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Carl Bossard: Loblied aufs Mittelmass

Bosshard (2016) sagt in seinem Artikel Folgendes: «Das pädagogische Leben spielt sich in den Beziehungen ab. Lernen ist Beziehungshandeln, ist intersubjektives Geschehen. Wir erleben darum Schule und Unterricht als wertvoll in Beziehungen zum Lehrer, zur Lehrerin, zur Sache und zu den Inhalten, zu den Kolleginnen und Freunden. Das ist nicht neu. Und doch muss man es immer wieder in Erinnerung rufen, weil der Tatbestand vergessen geht». [zitiert aus einer heilpädagogischen Masterarbeit]
Von Carl Bossard 16. Dezember 2023 - übernommen von journal21.ch
17. Dezember 2023

Mittelmass, Pisa

Schweizer Schülerinnen und Schüler liegen über dem internationalen Durchschnitt, im Lesen allerdings nur ganz knapp. Ein Viertel versteht einen alltäglichen Text nicht. Das sagt die PISA-Studie. Von der Bildungspolitik hätte man eine Ursachenanalyse erwartet. Doch sie redet die Resultate schön und gibt ihnen das Prädikat «gut» bis «sehr gut».

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, liebe Freunde, dass unsere Schulen im Hinblick auf das Hervorbringen gut gebildeter junger Menschen, die eine anspruchsvolle Lehre absolvieren oder eine Hochschule besuchen können, meist nur mässig abschneiden, ist seit langem bekannt. Die neue Pisa-Studie belegt diese Bildungsmisere erneut. Carl Bossard, den wir schätzen und dessen profunde Texte wir seit Jahren unseren Lesern immer wieder empfehlen, weist auf eine wichtige Frage hin, warum Bildungsverantwortliche, z.B. auch die Schweizer Bildungsdirektorin über das schlechte Abschneiden der Schweiz, nicht alarmiert zu sein scheinen. Im vorliegenden Artikel zeigt er den Ausweg auf und schreibt: «Die Bildungsforschung weist den Weg.» Er zitiert die bekannte ‘Hattie-Studie’, die die Persönlichkeit des Lehrers hervorhebt und die Lehrer-Schüler-Beziehung in den Fokus stellt. Das ist so neu nicht, hat doch Erasmus von Rotterdam bereits vor 500 Jahren erkannt: «Der erste Schritt zum Lernen ist die Liebe zum Lehrer.» Als Folge daraus, wäre es nur konsequent und überaus sinnvoll, wenn unsere pädagogischen Hochschulen den Schwerpunkt bei der Qualifikation ihrer Studenten vor allem auf die Beziehungsfähigkeit legen würden. Wenn ein erfahrener Pädagoge wie Carl Bossard 2016 sagt: «Das pädagogische Leben spielt sich in den Beziehungen ab», dann sollte vernünftigerweise die Politik hier Ziele setzen und dafür Kapazität frei machen. Herzlich Margot und Willy Wahl

Schule und Unterricht seien ein Subsystem der Bildungspolitik; so jedenfalls sieht es der Systemtheoretiker Niklas Luhmann.[1] Steuern müsse die Politik. Seit Jahren aber sind Bildungsexperten und Bildungsreformer am Werk. Sie bestimmen den Kurs, und die Bildungspolitik rudert mit. Verstärkt nach der ersten PISA-Studie von 2000. Hier schlug ihre Stunde. Seither wurde unsere Bildungslandschaft radikal reformiert und umstrukturiert. 

Deutlicher Trend nach unten   – trotz vieler Reformen

Alles sollte sich ändern. Erhofft und versprochen haben die Reformpromotoren bessere Lernleistungen unserer Schülerinnen und Schüler. Das ist nicht eingetreten. Im Gegenteil. Nach einem leichten Anstieg wurden die Ergebnisse nach 2010 im internationalen Vergleich wieder schwächer. Es kam zu einem deutlichen Abwärtstrend in den Kulturtechniken. Seit über zehn Jahren sinken die Leistungen in den geprüften Bereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften kontinuierlich Und dies, obwohl wir heute zweieinhalb Mal so viel ins Bildungssystem investieren wie 1996, nämlich über 41 Milliarden Franken.[2] Weltweit wohl am meisten.

