Das Jungfernhäutchen: Ein Mythos lebt weiter
da musste ich alt werden, bevor ich etwas Vernünftiges in einer vernünftigen Zeitung über einen Sachverhalt las, mit dem ich mich bislang nicht näher beschäftigt hatte. Warum eigentlich? Wahrscheinlich ist das Jungfernhäutchen ein (unbewusstes) Tabuthema. Jedenfalls bin ich der Journalistin dankbar, dass sie sich dem Thema wissenschaftlich angenommen hat und staunte, als ich den Begriff «Theogynäkologie» sah und darüber nachdachte, dass hier ein treffender Begriff verwendet wird, der die mystische Betrachtungsweise auf diesem Gebiet zum Ausdruck bringt. Wie wäre es, wenn wir diesen Begriff etwas näher beleuchten würden und ihn auch auf andere Wissensgebiete ausweiten würden? Zum Beispiel auf die Humanwissenschaften? So schlage ich in meinen alten Tagen gedanklich einen grossen Bogen vom kleinen «Jungfernhäutchen» zur grossen Frage unseres theo-logischen Menschenbildes. Herzlich Willy Wahl
Ein passendes Modell: der Haargummi.
Foto: Tonje Thilesen
«Viele denken so», sagt die Sexualpädagogin Linda Bär. Woche für Woche besucht sie Schulen in der Schweiz und klärt die Klassen unter anderem mithilfe eines Haargummis darüber auf, was das «Jungfernhäutchen» ist.
Eine Oberstufenschülerin habe kürzlich wissen wollen, ob ihr Jungfernhäutchen gerissen sei, nachdem sie zum ersten Mal einen Tampon eingeführt hatte, erzählt Linda Bär.
Die Sexualpädagogin spricht lieber weniger und führt vor, mit Sachen, die sie zur Hand hat. Von ihrem rechten Handgelenk streift sie sich einen dünnen Haargummi ab, streckt ihn hoch. Auf Augenhöhe, ein kleiner Kreis. Linda Bär fragt: «Kennen Sie die breiteren Haargummis? Die aus Samt? Stellen Sie sich so einen vor.» Sie führt ihren Daumen, Zeige- und Mittelfinger in die Mitte des Haargummis ein und spreizt ihre Finger. Er wird auseinandergezogen, weitet und dehnt sich so lange, bis sie die Finger wieder zusammenführt und er sich zusammenzieht und auf Anfangsgrösse zurückschrumpft.
Linda Bär sagt: «Dasselbe geschieht, wenn ein Tampon, ein Finger, ein Penis oder ein Sexspielzeug in die Vulva eingeführt wird».
An dieser Stelle in der Vulva ist nichts Straffes, hier befinden sich Schleimhautfalten, die ringförmig angeordnet sind, wie ein Kranz. Am meisten dehnt sich dieser vaginale Kranz beim Gebären. Das Jungfernhäutchen existiert nicht.»
Wieso glauben sehr viele Menschen dennoch, dass das «Jungfernhäutchen» reissen kann, reissen muss? Spätestens beim ersten Sex?
Die Kulturwissenschaftlerin Dr. Mithu Sanyal* spricht in ihrem Buch «Vulva – Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts» von einem tief verwurzelten Mythos. Dieser sei in der Religion wie auch der Medizin und deren Forschung zu finden.
«Theogynäkologie»
Für lange Zeit war im christlich geprägten Europa die Idee vorherrschend, dass die weiblichen Geschlechtsorgane ausschliesslich der Fortpflanzung dienen. Diese Vorstellung war von antiker Medizin geprägt, vor allem durch den römischen Arzt Galen, der bis etwa ins 17. Jahrhundert die Autorität für die europäische Gesundheitslehre war.
Für ihn war der Mensch das vollkommenste aller Tiere und innerhalb der Menschheit der Mann vollkommener als die Frau – gerade auch, was die Geschlechtsorgane betrifft. Galen schrieb: «Natürlich darf man nicht glauben, dass unser Schöpfer die Hälfte der ganzen Spezies absichtlich unvollkommen und, wie es der Fall ist, verstümmelt geschaffen hätte, wenn nicht in solch einer Verstümmelung irgendein grosser Vorteil läge.» Der Vorteil bestand laut dem Arzt darin, dass die Frau zur Unterordnung und zum Dienen gemacht sei.
