«Ein Krippenbesuch ist erst im Alter von 2 bis 3 Jahren ideal»
Sie sagen, die Bindung zwischen Kind und Bezugsperson sei in der Schweiz praktisch in jedem zweiten Fall gestört. Warum geht denn so oft etwas schief in dieser grundlegenden Beziehung?
Bindungserfahrungen sind äusserst delikat. Es handelt sich um ein sehr fein austariertes Zusammenspiel: Da sind die Bedürfnisse des Säuglings, die er in Lautäusserungen, Wimmern, Weinen oder Schreien artikuliert; entscheidend sind nun ihre Wahrnehmung, ihre richtige Deutung und das prompte, angemessene Reagieren auf diese Bindungssignale. Die Bezugsperson muss mit feinfühligem Fürsorgeverhalten handeln. Das darf weder zu wenig noch zu viel sein.
So sollte die Bezugsperson das Kind halten und trösten, wenn es sich erschreckt hat, wickeln, wenn es nasse Windeln hat, oder füttern, wenn es hungrig ist. Was einfach klingt, gestaltet sich in der Realität häufig hoch anspruchsvoll – etwa durch ein schwieriges Temperament des Kindes oder durch die mangelnde Sensitivität der Bezugsperson, zum Beispiel wegen Müdigkeit oder Stress.
Was sind die Folgen einer gestörten Bindungssicherheit?
Lassen Sie es mich umgekehrt sagen: Die Bindungssicherheit ist ein Grundpfeiler für psychisches Wohlbefinden. Sie geht einher mit einem Urvertrauen in die anderen: mit dem Wissen, dass man versorgt wird, wenn man dies benötigt. Es ist die Überzeugung, dass man sich die Fürsorge der Bezugsperson mittels eigenen Verhaltens sichern kann. Dies führt zu einem soliden Selbstwert, hohen Sozialkompetenzen und einer höheren Beziehungsfähigkeit. Sicher gebundene Kinder sind sozialer, beliebter, in der Schule leistungsstärker und in späteren Paarbeziehungen zufriedener. Tatsächlich hat schon bei den Kleinsten die Bindungssicherheit – beziehungsweise ihre Störung – messbare Auswirkungen.
Welche sind das?
Bindungssicherheit wird häufig über die Verhaltensbeobachtung von Kindern im Alter von 1 oder 2 Jahren erfasst. Man untersucht die Reaktionen des Kleinkindes auf die Trennung und die Wiedervereinigung mit der Bezugsperson. Sicher gebundene Kinder legen bei der Trennung deutliche Kummerreaktionen an den Tag, sie weinen oder kriechen hinterher. Sie weinen ausserdem auch bei der Wiedervereinigung, lassen sich jedoch rasch durch die Bezugsperson beruhigen. Ihr Stress ist messbar im Cortisolspiegel, dieser erholt sich aber schnell nach der erneuten Interaktion mit der Bezugsperson.
«Rund 45 Prozent der Kinder hierzulande sind unsicher gebunden: Das lässt sich schliessen aus Metaanalysen.»
Und wie zeigt sich in diesem Test eine Bindungsstörung?
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder drücken kaum Trennungsleid aus, wenn die Bezugsperson geht. Sie wirken selbstständig und unbeteiligt und zeigen auch kaum Emotionen beim Wiedererscheinen der Bezugsperson. Sie vermeiden den Blickkontakt, drehen sich weg und spielen für sich. Sie interessieren sich mehr für die Spielsachen als die Bezugsperson. Ihr Cortisolspiegel ist langfristig erhöht.
Ängstlich-ambivalent gebundene Kinder wiederum reagieren hoch belastet bei Trennungen und zeigen wenig Erkundungsverhalten ohne die Bezugsperson. Bei der Wiedervereinigung äussern sie Wut und Ablehnung gegenüber der Bezugsperson, stossen sie weg, suchen gleichzeitig ihre Nähe und lassen sich nur schwer beruhigen. Auch sie zeigen physiologisch lang anhaltende Stressreaktionen. Rund 45 Prozent der Kinder hierzulande sind unsicher gebunden: Das lässt sich aus Metaanalysen schliessen.
Sind solche Bindungsstörungen ein Phänomen und eine Konsequenz unserer arbeitsteiligen und dauergestressten Gesellschaft?
Es gibt dazu unterschiedliche Befunde. Doch eins steht fest: Bei jenen Naturvölkern, bei denen die Säuglinge und Kleinkinder bei Bedarf häufigen und engen Körperkontakt zur Mutter haben, ist in der Tat eine höhere Bindungssicherheit feststellbar als bei uns. Und auch eine geringere Neigung zu Ersatzobjekten wie Plüschtieren oder Kuscheldecken.
