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Falsch verstandene Bedürfnisbefriedigung

13. Februar 2013

Beispiele aus der Praxis eines Kinderarztes

von Dr. Andreas Bau, Kinderarzt

Um allen Missverständnissen vorzubeugen, muss man deutlich unterscheiden zwischen den Bedürfnissen eines Kindes, die unbedingt erfüllt werden sollten, und solchen, die keiner oder erst nach reiflicher Überlegung einer Erfüllung bedürfen. Die Frage sollte immer unter dem Gesichtspunkt beleuchtet werden, was der gesunden seelischen Entwicklung eines Kindes förderlich ist.

In der Theorie von Sigmund Freud spielt der Begriff der Bedürfnisbefriedigung eine grosse Rolle. Freud entwickelte die Lehre von den unbewussten Gefühlen. Die soziale Bindung ist in dieser Theorie ein Nebenprodukt der Bedürfnisbefriedigung. So führt nach Freud die Verabreichung einer Flasche oder die Applikation eines Schnullers bei einem Säugling oder Kleinkind (heute nicht selten auch noch bei Kindergartenkindern) zur Befriedigung des vermeintlich bestehenden Saugbedürfnisses, nicht aber zu einer Stabilisierung der Beziehung zur jeweiligen Mutter. Diese falsche Theorie über die menschliche Natur ist mit eine bedeutende Ursache dafür, dass die dauernde Befriedigung aller vermeintlich lebensnotwendigen Bedürfnisse eines Säuglings, eines Kindes und auch eines Jugendlichen einen so breiten Raum einnehmen konnte.

Falsche Theorien in der Erziehung

john bowlby

John Bowlby

Die Entwicklungspsychologen, allen voran John Bowlby, haben entgegen der Meinung von Freud nach dem Zweiten Weltkrieg empirisch belegt, dass soziale Bindung ein primäres Bedürfnis des Kindes ist und dass die Entwicklung des Kindes von der Persönlichkeit und der Beziehungsfähigkeit der Mutter und des Vaters abhängig ist. So ist es in der frühen sensiblen Phase unerlässlich, dass die Mutter mit ihrer ganzen Persönlichkeit präsent ist. Die sich daraus ergebende sichere Bindung ist die Voraussetzung für alle weiteren Schritte in der Entwicklung des Kindes, in allen Persönlichkeitsbereichen, körperlich, emotional, intellektuell, sozial und moralisch. Die sichere Bindung bietet beim Kind die Voraussetzung für die Ausbildung eines Persönlichkeitskerns.

Die Eltern beginnen in den ersten Lebenstagen ihres Kindes, echte, aber auch unechte Bedürfnisse zu befriedigen.

Am Beispiel des Schnullers und an weiteren Beispielen aus einer Kinderarztpraxis möchte ich die Problematik anschaulich machen. Der Schnuller steht stellvertretend für viele andere Vorgänge einer für das Kind nicht förderlichen oder sogar entwicklungshemmenden Bedürfnisbefriedigung. Oft werden die Säuglinge bereits in den ersten Lebenstagen mit einem Schnuller versorgt, gestillte und nicht gestillte Kinder gleichermassen. Eine falsche Theorie, nur eine von Hunderten, wird dem Säugling förmlich übergestülpt. Es ist die falsche Theorie vom Saugbedürfnis des Babys. Die Eltern versuchen, mit dem Schnuller das Kind ruhigzuhalten und ihm ein Gefühl von Zufriedenheit zu vermitteln. Ob die Bindung an die Mutter durch diesen Vorgang stabiler wird, ist sehr zu bezweifeln. Der Dauergebrauch des Schnullers und der Flasche ist zu einer festen Einrichtung bei der Betreuung von Kindern geworden. Auch die permanente Verabreichung von Nahrung und Süssigkeiten ist eine durch eine falsche Theorie belegte Unart mit weitreichenden negativen Folgen.

