ein tiefes Bedürfnis, noch etwas Zeit mit Ihnen zu verbringen, weil Sie den ganzen Tag weg waren. Indem Sie auf irgendwelchen Regeln beharren, weigern Sie sich, Ihrer Tochter zu geben, was sie in dem Moment am meisten braucht. Darf ich Ihnen eine Frage stellen?
Gern.
Welche Worte kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie beschreiben müssten, wie Sie sich Ihre Tochter wünschen, wenn sie erwachsen ist?
Ich möchte, dass sie glücklich ist. Unabhängig, selbstbewusst, liebevoll, interessiert, ausgeglichen …
Ähnliches höre ich von Eltern in meinen Workshops. Ich frage sie dann oft, worüber sie sich freuen würden, wenn sie jemand anderes über ihr Kind sprechen hörten. Ich hoffe, es ist nicht der Satz: «Mensch, dieses Kind tut alles, was man ihm sagt, und macht nie einen Mucks!» Aber wissen Sie was? Häufig verhalten sich Eltern so, als wäre es genau das, was sie wollen. Sie belohnen und bestrafen, weil es ihnen um gutes Benehmen geht. Und nicht darum, dass aus ihren Kindern fürsorgliche, kreative oder neugierige Menschen werden.
Wenn Lob allem zuwiderläuft, was wir uns auf lange Sicht für unsere Kinder wünschen – warum tun wir es trotzdem so oft?
Erstens weil wir glauben, dass die einzige Alternative dazu ist, ein Kind nicht zu lieben. Zweitens weil es zur Gewohnheit wird, wenn alle um uns herum dieselbe Strategie anwenden. Und drittens weil es «funktioniert», zumindest kurzfristig – wir kriegen unsere Kinder dazu zu tun, was wir verlangen. Doch wir haben die Verantwortung, ihre Abhängigkeit nicht um unserer eigenen Bequemlichkeit willen auszunutzen.
Sie zögern?
Eigentlich gibt es noch einen vierten Grund, aber dazu muss ich ausholen. Die Wissenschaft untersucht seit etwa den 1950er-Jahren verschiedene Erziehungsmethoden. Damals neigten Forscherinnen und Forscher dazu, das, was Eltern taten, in zwei Kategorien einzuteilen: Beruhte es auf Macht oder auf Liebe? Auf Macht beruhende Erziehungsmethoden umfassten Schlagen, Schreien, Drohen. Auf Liebe beruhende Erziehungsmethoden umfassten alles andere. Schnell stellte man fest, dass Macht zu schlechteren Ergebnissen führte als Liebe. Doch es gab ein Problem: Zu den auf Liebe beruhenden Methoden zählte man auch solche, die alles andere als liebevoll waren. Darunter das Vorgehen, Kontrolle über Kinder auszuüben, indem man ihnen Liebe entzieht, wenn sie sich schlecht benehmen, und sie mit Zuneigung und Aufmerksamkeit überhäuft, wenn sie sich gut benehmen. Das sind die zwei Gesichter des an Bedingungen geknüpften Erziehungskonzepts: Liebesentzug und positive Verstärkung. Peitsche und Zuckerbrot.
Ist nicht jedes Kind süchtig nach Lob?
Nein! Kinder wollen gelobt werden, wenn sie die bedingungslose Liebe, die sie sich eigentlich wünschen, nicht bekommen. Das ist, wie Durst mit Salzwasser stillen: Auf lange Sicht macht es das Problem grösser. Die Botschaft, die das Kind mit Lob verbindet, lautet: Ich muss immer wieder ein schönes Bild malen, um geliebt zu werden. Verwechseln Sie nicht Lob mit Ermutigung. Lob ist eine Beurteilung, eine Bewertung.
Ich kenne viele Leute, die sagen, sie hätten sich als Kind mehr Lob von den Eltern gewünscht.
Sagen Sie diesen Leuten, dass sie sich täuschen. In Wahrheit hätten sie geliebt werden wollen für die Person, die sie sind. Aber wenn der einzige Ausdruck für Liebe und Anerkennung, den ein Kind kennt, darauf gründet, dass es etwas Bestimmtes getan hat, dass es gute Noten hat oder erfolgreich ist im Sport, dass es hübsch ist, lustig oder freundlich – dann will es immer mehr davon. Kinder brauchen unsere Wärme, unsere Aufmerksamkeit, unsere Umarmung. Sie müssen wissen, dass wir stolz auf sie sind, selbst wenn sie Fehler machen oder wütend sind.