Und der Stress, wie er in unserer Gesellschaft häufig vorkommt, spielt bei der Ausbildung einer Bindungsstörung durchaus eine Rolle: Wenn man abends müde nach Hause kommt, ist die Einfühlung gegenüber dem Kind zwangsläufig niedriger. Aber auch die Anzahl der Kinder und die Einstellung zu ihnen sind ausschlaggebend.
Inwiefern?
Bei mehr Kindern nimmt notwendigerweise die Zeit für das Einzelne ab, wodurch eben die Sensitivität eingeschränkt wird. Und bei der Einstellung spielt nachweislich eine Rolle, ob die Geburt des Kindes erwünscht war. Man verhält sich dann anders.
Wenn Sie den engen Körperkontakt zur Mutter hervorheben, sprechen Sie sich damit auch gegen den frühen Besuch der Kinderkrippe aus?
Das ist ein heisses Eisen.
Vielleicht ist das nicht opportun, doch Studien legen nahe: Ideal für den Start des Krippenbesuchs wäre das Alter von 2 bis 3 Jahren, da das Kind dann bereits eine sichere Bindung zu seinen primären Bezugspersonen aufbauen konnte und nun mit Gleichaltrigen neue Erfahrungen machen, Sozialkompetenzen erwerben kann. Man kann keine pauschalen Urteile über Nutzen oder Schaden der Krippenbetreuung fällen.
So kommt es auf die Gestaltung der Eingewöhnungsphase an, die Qualität der Krippe, die Konstanz der Betreuerinnen, die Dauer des Aufenthalts und viele weitere Variablen. Krippenbetreuung kann auch protektiv für ein Kind sein, wenn es etwa zu Hause Gewalt erfährt, die Eltern an einer psychischen Störung leiden oder zeitlich nicht in der Lage sind, ihm angemessene Bindungserfahrungen zu ermöglichen.
«Kindern eine sichere Bindung zu ermöglichen, ist eine lohnende Investition für eine gesunde Entwicklung.»
Welche Betreuungsformen funktionieren am besten?
Das kann unterschiedlich aussehen, von der Betreuung durch die Eltern, Grosseltern, eine verlässliche Tagesmutter, eine gute Krippe oder Kombinationen aus diesen Möglichkeiten. Wichtig ist immer, dass die eigenen Bedürfnisse und diejenigen des Kindes im Blick behalten werden und dass sie kompatibel sind, damit sich das Betreuungskonzept auch längerfristig als tragfähig erweist.
Welche Rolle spielt angesichts der vielen bindungsgestörten Kinder die Primarschule?
Einerseits muss man wissen, dass der individuelle Bindungsstil recht stabil ist: Über 70 Prozent der Kinder, die man als Einjährige einem Bindungsstil zugeordnet hat, weisen diesen auch nach 20 Jahren noch auf! Allerdings können ursprünglich sicher gebundene Kinder durch kritische Ereignisse wie beispielsweise eine Scheidung oder eine schwere Erkrankung der Eltern, durch Missbrauchserfahrungen, Krieg oder Migration einen unsicheren Bindungsstil entwickeln.
Umgekehrt können auch unsicher gebundene Kinder durch die Erfahrung konstanter, verlässlicher, sensitiver Bindungen mit neuen Bezugspersonen eine sichere Bindung aufbauen. An dieser Stelle kommt auch Lehrpersonen eine wichtige Bedeutung zu. Knapp die Hälfte der Kinder in der Schweiz hat eine Bindungsstörung – aber nur rund jedes fünfte Kind eine weitere psychische Störung. Eine unsichere Bindung macht dafür zwar anfälliger, aber es gibt auch schützende Faktoren und Resilienzfaktoren. Wie gute Lehrer.
Man kann eine Bindungsstörung also heilen?
Bindungsunsicherheit kann bei langjährig günstigen neuen Erfahrungen korrigiert werden. Dennoch: Die Korrektur ist immer viel aufwendiger und ihr Ausgang ungewisser, als wenn man bereits zu Beginn förderliche Bedingungen schafft. Der Einsatz lohnt sich aber allemal: Es gibt eine ganze Reihe neuer spannender Forschungsergebnisse zum Phänomen Bindung – und zu den aus meiner Sicht relevantesten Erkenntnissen zählt, dass Kinder mit einem genetischen Risiko für die Entwicklung einer Störung bei einer hohen Einfühlungsfähigkeit der Bezugsperson tatsächlich nicht mehr psychische Probleme ausbilden als Kinder, die dieses Risiko nicht haben.