Signifikanter Anstieg schwacher Leserinnen und Leser

Das «Programme for International Student Assessement» (PISA) untersucht alle drei Jahre, wie gut 15-Jährige am Ende ihrer obligatorischen Schulzeit alltagsrelevante Aufgaben in Mathematik, im Lesen und in den Naturwissenschaften lösen können. Spitzenreiter sind Jugendliche aus den asiatischen Staaten Singapur, Japan, Taiwan und Südkorea; im europäischen Raum ist es Estland. Für die Studie verantwortlich zeichnet die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). 

In der jüngsten Studie 2022 liegen die 15-​jährigen Jugendlichen in der Schweiz zwar über dem OECD-​Durchschnitt. Zufrieden sein darf man einzig mit dem Bereich Naturwissenschaft. Hier wurde der Trend nach unten gestoppt. Sorgen bereitet aber die grösser werdende Zahl lernschwächerer Schülerinnen und Schüler. Statistisch signifikant gestiegen ist der Anteil schwacher Leserinnen und Leser. 25 Prozent der geprüften Jugendlichen können nur ungenügend lesen. Einen alltagsnahen Text können sie zwar entziffern, verstehen ihn aber nicht. In Mathematik erreichen 20 Prozent die Mindestkompetenzen nicht. Es sind Risikoschüler. Das beunruhigt.

Unterschiedliche Wahrnehmungen für das Gleiche

Die Zahl benachteiligter Schülerinnen und Schüler steigt. Da stimmt doch das Prädikat von «guten» bis «sehr guten» Resultaten nicht. Die positive Einschätzung stammt von der Zürcher Bildungsdirektorin Silvia Steiner; sie präsidiert die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Ob die offizielle Bildungspolitik hier nicht schönredet und sich mit dem noch schwächeren Abschneiden vergleichbarer Länder tröstet? Die Botschaft   – PR-mässig orchestriert und professionell inszeniert   – hört man wohl, allein es fehlt der Glaube. 

Ganz anders reagiert Deutschland. Unser nördliches Nachbarland ist in Mathematik markant zurückgefallen; beim Lesen allerdings liegt es nur wenig hinter der Schweiz. Trotzdem sprechen die Medien von einem «neuen PISA-Debakel»[3] oder vom «Pisa-Schock 2»,[4] gar von einem «Scherbenhaufen».[5] Beim Rückgang der Lesefähigkeit sei es «kein Trost, dass es um sie in Österreich und der Schweiz nicht viel besser [als in Deutschland] bestellt ist», schreibt beispielsweise der FAZ-Feuilleton-Redaktor Jürgen Kaube.[6]

Wiederkehr des ewig Gleichen

Auch bei den Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen spricht die deutsche Bildungspolitik Klartext. Sie fordert in der Primarschule ein konsequentes Hinführen auf die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. «Angesichts der veränderten Schülerschaft müssen wir mehr Zeit und Konzentration für das Erlernen der Basiskompetenzen» einsetzen, betont der Hamburger Schulsenator Ties Rabe.[7] Das brauche genügend Zeit zum Üben, fügt er gleich bei. Rabe hat Hamburgs Schulen vorangebracht. Mit seinem Postulat steht er darum nicht allein. 

Nach solchen Tönen sucht man bei der Schweizer Bildungspolitik vergebens. Die offizielle Bildungspolitik flüchtet sich in schon Gehörtes und bereits Bekanntes. Es ist die Wiederkehr des ewig Gleichen mit den alten Antworten: Schuld seien soziale Herkunft der Kinder oder zu grosse Klassen und natürlich die zu frühe Niveau-Selektion. Mädchen hätten halt Angst vor der Mathematik, und es bräuchte mehr Fördermassnahmen, sprich Geld. Vergessen geht der Blick ins Klassenzimmer und auf den Unterricht. In diesen Kern hinein zoomen die Analysen nicht. Kein Wort zu den überfüllten Lehrplänen und den minimierten Übungszeiten, keine Zeile zu den Methoden, kaum ein Hinweis auf die zunehmend schwierigeren Arbeitsbedingungen im pädagogischen Parterre mit der anspruchsvollen Integrationsleistung. Dabei spielen Lehrerinnen und Lehrer und ihr guter, konkreter Unterricht vor Ort die Schlüsselrolle. Unterricht ist ein lokales Geschehen. Das zeigt die Forschung; doch das steht nicht im Fokus der Kommentare.