Wir wollen gelobt werden von der Chefin, lechzen in den sozialen Medien nach Likes, streben nach immer mehr Anerkennung. Eine Belohnung zu erhalten für etwas Geleistetes, ist das wesentliche Prinzip unserer Welt.
Es ist schon möglich, dass wir glauben, Kinder wollen gelobt werden, weil wir uns das für uns selbst so sehr wünschen. Ich beschäftige mich seit drei Jahrzehnten mit der Funktionsweise von Belohnungen, und wenn ich dabei eines gelernt habe, ist es, dass es dabei immer um Macht geht. Bei Belohnungen, auch bei Lob, handelt es sich um etwas, das Leute mit mehr Macht Leuten mit weniger Macht geben. Dass Kinder ihre Eltern loben, Schüler ihre Lehrerinnen, Angestellte ihre Chefs – das geschieht kaum. Lob ist ein Top-down-Ansatz, das sollte uns ganz grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Konzept machen.
Was wäre besser?
Die Alternative zu Lob, zu Belohnung, Bestrafung und Kontrolle ist Respekt. Und Bedingungslosigkeit. Ich verstehe, dass sich viele Leute erst mal lustig machen, wenn sie mit meinen Ideen konfrontiert werden. Sie sagen, ich propagiere eine Laisser-faire-Erziehung, bei der man die Kinder tun lässt, was sie wollen. Oder sie fragen mich: «Ach, Sie wollen kein Lob für Ihr Buch?» Es ist leichter, meine Vorschläge zu karikieren, als sich wirklich mit ihnen auseinanderzusetzen. Natürlich sage ich nicht, Kinder sollten gleich viel Mitspracherecht haben wie Eltern. Aber auch nicht so wenig wie bisher. Das Konzept von Belohnung und Bestrafung herauszufordern, bedeutet, sich zu fragen: Warum gibt es diese Dinge immer noch? Wer profitiert davon? Wir geben vor, wegen unserer Kinder zu solchen Massnahmen zu greifen, aber in Wahrheit tun wir es für uns selbst.
Aber was sollen wir denn dann tun?
Ich halte nichts von Handlungsanweisungen, wie man sie aus vielen Erziehungsratgebern kennt: Wenn Ihr Kind A tut, tun Sie B. Es geht um Grundsätzliches: Wir dürfen die Erziehung unserer Kinder nicht als Kampf verstehen.
Ich glaube, dass es mir trotzdem leichter fiele, Ihre Überlegungen zu verstehen, wenn Sie an einem Beispiel sagen könnten, wie ich mich konkret verhalten soll.
Einverstanden.
Was soll ich tun, wenn meine Tochter mir ihre Zeichnung zeigt und mich erwartungsvoll anschaut?
Es gibt drei konkrete Alternativen zu Lob. Erstens: Hören Sie zu, schauen Sie zu, seien Sie anwesend. Sie müssen wissen, dass das elterliche Verlangen, etwas zu sagen, oft gar nicht dem Bedürfnis des Kindes entspricht. Zweitens: Wenn Sie glauben, es sei angebracht, etwas zu sagen, können Sie das Bild beschreiben. «Oh, du scheinst die Farbe Blau gerade sehr zu mögen!» Oder: «Die Tiere haben ja Zehen. Die hatten sie letzte Woche noch nicht.» So bleiben Sie beim Bild, anstatt die Aufmerksamkeit Ihrer Tochter auf Sie zu lenken, indem Sie sagen: «Wow, toll gemacht!» Die dritte Alternative zu Lob besteht darin, Fragen zu stellen. Aber keine manipulativen, sondern solche, auf die Sie die Antwort nicht kennen. Sie können sagen: «Wie hast du gelernt, Zehen zu malen?» So helfen Sie Ihrer Tochter, ihre Motive zu reflektieren.
Und im umgekehrten Fall? Wie reagiere ich, wenn mein Kind einem anderen Kind Sand ins Gesicht wirft?
Was Sie auf keinen Fall tun sollten, ist, Ihr Kind zwingen, sich zu entschuldigen.
Eine verbreitete Erziehungsmethode, wie man täglich auf Spielplätzen beobachten kann.