Bei jeder vermeintlichen Unmutäusserung des Kindes wird schnell der Schnuller in den Mund gesteckt. Dies dient zur Vermeidung eines möglicherweise bevorstehenden Widerspruches oder Unruhezustands des Kindes. So erschwert sich für die Mutter der Lernprozess, herauszufinden, welche Ursache den Lautäusserungen und Signalen des Säuglings zu Grunde liegen. Ist es Hunger? Ist die Windel nass? Möchte der Säugling Zuwendung in Form von Schmusen, Zwiesprache, Ansprache, Vorsingen oder anderen Formen der Beziehungsaufnahme? Die Palette der Möglichkeiten ist unendlich gross und individuell. Dadurch dass die Mutter so schnell zum Schnuller oder zur Flasche greift, erhält der Säugling auf seine ihm im nonverbalen Alter möglichen Signale ein nicht überprüftes, inadäquates Echo. Seinen echten seelischen Bedürfnissen wird so nicht Rechnung getragen. In diesen Situationen beginnen viele Säuglinge trotz Schnullers (für die Mutter unverständlich) langanhaltend zu schreien. Da viele Mütter sich ihrer grossen Bedeutung für die gesunde seelische Entwicklung ihres Kindes nicht bewusst sind, können sie ihre natürliche Mütterlichkeit nicht im vollen Umfang entfalten. Ihre natürliche mütterliche Beziehungsfähigkeit erreicht das Kind nur eingeschränkt.

An einen lebhaften, liebevollen Beziehungsaustausch gewöhnte Säuglinge mit einer sicheren Bindung an die Mutter sind auf den Schnuller kaum oder gar nicht angewiesen. Die Mütter dieser Säuglinge können oft sehr differenziert über die Verschiedenartigkeit und Bedeutung der Lautäusserungen ihrer Kinder berichten. Die Mütter sind glücklich, mit ihrem Kind in einen engen liebevollen Austausch zu treten. Die Gewissheit der Mutter, dass das Baby sich ihr anschliesst, bewirkt eine Stärkung ihrer Persönlichkeit. Sie haben das Signal, dass der Säugling den Schnuller verweigert, nicht überhört. Diese Säuglinge sind meist leicht zu untersuchen und freuen sich an dem Wechselspiel der Beziehungsaufnahme, auch mit dem nicht allzu vertrauten Kinderarzt. Sie nehmen aktiv Beziehung auf und freuen sich über ihre Wirkung auf ihr Gegenüber.

Ich denke, die Vernunft wird den längeren Atem haben und die Mütter werden bei entsprechender Aufklärung und emotionaler Anleitung ohne den Schnuller als Tröster die Beziehung zu ihren Kindern pflegen lernen. An drei Beispielen aus einer Kinderarztpraxis möchte ich die Thematik der Bedürfnisbefriedigung verdeutlichen und mit Leben füllen.

Fritz schreit so laut, dass die Passanten stehenbleiben

Der 3jährige Fritz (Name geändert) kommt morgens um 10 Uhr auf dem Arm seiner Mutter zur Untersuchung in das Sprechzimmer. In der rechten Hand hält er ein Gipfeli, in der linken Hand ein Fläschchen mit Saft. Der Saft ist mit Honig gesüsst, da eine Theorie der Grünen sagt, dass Honig keinen Zucker enthält. Fritz kaut fleissig. Er würdigt den netten Kinderarzt keines Blickes. Der Rachen ist nicht zu inspizieren, da Nahrungsreste die Sicht versperren. Da das Fläschchen leer ist, bietet der Arzt dem Jungen zum Nachspülen des Mundes einen Becher mit Leitungswasser an. Fritz lehnt mit einer Miene des Angewidertseins und verächtlich stöhnenden Lauten ab. Während die Mutter hektisch in ihrer Tasche nach einer neuen Flasche sucht, beisst Fritz erneut von dem Gipfeli ab. Die Mutter schimpft mit ihrem Kind und entschuldigt sich beim Arzt. Dabei fällt Fritz das Gipfeli aus der Hand. Der Junge deutet fordernd mit den Fingern auf den Fussboden und knurrt dabei. Die Mutter hebt das Gipfeli geflissentlich rasch wieder auf und gibt es ihrem Sohn wieder in die Hand. Sie berichtet, dass sie nie an einer Bäckerei vorbeigehen könne, ohne dem Sohn etwas zu kaufen. Er schreie sonst so laut, dass die Passanten stehenblieben. Bis jetzt habe Fritz immer seinen Willen durchgesetzt, berichtet die Mutter. Ähnlich sei der Ablauf an den Kassen im Kaufhaus. Hunger könne es nicht sein, da er vor kurzer Zeit gefrühstückt habe.