Chancengleichheit sinkt

Der Zuschnitt der PISA-Studien misst und vergleicht; er zeigt Zahlen und Tendenzen. Die Ursachenanalyse muss vor Ort erfolgen. Im Grunde aber bringt der Befund von 2022 nicht viel Neues. Wir wissen es seit über zehn Jahren: Die Lernleistungen in den Basisfächern sinken. Was dabei bedrückt und vermutlich eines der grössten Probleme darstellt: Die unzähligen Schulreformen haben die Chancengleichheit kaum verbessert. Im Gegenteil! Die Zahl der eher schwächeren Schülerinnen und Schüler nimmt zu. Gerade sie leiden am stärksten unter den überfüllten Lehrplänen   – und darunter, wenn den Lehrkräften Zeit und Möglichkeit fürs Üben und Anwenden fehlen. Ausserdem setzt der heutige Unterricht über das Individualisieren stark auf selbstständiges Lernen. Das überfordert viele und bevorteilt die eh schon lernstarken Kinder.

Benachteiligung gewisser Kinder

Aus der Forschung wissen wir, wie wirkungsvoll ein gut geführter und strukturierter Unterricht ist   – schülerzentriert, sachorientiert, aber lehrergesteuert. Der Neurobiologe Joachim Bauer spricht von «verstehender Zuwendung»   – bei gleichzeitiger Klarheit und Führung. Gerade sozial benachteiligte Kinder seien darauf angewiesen. Oder wie es der kürzlich verstorbene, linksliberale Pädagoge Hermann Giesecke formuliert hat: «Nahezu alles, was die moderne Schulpädagogik für fortschrittlich hält, benachteiligt die Kinder aus bildungsfernem Milieu.» 

Diese Problematik anzugehen, das sollte doch eine der zwingenden Konsequenzen aus den PISA-Ergebnissen 2022 sein. Allerdings müssten viele Bildungsreformer über den eigenen Schatten springen. Gefordert ist die Bildungspolitik. Sie muss handeln und steuern. Die Bildungsforschung weist den Weg.[8]

Carl Bossard
Carl Bossard, Dr. phil., dipl. Gymnasiallehrer, war Rektor des Nidwaldner Gymnasiums in Stans, Direktor der Kantonsschule Alpenquai Luzern und Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule PH Zug. Heute leitet er Weiterbildungen und berät Schulen. Sein Hauptinteresse gilt bildungspolitischen und gesellschaftlich-historischen Fragen. Publikationen unter http://www.carlbossard.ch/

[1]Niklas Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Lenzen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2002.

[2]https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen/oeffentliche-bildungsausgaben.html [abgerufen: 14.12.2023]

[3] Heike Schmoll: Das neue PISA-Debakel. In: FAZ, 06.12.2023, S. 1.

[4] Uwe Ebbinghaus: Pisa-Schock 2. In: FAZ, 06.12.2023, S. 9.; 

[5] Thomas Kerstan: Nachhilfe gesucht. In: DIE ZEIT, 07.12.2023, S. 1

[6] Jürgen Kaube: Kompetenz setzt Kenntnis voraus. In: FAZ, 12.12.2023, S. 9.

[7]Heike Schmoll: Das gab es noch nie. In: FAZ, 06.12.2023, S. 5.

(8) Vgl. die neueste Studie mit 130’000 empirischen Daten zum guten Unterricht: John Hattie: Visible Learning: The Sequel   – A Synthesis of Over 2,100 Meta-Analyses Relating to Achievement. London, New York: Routledge, 2023.

Quelle: https://www.journal21.ch/artikel/loblied-aufs-mittelmass

 

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