Mit der Folge, dass das Kind erstens keine Reue empfindet und zweitens lernt, dass Lügen in Ordnung ist. Es geht uns so sehr darum, was das Kind tut, dass wir das Kind in seiner komplexen Ganzheit vergessen.
Was wäre die richtige Reaktion?
Versuchen Sie, dem Kind zu erklären, dass es dem anderen Kind Leid zugefügt hat – am besten, indem Sie es an eine eigene leidvolle Erfahrung erinnern. «Weisst du noch, wie du vor ein paar Tagen hingefallen bist und geweint hast? Ich fürchte, genau so fühlt sich jetzt das andere Kind.» Und dann sollten Sie dem Kind eine offen formulierte Möglichkeit bieten, Verantwortung zu übernehmen für sein Verhalten. «Was könntest du tun, damit es dem anderen Kind besser geht?» Wenn Sie Ihr Kind aber packen, ihm eine Entschuldigung aufzwängen und dann zur Strafe mit ihm nach Hause gehen, nehmen Sie ihm die Möglichkeit, moralisch zu wachsen. Jetzt geht es ihm nur noch um sich selbst. Es wird sich fragen: Was kann ich tun, damit ich von meinen Eltern nicht mehr bestraft werde? Es wird versuchen, nicht erwischt zu werden. Und es wird lügen. Kinder lügen, weil sie sich nicht in Sicherheit fühlen, wenn sie die Wahrheit sagen.
Was antworten Sie Eltern, die der Meinung sind, ein Fehlverhalten des Kindes müsse Konsequenzen haben?
Der Begriff «Konsequenzen» ist ein Euphemismus. Seien wir ehrlich: Es geht darum, das Kind zu bestrafen. Und Bestrafung funktioniert nicht. Was bei einer Bestrafung die Aufmerksamkeit des Kindes sicherstellt, ist Schmerz – und die Tatsache, dass jemand, von dem es abhängig ist, den Schmerz hervorgerufen hat. So entsteht die verzerrte Vorstellung, die Kinder vielleicht ihr Leben lang mit sich herumtragen, jemanden zu lieben bedeute auch, ihm Schmerz zuzufügen. Darüber hinaus ist Bestrafung ein Vorbild für den Gebrauch von Macht und verliert mit der Zeit ihre Wirksamkeit. Sie untergräbt die Beziehung zu unseren Kindern, macht sie egozentrischer. Kinder, die bestraft werden, neigen dazu, Vertrauen abzubauen und ihre Eltern eher als Sittenwächter wahrzunehmen statt als fürsorgliche Verbündete. Selbst wenn wir «gewinnen», verlieren wir. Wenn wir Kinder durch Gewalt, Drohungen oder Strafen zum Gehorchen bewegen, kommen sie sich hilflos vor, ein Gefühl, das sie nicht ausstehen können. Also provozieren sie eine weitere Konfrontation, um zu beweisen, dass sie noch eine gewisse Macht haben. Und von wem lernen sie, diese Macht zu benutzen? Von uns.
Angenommen, meine Frau und ich möchten das bedingungslose Erziehungskonzept umsetzen. Wie gehen wir vor?
Zuallererst müssen Sie akzeptieren, dass es dafür viel mehr Zeit, Umsicht und Talent braucht, als ein Kind auf herkömmliche Weise zu erziehen. Es ist schwerer, dafür zu sorgen, dass sich unsere Kinder bedingungslos geliebt fühlen, als sie nur zu lieben. Was Sie vielleicht aber am meisten benötigen, ist Mut. Von den dreizehn Grundsätzen, die ich in «Unconditional Parenting» formuliere, handelt der wichtigste davon, unser Verhalten zu hinterfragen. Die meisten Erziehungsratgeber lassen diesen Schritt aus, sie setzen einfach voraus, dass das, was Eltern wollen, automatisch legitim ist.
Das bedingungslose Erziehungskonzept stellt vieles von dem, was wir tun, infrage – und möglicherweise auch das, was mit uns getan wurde, als wir selbst klein waren. Es ist sinnlos, sich zu fragen, wie man bessere Eltern werden könnte, ohne zu überlegen, inwieweit die Erziehung, die man selbst erfahren hat, das eigene Sein prägt. Die polnisch-schweizerische Psychoanalytikerin Alice Miller, eine der Grossen ihres Fachs, schrieb einmal: «Viele Menschen geben die einst erfahrene Grausamkeit an andere weiter und erhalten dadurch das idealisierte Bild ihrer Eltern.»
