Immer mehr Jungen leben in einer anderen Welt. Sie sind gefühlsmäßig nur schwer erreichbar und werden in der Schule von den Mädchen abgehängt
Immer mehr Jungen leben in einer anderen Welt. Sie sind gefühlsmäßig nur schwer erreichbar und werden in der Schule von den Mädchen abgehängt
von Dipl.-Psych. Dr. Rudolf Hänsel, Lindau (Bodensee)
Eltern und Lehrer stellen übereinstimmend fest, dass es immer schwieriger wird, Jungen gefühlsmäßig anzusprechen. Gleichzeitig kommen deutsche Bildungsberichte 2012 zu dem Ergebnis, dass Mädchen die Jungen in der Schule von Jahr zu Jahr mehr „abhängen". Als Ursachen für die Bildungsunterschiede werden öfter diagnostizierte Sprachentwicklungsstörungen der Jungen sowie fehlende männliche Erzieher in Kindergärten und Schulen genannt. Die zu häufige Nutzung digitaler Medien und das exzessive Spielen von Computerspielen werden nicht erwähnt, obwohl seriöse Medienwirkungsforscher seit Jahren davor warnen, dass die schulischen Leistungen und Abschlüsse der Jungen darunter leiden werden.
Eine engagierte Lehrerin einer Realschule erzählte mir vor kurzem, dass von ihren 30 Schülern einer 6. Klasse (12 J.) nur ein Drittel Jungen sind. Diese seien „ausnahmslos im Gefühl nicht mehr ansprechbar". Es dauere sehr lange, bis es ihr gelingt, ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Auch fiele es den Jungen immer schwerer, sich auf das Lernen zu konzentrieren. Sie empfinde, dass „die Jungen in einer anderen Welt leben". Sie selbst und viele ihrer Kollegen seien ratlos, wie gefühlsmäßig noch an diese Jungen heranzukommen sei. Und die Mädchen der Klasse fänden die Buben „blöd", weil sie sich mit ihnen nicht vernünftig unterhalten könnten. Sie würden die Mädchen nur „komisch anmachen".
Ein Vater, der seinen Sohn ans Internet verloren hat und daraufhin mit seiner Frau eine Initiative für Rat suchende Eltern gründete, berichtete mir von einem bayerischen Gymnasiallehrer, der ihn dringend zu einem Vortragsabend für Eltern zur suchtartigen Spielleidenschaft der Buben einlud. Thema: „Was die Onlinesucht mit Kindern und Jugendlichen macht." Viele Schülereltern würden mit ihren Söhnen nicht mehr klar kommen, weil diese ständig am Computer sitzen, die Schule und häusliche Gemeinschaft vernachlässigen und mit den Eltern nicht darüber sprechen wollen.
Aber nicht nur Eltern und Lehrer beobachten ein verändertes Verhalten der Buben. Auch neuere Bildungsberichte machen darauf aufmerksam. So kommt der vom bayerischen Kultusministerium in Auftrag gegebene Bildungsbericht 2012 von Anfang Dezember zu dem Ergebnis:
„Schon bei der Einschulung werden Jungen häufiger zurückgestellt als Mädchen, sie treten seltener an Realschulen oder Gymnasien über, wiederholen häufiger eine Jahrgangsstufe, profitieren seltener von Schulartwechseln und nehmen weniger häufig Anschlussmöglichkeiten wahr. Am Ende ihrer Schullaufbahn sind die jungen Männer im Durchschnitt älter als ihrer Mitschülerinnen, sie schneiden bei den zentralen Abschlussprüfungen schlechter ab und erwerben seltener den mittleren Schulabschluss oder das Abitur. Diese Unterschiede haben sich in den letzten Jahren kaum verändert."
Der 4. Deutsche Bildungsbericht 2012 und der 1. Dresdner Bildungsbericht 2012 kommen zu ähnlich beunruhigenden Ergebnissen: Sie sprechen von „zunehmenden Bildungsmisserfolgen von Jungen" (www.bildungsbericht.de) bzw. von einem
„geringeren Bildungserfolg (...), der sich oftmals auch durch die Schul- und Ausbildungszeit fortzieht".
(1.Dresdner-Bildungsbericht.pdf)
Die Gründe dafür, dass Mädchen die Jungen in der Schule überholt haben und Jungen gefühlsmäßig immer schwerer zu erreichen sind, werden vielfältig und individuell verschieden sein – entsprechend der Beziehung und dem Umgang der Eltern, Lehrer und Erzieher mit ihnen. Aber eines ist unbestritten und erfordert die größte Aufmerksamkeit und Fürsorge aller Erziehenden: Die digitalen Medien absorbieren heutzutage viele unserer Jungen bewusst oder unbewusst den ganzen Tag über. Entweder beschäftigen sie sich gedanklich mit dem letzten Computerspiel und dem Verfehlen der erforderlichen Punktzahl oder mit ihrem Spiel-Clan, mit dem sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt im Netz verabredet haben. Gleichzeitig fiebern sie der nächsten passenden Gelegenheit entgegen, um das neueste Videospiel auf ihrem Handy auszuprobieren.
Wenn Kinder und Jugendliche sich allzu häufig mit Videospielen die Zeit vertreiben, schreibt Prof. Manfred Spitzer in seinem Buch „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen", führe das ohne Zweifel zu schlechteren Schulleistungen. Und da die Jungen die Problemgruppe unter den Spielern darstellten, sieht er ihre intellektuellen Fähigkeiten durch Video- und Computerspiele massiv gefährdet (s. Zeit-Fragen Nr. 46 v. 29.10.2012). Auch das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) weist immer wieder darauf hin, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Mediennutzung, Schulerfolg und der Krise der Jungen (2003 u. 2006). „Jeder dritte Junge" prophezeite KFN-Direktor Prof. Christian Pfeiffer bereits 2004, „drohe in die Falle von Fernsehen, Internet und Videospielen abzurutschen" (www.spiegelonline.de v. 27.04.2004). Heute sind wir so weit.
Zur Person
Dr. Rudolf Hänsel
Der 67-jährige gelernte Grund- und Hauptschullehrer studierte nach mehreren praktischen Erfahrungen an verschiedensten Schulen Psychologie und wurde zum Experten für Gewaltprävention. Er war zwischen 2001 und 2007 Rektor und Leiter der Staatlichen Schulberatungsstelle für München und den Landkreis München. Er ist Buchautor und Autor von mehreren Fachartikeln. Sein bekanntestes Werk „Game Over! Wie Killerspiele unsere Jugend manipulieren" erschienen im Kai Homilius Verlag. Dr. Rudolf Hänsel lebt in Lindau, wo er eine Praxis für Psychotherapie und psychologische Beratung führt.
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