Im mittelalterlichen Kompendium «Secreta Mulierum» (was sich in etwa mit «Die Geheimnisse der Frauen» übersetzen lässt), einem Nachschlagewerk der Medizin, ist nachzulesen, dass die Frau dem Mann beim Geschlechtsakt Wärme entzieht. Das führe dazu, dass der Mann schwach und debil werde, wenn er zu viel Sex mit Frauen habe.
Dies war die allgemeine Stossrichtung der mittelalterlichen Forschung. Ihr Hauptinteresse lag bei der «Gebärmutter», und es gab die Vorstellung, dass das Jungfernhäutchen den Penis davon abhalten würde, in den Uterus einzudringen.
Eine ganze Disziplin der Theologie, die «Theogynäkologie», wie Sanyal sie nennt, beschäftigt sich seitdem mit anatomischen Überlegungen, wie Maria, die Mutter Jesu, vor der Geburt, während der Geburt und nach der Geburt ein unverletztes Jungfernhäutchen behalten konnte.
Schliesslich ist Maria die einzige Frau, die ohne Mann, ohne Penis, ohne Samen, ohne künstliche Befruchtung ein Kind auf die Welt bringen konnte. Mit der Jungfrauengeburt begründen sich viele Christinnen und Christen die Göttlichkeit von Jesus. Jesus sei nicht durch einen Mann gezeugt worden, sondern durch den heiligen Geist.
Auf dem Mythos des Jungfernhäutchens gründet auch der Brauch, das weisse, aber blutbefleckte Bettlaken nach der Hochzeitsnacht auszuhängen, am besten über dem Fenstersims, in der Morgenstunde nach dem ersten Sex. Das Beweisstück der Entjungferung. Das Zeichen, dass dieser Mann diese Frau entjungfert hat und dass das zukünftige Kind nur von ihm stammen kann. Die Kontrolle über die Sexualität der Frau. Dieser Brauch hält sich in manchen Kulturkreisen bis heute.
Was sagt die Medizin dazu – heute? Laut der Gynäkologin Dr. Jutta Pliefke von pro familia Berlin bluten nur wenige Frauen beim ersten Sex. In der Broschüre «Mythos Jungfernhäutchen» des interkulturellen Frauen- und Mädchen-Gesundheitszentrums Holla e. V. sagt sie, dass der Grund, warum manche Frauen doch bluten, ein ganz anderer sei: Wenn eine Frau noch nie oder sehr lange keinen Sex hatte, sei sie wahrscheinlich nicht sehr entspannt. Beim ersten Mal würde man sich noch nicht so gut kennen. Da könne schon mal irgendwo etwas bluten. Mit dem «Jungfernhäutchen» habe das allerdings nichts zu tun.
Es gebe da keine Häutchen. Das Wort an sich sei schon irreführend. Trotzdem benutzt Jutta Pliefke es, weil es die Mädchen kennen würden. Dann wüssten die Mädchen, wovon sie rede. Sie füge aber immer an, dass es ein unglückliches Wort sei.
«Vaginale Korona»
Doch auch wenn Frauen den Sexualpädagoginnen oder Gynäkologinnen oder Kulturwissenschaftlerinnen glauben, reicht das nicht. Herrscht in ihren Familien der Glaube, dass das Jungfernhäutchen die Jungfernschaft beweist, kann ein grosser Druck auf den jungen Frauen lasten. Der so gross werden kann, dass nicht wenige, die bereits Sex hatten, zu drastischen Massnahmen bereit sind.
Die Medizin von heute könne das «Jungfernhäutchen wiederherstellen» heisst es. In der Schweiz bieten mindestens zwei Kliniken die Wiederherstellung des Jungfernhäutchens durch einen chirurgischen Eingriff an. Der Direktor einer Klinik in Montreux sagte dem SRF, dass die Nachfrage nach solchen Eingriffen steige. Einen Grund dafür findet er darin, dass Schweizer Kliniken den Frauen höchste Diskretion zusichern. Für einen Eingriff bezahlen die Frauen hier zwischen 2000 und 4000 Franken.