Die Argumente der Mutter, so zu handeln, sind vielfältig. Sie vermeidet den Widerspruch, indem sie alles erfüllt, was ihr «Prinzchen» fordert. Ein Argument ist erwähnenswert. In den ersten Wochen entwickelte ihr Sohn einen der physiologischen Entwicklung entsprechenden intensiven Hand-Mund-Kontakt. Er versuchte immer wieder unter grossem Kraftaufwand, die Hand oder die Faust in den Mund zu stecken. Dabei sabberte er stark. Diesen natürlichen Entwicklungsschritt deutete die Mutter als unbefriedigtes Saugbedürfnis und als möglichen sehr frühen Zahndurchbruch. Auch sollte sich Fritz nicht so stark anstrengen. Der Arzt muss den zahlreichen Argumenten viel entgegensetzen. Er versucht, ihr ein Gefühl für würdige zwischenmenschliche Vorgänge zu vermitteln. Als er ihr ausmalt, wohin es führt, wenn sie ihre Haltung nicht verändert, geht sie im Gefühl mit. Die Helferinnen wischen anschliessend den Fussboden. Sie wechseln mit dem Kinderarzt vielsagende Blicke.

Dennis hat keine Lust

Nun zu Dennis (Name geändert). Er ist 7 Jahre alt und besucht die erste Klasse. Im Unterricht ist er sehr unaufmerksam und stört oft. Er kann Buchstaben und Zahlen nicht längere Zeit behalten. Die Diagnosen einer Dyskalkulie und einer Legasthenie stehen im Raum. Wenn die Lehrerin ihn auffordert, etwas zu erzählen, oder ihm eine Aufgabe übertragen möchte, bringt Dennis laut stöhnend zum Ausdruck, dass er keine Lust habe. Seine Schulsachen hat er nie vollständig dabei, und die Schulaufgaben sind immer unvollständig. Morgens kommt er regelmässig zu spät, obwohl er von seiner Mutter pünktlich losgeschickt wird. Auf dem Weg in die Schule hört er Musik mit einem Discman. Während des Unterrichts holt er öfters einen Gameboy aus der Schultasche und beginnt zu spielen. Fast täglich vergisst er Kleidungsstücke in der Schule. Später möchte Dennis ein berühmter Fussballstar werden. Körperlich ist er ungepflegt. Die Mitschüler beschweren sich über seinen Körpergeruch. Die meisten Milchzähne sind schwarze kariöse Ruinen. Die Mutter hat viele Sorgen mit ihrem Sohn. Sie ist alleinerziehend und hat nur ihn. Sie ist ganztägig berufstätig. Sie verlässt morgens um 6 Uhr 30 die Wohnung und kommt um 17 Uhr zurück. Nach der Schule besucht Dennis noch für 2 Stunden einen Kindergarten. Wenn sie nach Hause kommt, steht das Frühstück noch auf dem Tisch und Dennis sitzt vor dem Fernseher. Das Bett ist nicht gemacht, und die Wohnung ist in einem sehr unordentlichen Zustand. Da Dennis keine Lust hat, die Schularbeiten wie verabredet im Kindergarten zu machen, setzt die Mutter sich mit ihm abends hin. Dabei gibt es regelmässig Streit, da Dennis keine Lust hat. Wenn die Mutter ihn bittet, im Haushalt mitzuhelfen, sein Zimmer aufzuräumen oder einzukaufen, schimpft er laut und weigert sich. Sie ist verzweifelt.

Die Mutter berichtet im Verlaufe des Gespräches, dass sie für ihn immer alles getan habe, da sie wegen ihrer Berufstätigkeit ein schlechtes Gewissen habe. Auch habe sie versucht, ihm den Vater zu ersetzen. So habe sie Dennis nie etwas abverlangt und ihm fast jeden Wunsch erfüllt. Sie habe versucht, Dennis wunschlos glücklich zu machen. So stand die Befriedigung aller Bedürfnisse immer im Vordergrund.

