Der digitale Raum verführt zu oberflächlichem Lesen
Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.
Der digitale Raum mag mehr Lesestoff als jemals zuvor bieten, doch er verführt vielfach zu oberflächlichen und fragmentarischen Leseprozessen, im schlimmsten Fall gar zum Nichtlesen.[5] Das gefährdet letztlich das intensive Lesen und damit das Ausbilden einer gefestigten Lesekompetenz.
Die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen
Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler eine unvertraute Gegend. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt.
Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten mit den Fast-Food Informationen herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Mit bewusst gewähltem Anspruch. Gefordert ist ein intensives, kontinuierliches, Training in wohldosierten sprachlichen Fremdheiten – die Lehrerin als Fremdenführerin! Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.
Früh übt sich ... (Foto: zVg)
Wenn die Aufgabenfülle zunimmt, reduziert sich die Übungszeit
Nicht «mehr und Zusätzliches» an Inhalten wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Sie geht weit über das reine Entziffern von Texten hinaus. Es ist ein Hinführen zum Erkennen und Verstehen.
Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Es ist eine einfache Proportionenrechnung: Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Auch flüssiges Lesen will geübt sein. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.
Get the fundamentals right, the rest will follow!
Vertieftes und konzentriertes Lesen oder «deep reading», wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: «Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.» Es ist das alte Postulat: «Get the fundamentals right, the rest will follow.» Auf die guten Grundlagen kommt es an!
Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter http://www.carlbossard.ch/
[1] Heike Schmoll, Deutschverdrossenheit, in: FAZ, 31.10.2023, S. 1
[2] Uwe Ebbinghaus, Deutschunterricht in der Krise: Notschnitt vier minus, in: FAZ, 01.12.2023, S. 11
[3] Linus Schöpfer, Lesekrise, in: NZZaS, 19.11.2023, S. 59
[4] Die Resultate der PISA-Studie 2022 wird Anfang Dezember publiziert. Die Leistungen der Schweizer Schülerinnen und Schüler sollen gegenüber dem letzten Test schlechter abschneiden. Noch hüllt sich die EDK in Schweigen.
[5] Vgl. Miha Kovač et al., Die Zukunft unseres Lesens beeinflusst die Zukunft unserer Gesellschaft. Mehr Resilienz, mehr Komplexität: Die Forderung des Ljubljana-Manifests zur Lesekompetenz, in: FAZ, 10.10.2023.
Quelle: https://www.journal21.ch/artikel/lesen-als-grundlage-fuer-fast-alles