Anders gesagt: Die Sensitivität der Bezugsperson kann ein genetisches Störungsrisiko kompensieren. Kindern eine sichere Bindung zu ermöglichen, ist eine lohnende Investition, da sie das Fundament für eine gesunde Entwicklung darstellt
Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/ein-krippenbesuch-im-alter-von-2-bis-3-jahren-ist-ideal/story/16806946
«Bindung – was die Welt zusammenhält»: So titelte unlängst eine Tagung am Psychologischen Institut der Universität Zürich, die Guy Bodenmann als Lehrstuhlinhaber organisierte. Das Themenspektrum des Symposiums gab einen Einblick in die aktuelle Bindungsforschung: Es reichte von «Bindung und Hirnentwicklung» über «Bindung und kindliches Befinden» (Bodenmanns Tagungsthema) und «Bindungsorientierungen in Kindereinrichtungen» bis hin zu «Die Relevanz von Bindung im Therapiekontext» und «Sichere Bindung und mentale Offenheit für die Welt».
Die Vorträge unterstützten Bodenmanns Ansatz, die Gesundheit des Kindes aus einer, wie er sagt, «interpersonellen» Perspektive zu betrachten. Bindung sei überlebenswichtig, die Befriedigung der physiologischen Bedürfnisse nach Sicherheit, Nahrung und Hygiene reichten für eine gesunde Entwicklung nicht aus, der Mensch bedürfe auch emotionaler Nahrung, um zu gedeihen – Liebe, Geborgenheit, Zugehörigkeit. Grundzüge der Bindung würden in der frühen Kindheit gelegt und ein Leben lang weiter ausgeformt und modifiziert.
Guy Bodenmann schloss 1995 das Doktorat in Klinischer Psychologie an der Universität Fribourg ab. Er amtet als Präsident der Akademie für Verhaltenstherapie im Kindes- und Jugendalter sowie als Direktor der Praxisstelle für Paartherapie und der Praxisstelle für Kinder- und Jugendpsychotherapie am Psychotherapeutischen Zentrum der Universität Zürich. (ked)
Guy Bodenmann: Lehrbuch Klinische Paar- und Familienpsychologie. Hogrefe, Göttingen 2016. 416 S., ca. 66 Fr.
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
- Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler – Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung
- Alfred Adler – Aus der Nähe porträtiert
- Alfred Adler Panorama: Eine Würdigung des grossen Psychologen und Begründer der Individualpsychologie
- Alfred Adler und die Individualpsychologie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Alfred Adler: Die andere Seite - Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes
- Alfred Adler: Die Angst
- Alfred Adler: Understanding Human Nature - Menschenkenntnis (1927)
- Alfred Adlers Persönlichkeitstheorie kurz erklärt
- Alfred Adlers psychagogisches Wirken, am Beispiel eines Schulversagers einfach erklärt
- Auszug aus «Gestalten um Alfred Adler - Pioniere der Individualpsychologie»
- Auszüge aus Alfred Adler-Panorama und weitere Beiträge
- Bhadrakumar: Ein Jahrestag, den der Westen lieber vergessen würde
- Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit
- Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie
- Die Bedeutung des psychologischen Beratungsgespräches zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Die Familie als Schule des Lebens
- Die Kopernikanische Wende und ihre Bedeutung für die Psychologie
- Flieg wie ein Adler, Darya Dugina / Fly Like An Eagle, Darya Dugina !
- Friedrich Lieblings Schule im Winter auf Gran Canaria - Eine Reportage
- Revolutionäre Wandlungen im psychiatrischen Denken der Gegenwart
- Schlaglicht auf den toten Winkel
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Soziale Psychologie
- Wie und mit wem können wir die Gesellschaft umgestalten?
- Zum 150. Geburtstag Alfred Adlers: die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie
- Zur Bedeutung Alfred Adlers
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- «Einsamkeit ist eine Epidemie»
- Das Jungfernhäutchen: Ein Mythos lebt weiter
- Der Minister, der nicht sprechen wollte
- «Wenn ich nur dieses eine Buch geschrieben hätte …»
- «Ein Krippenbesuch ist erst im Alter von 2 bis 3 Jahren ideal»
- Im Dschungel des Internets
- Wilhelmine von Hillerns Roman «Geier-Wally»
- Kinder brauchen Urvertrauen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Du sollst Dein Kind nicht loben
- Warum ADHS keine Krankheit ist – Eine Streitschrift
- Wir ermutigen Eltern, bis zur achten Klasse mit dem Smartphone zu warten
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Erziehung zur Medienkompetenz
- Über die Bedeutung der Erziehung
- Die «Tablet»-Familie
- Lehrer gehen juristisch gegen filmende Schüler vor
- Was sind Rabeneltern?
- «Hört auf, die Kinder zu loben»
- Den Kindern den Weg ins Leben zeigen
- Kinder und Jugendliche stark für den Umgang mit Medien machen
- Säuglinge in Kinderkrippen – Ein interessanter Briefwechsel mit einer Mutter
- Die seelische Entwicklung unserer Kinder und das audiovisuelle Angebot