Der Mutter wird in dem Gespräch mit dem Kinderarzt langsam klar, dass dies nicht der richtige Weg ist. Sie möchte ihren Sohn gut erziehen, sie weiss aber nicht, wie sie es machen soll. Die Lehrerin empfiehlt ihr, eine Erziehungsberatungsstelle aufzusuchen. Die Mutter sucht sich einen ihren Sorgen gegenüber aufgeschlossenen Psychologen. In kleinen Schritten entwickeln sie einen Plan, wie die Mutter ihrem Sohn helfen kann. Die Mutter beginnt Dennis mehr abzuverlangen. Er protestiert heftig. Er beschimpft wiederholt seine Mutter. Er möchte sein bequemes Leben weiterführen. Die Mutter ist oft im Zweifel, ob ihr neuer Weg richtig ist. Der Psychologe unterstützt sie tatkräftig. Erst als sich Erfolge einstellen und Dennis in der Schule Freundschaften schliesst, wird sie sicherer. Sein Sozialverhalten bessert sich, und es entsteht ein freundschaftliches Verhältnis zu seiner Mutter.

Rosa-Amanda   – die Mutter übersetzt

Rosa-Amanda (Name geändert) ist drei Jahre alt. Sie wird von der Mutter in einem Buggy in fast liegender Position in das Wartezimmer des Kinderarztes geschoben. Rosa-Amanda   – die Mutter betont bei der Vorstellung den Bindestrich zwischen den Namen. Sie ist herausgeputzt wie zum Besuch bei der englischen Königin. Im Mund steckt eine besonders grosse und schöne Kreation eines aus Naturkautschuk gefertigten Schnullers. Er hat an der Spitze einen walnussgrossen Aufsatz, in den man bei Bedarf Erkältungsbalsam füllen kann. Die Ohrläppchen sind mit funkelnden Ohrsteckern geschmückt. Um den Hals trägt Rosa-Amanda eine Kette mit verschieden gestalteten Reserveschnullern. Im Schoss des Mädchens liegt eine Saftflasche und ein angebissenes Gipfeli. Auf dem Kopf trägt sie ein süsses Mützchen, mit kleinen Öhrchen verziert. Auf die Ansprache des Kinderarztes reagiert Rosa-Amanda mit verschiedenen, undefinierbaren, nicht zu verstehenden Unmutsäusserungen. Der Gesichtsausdruck ist eine Mischung aus Entmutigung, Empörung, Beleidigtsein und Abwehr. Eine altersgemässe Kommunikation ist nicht möglich.

Dem Kinderarzt gehen viele Fragen durch den Kopf: Wie soll Rosa-Amanda sprechen lernen? Wie soll sie später der Schule, den vielfältigen Anforderungen des Lebens gewachsen sein? Welche Vorstellungen über das Leben und die Welt wird sie entwickeln? Wie kann er der Mutter helfen, ihre Haltung zu verändern, damit sie ihrer Tochter nicht noch mehr schadet?

Ein Jahr später kommt Rosa-Amanda mit ihrer Mutter zur Vorsorgeuntersuchung für 4jährige. Die Mutter trägt ihre übergewichtige Tochter engumschlungen auf dem Arm in das Sprechzimmer. Die Untersuchung gestaltet sich sehr schwierig, da das Mädchen jede Mitarbeit verweigert. Zwischendurch ruft sie ein Wort, das der Kinderarzt nicht versteht. Die Mutter übersetzt. Es soll Hunger heissen. Es zeigt sich, dass Rosa-Amanda erhebliche Rückstände und Defizite in der Entwicklung aufweist. Die Mutter hat keinen Zweifel daran, dass ihre Erziehung richtig ist. Sie fordert sehr deutlich für ihre Tochter eine ergotherapeutische, eine logopädische und eine krankengymnastische Behandlung. Auch beschwert sie sich über eine mangelnde Förderung im Kindergarten. Über den Sinn von «therapeutischem Schwimmen» entsteht eine längere Diskussion. Ein konstruktives Gespräch ist nicht möglich. Die Mutter scheint keine Verantwortung übernehmen zu wollen.

Dem Kinderarzt ist Rosa-Amanda bis heute nicht aus dem Kopf gegangen. Was ist wohl aus seiner Rosa-Amanda geworden? Was wird wohl aus den vielen Rosa-Amandas? Werden sie Opfer einer Behandlung mit Psychopharmaka? Können sie in unserer Welt des Krieges und einer durch die Globalisierung scharf vorangetriebenen Entwurzelung und Verarmung der Menschen bestehen?

