Die 24 Flugzeugtypen des Dämons
Die beiden Redner interessierten sich nicht für die Herausforderungen der Gegenwart, sondern schwelgten lieber im Lob für ihre Hindu-Vorfahren. Die alten Helden hätten bereits vor Tausenden Jahren die Techniken moderner Wissenschaft beherrscht, behaupteten sie. Und das war keineswegs als Witz gemeint. Der Chemiker Gollapalli Nageswara Rao sprach über den mythischen Dämon Ravana, der selbstverständlich über 24 verschiedene Flugzeugtypen verfügt habe. Und dass der legendäre König von Hastinapur hundert Kinder hervorbrachte, verdanke er der Stammzellenforschung, die damals bereits bekannt gewesen sei.
Angesichts solch kluger Ahnen mussten gefeierte Grössen der Neuzeit, Forscher wie Isaac Newton oder Albert Einstein, schon zu intellektuellen Zwergen schrumpfen. Die beiden hätten die Welt ohnehin verkannt, wie ein Dozent aus Tamil Nadu erklärte, weshalb er vorschlug, man solle Gravitationswellen besser in «Narendra-Modi-Wellen» umtaufen.
Die Vorträge provozierten Spott und Entsetzen, Studenten und Professoren sammelten sich zum Protest. Besonders entsetzlich fanden viele, dass die Behauptungen ausgerechnet bei jenem Forum fielen, das Kinder an die seriöse Wissenschaft heranführen soll. «Die Irrationalität sprengt alle Grenzen», klagt die Astrophysikerin Prajval Shastri.
Ein «bedenklicher Lapsus»
Nun könnte man die Auftritte als peinliche Posse abtun, passten sie nicht zur Strategie regierender Hindu-Nationalisten, Mythen systematisch als geschichtliche Wahrheiten zu verbreiten. «Diese Kräfte fördern die Pseudo-Wissenschaften», sagt Elektroingenieur Soumitro Banerjee, der mit Kollegen einen Protestbrief verfasst hat. Sie klagen, dass die bizarren Auftritte den Ruf der indischen Wissenschaften global beschädigten. «Alles, was in Legenden steht, ist nach der Lesart der Leute wahr.» Dass ein renommierter Kongress solchen Stimmen eine Bühne biete, sei ein «bedenklicher Lapsus», sagt der Forscher im Gespräch.
Bedrohlich wirken diese Stimmen auch deshalb, weil sie helfen, die Ideologie rechtsnationaler Hardliner zu stützen. Religiöse Ideologen torpedieren die indische Geschichtswissenschaft, weil seriöse Historiker Mythen kritisch analysieren, anstatt sie als unumstössliche historische Gewissheiten zu verklären. «Das ist etwa so, wie wenn man in Europa alles für wahr hielte, was in ‹Ilias› und ‹Odyssee› erzählt wird», sagt Banerjee.
Doch nicht einmal Indiens Premier scheint Mythologie und Geschichte trennen zu wollen. 2014 verblüffte er seine Zuhörer, als er im elefantenköpfigen Gott Ganesha den Beweis dafür erblickte, dass die alten Inder schon plastische Chirurgie beherrschten. Und natürlich macht man über Götter keine Witze.
Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/wissenschaft-flugzeuge-des-daemons-1.4283304
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Kleines Nachwort von seniora.org
Wir würden der indischen Wissenschaft Unrecht tun, wenn wir das dortige Ringen um (natur-)-wissenschaftliches Denken als Lachnummer abtun. Auch wir im Westen hatten und haben es immer noch schwer, die “Spreu vom Weizen zu trennen” und objektive – also von der Meinung eines Einzelnen unabhängigen - Erkenntnisse als solche anzuerkennen. So wurde Darwins Erkenntnis seinerzeit nicht freudig akzeptiert, ganz im Genteil: (Zitat aus “Wie der Mensch zum Menschen wurde” S. 31)
(…) sechs Monate nach der Veröffentlichung [Darwins Werk Über den Ursprung des Menschen] brach der entscheidende Kampf zwischen Evolutionisten und den Anhängern der Lehre von der göttlichen Erschaffung der Welt auf. Das geschah anlässlich der alljährlichen Zusammenkunft der “British Association for the Advancement of Science” in Oxford. Darwin selbst war nicht anwesend. Die Protagonisten der berühmten Debatte von 1860 waren der Bischof Samuel Wilberforce (Sprachrohr von Richard Owen) und Thomas Huxley. Das Wortgefecht zwischen diesen beiden Männern entzündete sich im Anschluss an die Vorlesung einer Schrift eines gwissen Dr. Draper, eines Amerikaners, der sich mit der “Intellektuellen Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der Ansichten des Herrn Darwin” befasst hatte. Die Atmosphäre im Vorlesungssaal, in den sich etwa siebenhundert Studenten gedrängt hatten, war gespannt. Das Auditorium muss gespürt haben, dass dies die Zeitenwende zwischen der Schöpfungstheorie und der Evolutionstheorie einläutete.
Wilberforce, ein hervorragender Redner, erhob sich und began einen eloquenten Angriff auf Darwins Thesen. Owen hatte ihn gründlich angestachelt. Am Ende richtete sich jedoch sein Eifer, einen guten Eindruck zu machen, gegen ihn selbst. Er wandte sich Huxley zu und fragte ihn mit unverhohlenem Sarkasmus: “Und Sie, Sir, stammen Sie grossväterlicherseits oder grossmütterlicherseits vom Affen ab?” Huxley murmelte vor sich hin: “Der Herr in seiner Güte hat ihn mir ausgeliefert”. Er erhob sich, legte in geschliffenen Worten die wissenschaftliche Argumentation dar und reagierte erst dann auf Wilberforces ätzenden Spott: “Niemand braucht sich zu schämen”, so sagte er, “einen Affen zum Urahn zu haben. Wenn ich mir einen Vorfahr aussuchen sollte und dabei wählen müsste zwischen einem Affen und einem gelehrten Mann, der seine Logik dazu missbraucht, ungeschulte Zuhörer in die Irre zu führen, und der eine schwerwiegende und philosophisch ernstzunehmende Fragestellung nicht mit sachlichen Argumenten angeht, sondern sie wissentlich der Lächerlichkeit preisgibt – wenn ich da wählen müsste, würde ich mich ohne zu zögern für den Affen entscheiden.” Schallendes Gelächter belohnte diese Retourkutsche, und der gedemütigte Wilberforce musste sich gechlagen geben. Die Evolutionstheorie hatte gewonnen – zumindest für den Augenblick.”
Dass heute, fast 160 Jahre später, diese Erkenntnis noch nicht Allgemeingut geworden ist, halten wir für ein Phänomen, wichtig genug, mit einer eigenen Forschung untersucht zu werden mit der Fragestellung: Was hindert den Homo sapiens daran, in wissenschaftlichen Fragestellungen konsequent wissenschaftlich zu denken, d.h. Hypothesen zu bilden, diese zu verifizieren und zu falsifizieren, so lange, bis sie entweder stimmen oder eben nicht?
Somit sollten wir, wenn wir die wissenschaftlichen Querelen in Indien betrachten, mit einer gewissen Nachsicht und Bescheidenheit an diese herantreten und nicht meinen, wir seien im Westen so viel weiter.
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