Was sollen wir tun, wenn die Welt um uns herum – die Schule, der Sportverein, die Gesellschaft – unserer Tochter das Gegenteil dessen lehrt, was wir ihr beibringen?
Am wichtigsten ist, alles zu tun, damit Ihre Familie ein sicherer Hafen ist, wo Ihr Kind Schutz findet vor der Erbarmungslosigkeit der Marktwirtschaft. Und wer sagt denn, dass Sie dem System hilflos ausgeliefert sind? Die Art, wie an Schulen unterrichtet wird, ist nicht gottgegeben wie das Wetter. Sie müssen sich dem Schulsystem doch nicht einfach so unterwerfen! Das System wurde von Menschen gemacht, oft aus nicht besonders guten Gründen, und jeder von uns kann das ändern. Organisieren Sie sich, mobilisieren Sie Gleichgesinnte, tauschen Sie sich aus!
Könnte es sein, dass das bedingungslose Erziehungskonzept Kinder nicht unbedingt fit macht für die Arbeitswelt, für die Realität?
Im Gegenteil. Kinder, die von ihren Eltern bedingungslos geliebt werden, verfügen über die Sicherheit, die Gesellschaft, an der sie teilnehmen, kritisch zu durchleuchten. Sie streben nicht blind nach einem Chefposten in irgendeiner Firma, sondern besitzen die Fähigkeit, sich Gedanken zu machen. Sie sehen, wo etwas falsch läuft – und haben die Kraft, sich zu fragen: Wie könnte das besser funktionieren? Das ist doch ein himmelweiter Unterschied zu einem Kind, das mit Belohnungen und Bestrafungen gross wird und in der Schule Dinge auswendig lernt, bloss um eine gute Note zu erhalten. Ein solches Kind reproduziert als Erwachsener die schlimmsten Aspekte unserer Gesellschaft, weil es nie die Erfahrung gemacht hat, dass es auch Alternativen gibt.
Sind Sie einverstanden, wenn ich sage, das bedingungs-lose Erziehungskonzept sei zutiefst antikapitalistisch?
Mit zwei Einschränkungen. Manche Formen des Kapitalismus sind weniger schädlich als andere. Und: Man muss kein Antikapitalist sein, um einzusehen, dass das, was ich sage, richtig ist.
Dann stelle ich Ihnen eine typisch kapitalistische Frage: Wenn Menschen in allen Lebensbereichen bedingungslos geliebt würden – hätten sie dann noch denselben Drang, erfolgreich zu sein?
Es ist eine irrige Annahme zu glauben, dass Menschen keinen Grund haben, etwas zu leisten, wenn sie in der Überzeugung aufgewachsen sind, grundsätzlich kompetent zu sein. Das wird von allem widerlegt, was man aus der Motivationspsychologie weiss. Ich wüsste nicht, warum jemand, der glücklich und zufrieden ist, keinen Drang verspüren sollte, mehr über sich und die Welt zu erfahren oder eine Arbeit zu tun, auf die er stolz ist. Es gibt auch wirklich nicht den Hauch eines Beweises dafür, dass man sich elend fühlen oder eine innere Leere empfinden muss, um etwas zu erreichen. Im Gegenteil: Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl fällt es leichter, mutige Entscheide zu treffen, Risiken einzugehen, neue Sachen zu versuchen.
Sie sind Vater zweier Kinder. Können Sie sich an Momente erinnern, in denen es Ihnen schwerfiel, das bedingungs-lose Erziehungskonzept auch wirklich zu leben?
Unsere Kinder sind erwachsen, meine Frau und ich geschieden. Die grösste Herausforderung für mich als Vater bestand darin, Geduld zu haben – nicht mit meinen Kindern, sondern mit mir selbst. Es braucht Zeit und Kraft, das Erziehungskonzept in jener Tiefe umzusetzen, wie ich es als nötig erachte. Aber nichts, was wir in unserer Familie erlebt haben, hätte mich diesen Weg je infrage stellen lassen.
Ich habe mich in meinem Freundeskreis umgehört: Darf ich Sie zum Schluss bitten, sich kurz einige Erziehungsprobleme von Schweizer Eltern anzuhören?