Der Chirurgen Marc Abécassis, der viele Jungfernhäutchen wiederhergestellt habe, ist der Meinung, dass diese Frauen an eine jahrhundertelange Tradition gebunden seien und er sie mit der Operation vom Diktat der Jungfräulichkeit befreien könne.
Tut er nicht das Gegenteil und bastelt aktiv am Mythos weiter? Und wenn es dieses Jungfernhäutchen nicht gibt, was rekonstruiert er genau?
Eine Klinik in Zürich, die auf ihrer Website titelt «Jungfernhäutchen wiederherstellen – Hymenrekonstruktion» antwortet auf meine Fragen, wie viel der Eingriff koste, was konkret operiert werde und was beim nächsten Sex anders sein solle: Die Antworten seien nur in einer Sprechstunde mit der behandelnden Ärztin zu bekommen, und eine solche koste zwischen 100 und 150 Franken.
Gynäkologinnen des Familienplanungszentrums Balance in Berlin schreiben auf Ihrer Webseite Folgendes:
- «Das ‹Jungfernhäutchen› (=Hymen) hat keine Funktion für Ihren Körper.
- Das Hymen ist ein zartes Häutchen (ähnlich dem Häutchen unter Ihrer Zunge), das den Scheideneingang wie ein Ring umschliesst.
- Das Hymen kann auch ohne Geschlechtsverkehr ‹nicht intakt sein›.
- Das Hymen kann ‹nicht intakt sein›, ohne dass Sie es merken.
- Kein Mann kann feststellen / merken / fühlen, ob Sie noch ‹Jungfrau› sind.
- Das Hymen muss beim ersten Geschlechtsverkehr nicht bluten (nur etwa 50 % der Frauen bluten beim ‹ersten Mal›).
- Auch nach einer ‹Rekonstruktion› des Hymens kann es beim nächsten Geschlechtsverkehr sein, dass es nicht blutet, bzw. dass die Verletzung des Hymens nicht so heilt, dass es wieder ‹intakt erscheint›.»
Auch Balance bietet die Rekonstruktion des Hymen an, doch erst nach einem Beratungsgespräch mit einer Frauenärztin und einer gynäkologischen Untersuchung. Für den Eingriff verlangt das Balance-Team zwischen 350 und 600 Euro. Balance mache im Schnitt eine Hymenrekonstruktion und sieben Beratungsgespräche pro Monat.
Im Sexualkundeunterricht von Linda Bär fragen junge Frauen oft: «Sie, tut das erste Mal Sex fest weh? Wie fest werde ich bluten? Nach dem ersten Mal bin ich ja nicht mehr Jungfrau, oder?»
Linda Bär stellt Oberstufenschülerinnen auch mal Rückfragen, beispielsweise, was mit «erstes Mal Sex» gemeint sei. Viele gingen davon aus, das meine den Moment, «wenn ein Penis das erste Mal in eine Scheide eindringt», sagt die Sexualpädagogin. Selten denke man an «zwei Menschen mit Vulva oder zwei Menschen mit Penis, die ihr erstes Mal erleben».
Der Sexualpädagogin ist es wichtig, die Fragen der Oberstufenschülerinnen auseinander zu dröseln, zu erklären, was mit «Jungfrau» gemeint sei. Es sei eine alte Bezeichnung für nicht verheiratete Frauen. «Früher war Sex nur in der Ehe zugelassen, doch wie sollte man das beweisen? Man bediente sich kurzerhand des Mythos Jungfernhäutchen», erzählt Linda Bär.
Die Sprache sei ein System, mit dem wir uns in der Welt orientierten und Bewertungen vornehmen würden, schreibt Mithu Sanyal in ihrem Buch. Sprache forme unser Denken, und das Denken bestimme, wie wir die Realität sehen würden.