Wie werden sie später als Mütter ihre eigenen Kinder erziehen?

Ich möchte noch einige grundlegende Voraussetzungen einer gesunden Erziehung darlegen, als Argument gegen die vielen falschen Theorien. Die wissenschaftlichen Grundlagen über die Natur des Menschen liegen seit vielen Jahren auf dem Tisch. Auch können wir uns in der Erziehung unserer Kinder auf die empirisch belegten Befunde der Bindungstheorie und der Entwicklungspsychologie stützen. Dies immer im Hinblick auf die Frage: Was braucht das junge Kind, um ein erfülltes, glückliches Leben zu führen, um seinen vielfältigen Aufgaben als Mensch, als Mitmensch und als aufrechter Demokrat mutig nachzukommen?

Vom ersten Atemzug an braucht das Kind ein liebevolles, festes, zugewandtes menschliches Gegenüber. Nur so entsteht eine im Inneren, tief im Gefühl verankerte, auf Werte begründete Festigkeit, ein Persönlichkeitskern. Die Grundlagen für diese Haltung werden in der frühen Kindheit, abhängig von der Persönlichkeit und der Gefühlsdisposition der Mutter, gelegt. So hat sich ein Säugling bereits mit zwölf Monaten aktiv ein Bild von der Welt gemacht. Eine permanente Befriedigung aller Bedürfnisse zur Vermeidung eines Widerspruches zwischen Mutter und Kind ist für die Persönlichkeitsbildung untauglich.

Unsere Aufgabe als Erwachsene ist es, all unser Wissen, unsere Lebenserfahrung, unsere gefühlsmässige Anteilnahme als Vorbild in die Waagschale zu werfen. So steht auch die Frage im Raum: Wie gelingt es uns, den jungen Müttern und der nachfolgenden Generation zu helfen, ihr Leben verantwortungsbewusst positiv zu gestalten? Wie werden wir ihnen Vorbild, um bei ihnen sittliches Empfinden zu entwickeln, das die Achtung der Menschenwürde möglich macht?

John Bowlby und die Bindungstheorie

Vorspann-Zitat Kapitel 9: Die Bindungstheorie und die Gesellschaft. S. 234:

"Die Arbeitskraft von Männern und Frauen, die auf die Produktion materieller Güter ausgerichtet ist, tritt in allen unseren ökonomischen Indizes als Plus auf. Die Arbeitskraft von Männern und Frauen, die auf die Produktion glücklicher, gesunder und selbstständiger Kinder im eigenen Zuhause ausgerichtet ist, tritt überhaupt nicht auf. Wir haben eine verkehrte Welt erschaffen ... Die Gesellschaft, in der wir leben ist ... in evolutionärer Hinsicht ... ziemlich eigenartig. Es besteht eine große Gefahr, dass wir falsche Normen übernehmen. Denn so, wie eine Gesellschaft, in der es einen chronischen Mangel an Nahrung gibt, ein beklagenswert unzureichendes Ernährungsniveau als Norm betrachtet, könnte eine Gesellschaft, in der die Eltern kleiner Kinder mit einem chronischen Mangel an Hilfe alleine gelassen werden, diese Umstände als Norm betrachten."

(Bowlby 1988a)

Ein ausgezeichnetes Buch, das nicht nur die   – auch dramatische   – Geschichte der Bindungstheorie und damit einige Grundirrtümer Freuds und der Psychoanalyse erzählt   – sondern auch gesellschaftspolitisch von kaum zu überschätzender Bedeutung ist. Wenn die Welt, der Mensch und die Gesellschaft anders und besser werden sollen, dann muß sehr früh in der Entwicklung und in der Familie begonnen werden. Die ersten Jahre sind bindungspsychologisch von großer Bedeutung.

Holmes, Jeremy  (dt. 2002, engl. 1993). John Bowlby und die Bindungstheorie. Mit einem Vorwort von Martin Dornes.
Aus dem Englischen von Andreas Wimmer. München: Ernst Reinhardt Verlag.

Mehr zum Buch:
http://www.sgipt.org/gipt/entw/bindung/holmes.htm

Beiträge zu Alfred Adler und Friedrich Liebling