Ich habe mich von Ihnen bereits einmal dazu verleiten lassen, konkrete Handlungsanweisungen zu geben. Dann kann ich das auch nochmals tun.
Erstes Problem: «Unser Kind verbringt zu viel Zeit im Internet.»
Ich antworte in drei Punkten. Erstens: Manche Dinge im Internet sind besser als andere. Zweitens: Ist das Kind im Internet, weil es dort etwas für sich Wertvolles findet, einen provokativen Gedanken zum Beispiel oder Kontakt zu Freunden? Oder ist die Zeit, die es am Computer verbringt, Symptom eines grösseren Problems im Leben des Kindes? Und drittens: Wenn Sie eine Regel aufstellen wollen, wie viele Stunden täglich das Kind im Internet verbringen darf, ist die Chance, dass das Kind die Regel akzeptiert, ungleich grösser, wenn es bei der Ausarbeitung der Regel mitdiskutieren darf. In zehn Jahren, wenn das Kind erwachsen ist, wird nicht die Zeit, die es damals im Internet verbracht hat, von Bedeutung sein, sondern die Frage, wie mit ihm umgegangen wurde, als seine Eltern fanden, es starre bloss noch in den Computer.
Zweites Problem: «Mein Kind will ans Gymnasium, aber ich sehe, dass der Notendruck es fertigmacht.»
Ist das Gymnasium denn wirklich das Ziel des Kindes? Es gibt einen grossen Unterschied zwischen intrinsisch motivierten Zielen und internalisierten Zielen. Im Sekundarschulalter haben viele Kinder die Ziele, die ihre Eltern für sie haben, derart verinnerlicht, dass sie glauben, es seien ihre eigenen. Sie waren so lange den Erwartungen ihrer Eltern ausgesetzt, dass sie sich den Druck von selbst machen. Das ist der Moment, wenn die Eltern sagen: Wie wundervoll, dass unser Kind von sich aus motiviert ist, ans Gymnasium zu wollen! Ich halte das für gefährlich, es ist die Vorbereitung auf ein Leben als Workaholic. Gut möglich, dass das Kind es ans Gymnasium schafft. Aber ohne Freude. Und möglicherweise mit hohen emotionalen und intellektuellen Kosten. Die Frage, die ich den Eltern stellen würde: Wie viel Schaden sind Sie bereit, Ihrem Kind zuzufügen?
Drittes Problem: «Mein Kind will kein Gemüse essen.»
Da möchte ich fragen: warum? Es gibt viele Wege, Kinder zu ermutigen, Gemüse zu essen. Indem man ihnen Gemüse wiederholt vorsetzt. Indem die Eltern selbst jeden Abend Gemüse essen. Indem man das Gemüse schmackhaft zubereitet statt bloss im Dampfkochtopf. Was nicht funktioniert, ist klar: das Aufessen des Gemüses zur Bedingung fürs Dessert zu machen. Tun Sie das nie! Die Realität ist doch: Ein Stück Brokkoli hat keine magischen Kräfte, mit denen sich die negativen Effekte von Schokoladekuchen auslöschen lassen. Wenn Ihr Kind in einem grundsätzlich gesunden Ernährungsumfeld aufwächst, wird es nie nötig sein, es zu zwingen, etwas Bestimmtes zu essen. Tun Sie es trotzdem, müssen Sie mit zwei Konsequenzen rechnen. Erstens wird das Kind das Gemüse bald noch weniger mögen. Und zweitens beschädigen Sie so nachhaltig die Beziehung zu Ihrem Kind.
Von Alfie Kohn auf Deutsch erhältlich: Der Mythos des verwöhnten Kindes – Erziehungslügen unter die Lupe genommen (Beltz, 2015).
Liebe und Eigenständigkeit – Die Kunst bedingungsloser Elternschaft, jenseits von Belohnung und Bestrafung (Arbor, 2010).
Christof Gertsch ist Reporter bei «Das Magazin»; christof.gertsch@dasmagazin.ch . Er möchte sich
bei den Macherinnen des Blogs kleinstadt.ch bedanken, wo er erstmals auf Alfie Kohn aufmerksam wurde.
Quelle: https://www.dasmagazin.ch/2019/11/22/du-sollst-dein-kind-nicht-loben/
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