In der schwedischen Realität gibt es das «Jungfernhäutchen» nicht mehr. Im Jahr 2009 hat der schwedische Sprachrat den ideologisch aufgeladenen Begriff Jungfernhäutchen – auf Schwedisch mödomshinna – abgeschafft. Und durch den Begriff «vaginale Korona» ersetzt. Der Duden druckt beim Buchstaben «J» nach wie vor «Jungfernhäutchen» ab. Warum benutzen wir noch ein Wort, das etwas beschreibt, das es gar nicht gibt? Man sagt ja auch nicht mehr Erdscheibe, sondern Erdball.
Andrea Arežina ist Autorin. redaktion@dasmagazin.ch
Publiziert: 26.11.2021, 17:00
Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/sprechen-wir-von-der-vaginalen-korona-660756348469
*http://www.sanyal.de/index.php/buecher/vulvhttps://www.perlentaucher.de/buch/mithu-m-sanyal/vulva.html
Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling
- Friedrich Liebling: Geleitwort zum Buch Grosse Pädagogen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler – Das Gemeinschaftsgefühl: Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung
- Alfred Adler – Aus der Nähe porträtiert
- Alfred Adler Panorama: Eine Würdigung des grossen Psychologen und Begründer der Individualpsychologie
- Alfred Adler und die Individualpsychologie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Alfred Adler: Die andere Seite - Eine massenpsychologische Studie über die Schuld des Volkes
- Alfred Adler: Die Angst
- Alfred Adler: Understanding Human Nature - Menschenkenntnis (1927)
- Alfred Adlers Persönlichkeitstheorie kurz erklärt
- Alfred Adlers psychagogisches Wirken, am Beispiel eines Schulversagers einfach erklärt
- Auszug aus «Gestalten um Alfred Adler - Pioniere der Individualpsychologie»
- Auszüge aus Alfred Adler-Panorama und weitere Beiträge
- Bhadrakumar: Ein Jahrestag, den der Westen lieber vergessen würde
- Der Einfluss der verwöhnenden und verzärtelnden Erziehung auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit
- Der Mensch im Lichte der modernen Psychologie
- Die Bedeutung des psychologischen Beratungsgespräches zur Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen
- Die Familie als Schule des Lebens
- Die Kopernikanische Wende und ihre Bedeutung für die Psychologie
- Flieg wie ein Adler, Darya Dugina / Fly Like An Eagle, Darya Dugina !
- Friedrich Lieblings Schule im Winter auf Gran Canaria - Eine Reportage
- Revolutionäre Wandlungen im psychiatrischen Denken der Gegenwart
- Schlaglicht auf den toten Winkel
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Soziale Psychologie
- Wie und mit wem können wir die Gesellschaft umgestalten?
- Zum 150. Geburtstag Alfred Adlers: die große Biographie des Erfinders der Individualpsychologie
- Zur Bedeutung Alfred Adlers
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- «Einsamkeit ist eine Epidemie»
- Das Jungfernhäutchen: Ein Mythos lebt weiter
- Der Minister, der nicht sprechen wollte
- «Wenn ich nur dieses eine Buch geschrieben hätte …»
- «Ein Krippenbesuch ist erst im Alter von 2 bis 3 Jahren ideal»
- Im Dschungel des Internets
- Wilhelmine von Hillerns Roman «Geier-Wally»
- Kinder brauchen Urvertrauen
- 150. Geburtstag von Alfred Adler: Das Psychologie-Genie
- Alfred Adler und die pädagogische Revolution
- Du sollst Dein Kind nicht loben
- Warum ADHS keine Krankheit ist – Eine Streitschrift
- Wir ermutigen Eltern, bis zur achten Klasse mit dem Smartphone zu warten
- Schulzeugnis und Versagen in der Schule
- Erziehung zur Medienkompetenz
- Über die Bedeutung der Erziehung
- Die «Tablet»-Familie
- Lehrer gehen juristisch gegen filmende Schüler vor
- Was sind Rabeneltern?
- «Hört auf, die Kinder zu loben»
- Den Kindern den Weg ins Leben zeigen
- Kinder und Jugendliche stark für den Umgang mit Medien machen
- Säuglinge in Kinderkrippen – Ein interessanter Briefwechsel mit einer Mutter
- Die seelische Entwicklung unserer Kinder und das audiovisuelle Angebot