Schreiben lernen
In der Schweiz hatte sich Genf bereits im Jahr 2000 für einen Schreibunterricht ausschliesslich in Druckschrift entschieden. Im Jahr 2002 ist der Kanton aber wieder davon abgekommen. Seither wird wieder die verbundene Schrift unterrichtet, weil die Zwischenräume bei der Druckschrift den Kindern Probleme bereiteten. Bei der verbundenen Schrift hingegen ist das ganze Wort sofort erkennbar.
Ein anderes Argument zugunsten der verbundenen Schrift ist das kinästhetische Gedächtnis: Ein einziger Schwung erlaubt es, eine ganze Silbe in einem Zug zu schreiben. Zum Beispiel kann man das Pronomen «elle» [= sie] mit einer einzigen Bewegung formen und damit der Hand ermöglichen, sich an das doppelte «l» zu «erinnern».
Die Unterschiede zwischen der Druckschrift und der verbundenen Schrift zeigt folgender Vergleich.
Die Druckschrift
Die Druckschrift reproduziert die typographischen Buchstaben. Ihre Verbreitung im 20. Jahrhundert wird dem Kalligraphen und Schriftsetzer Edward Johnston (1872 –1944) zugeschrieben. Sie wurde nicht dafür entwickelt, um von Hand geschrieben zu werden. Sie ist unpersönlicher als die verbundene Schrift.
Die Bewegungslinie ist weniger anspruchsvoll als bei der verbundenen Schrift, die Geschwindigkeit des Schreibens wird durch das häufige An- und Absetzen des Schreibwerkzeuges verlangsamt, da jeder Buchstabe vom anderen getrennt ausgeführt wird. Man beginnt mit der Handbewegung, muss aber nach jedem Buchstaben stoppen. Damit verliert der Schriftzug an Schwung. Die Druckschrift verlangsamt das Schreiben und erschwert das Erfassen des Wortes in seiner Ganzheit.
Das grösste Problem der Kinder beim Erlernen der Druckschrift, also dem Schreiben eines Textes in Einzelbuchstaben, ist der Umgang mit den Zwischenräumen. Wo beginnt und wo endet das Wort? Das ist oft nicht eindeutig. Zum Beispiel unterscheidet sich der Abstand zwischen den Wörtern einerseits und dem der Buchstaben andererseits, die Anfänge und die Richtungen müssen für jeden Buchstaben neu bestimmt werden.
Die verbundene Schrift
Die verbundene Schrift – im Französischen «écriture cursive», «écriture en lettres attachées», «écriture liée» oder «écriture courante» – wird im Deutschen auch Schreibschrift oder Langschrift genannt. Sie reicht in die frührömische Zeit zurück und wurde im 14. Jahrhundert im Westen eingeführt. Sie wird traditionell als wichtigste Schrift angesehen, als die «Alltags-Schrift».
Ihr Hauptcharakteristikum ist, dass man sie schnell schreiben kann. Das Schreibwerkzeug gleitet über das Blatt, verbindet die Buchstaben miteinander, setzt nur zwischen den Wörtern ab und hält so den Fluss der Gedanken aufrecht. Forschungen belegen, dass man in verbundener Schrift schneller schreibt als in Druckschrift. Effizienz in der Bewegung erlangt man nur, wenn man gelernt hat, Buchstaben und Wörter in einer flüssigen, dynamischen Bewegung zu formen.
Bei der Druckschrift ist die Form des Buchstabens das Ordnungselement; bei der Schreibschrift ist es die Bewegung. Wissenschaftler haben eindeutig nachgewiesen, dass die Schreibbewegung sowohl für das Erlernen als auch für das Erinnern der geschriebenen Sprache von zentraler Bedeutung ist.
Velay und Longcamp konnten in einer Studie (2005) zeigen, dass der motorische Bereich des Gehirns, der beim Schreiben der Buchstaben von Hand betroffen ist, durch das Wiedererkennen der Buchstaben beim Lesen ebenfalls aktiviert wird. Diese Erinnerungsspur scheint wichtig zu sein, um die Kenntnis der Buchstaben beim Lesen wie auch beim Schreiben zu festigen.
Longcamp, Zerbato und Velay (2005) verglichen zwei Gruppen von Primarschülern. Die eine Gruppe lernte, die Buchstaben von Hand zu schreiben, die andere auf der Tastatur. Es zeigte sich, dass die Schüler, die eine Handschrift erlernt hatten, die Buchstaben besser erkannten als die anderen.
Schulung der Feinmotorik
Verbundene Schrift ist eine Schulung der Feinmotorik, die es ermöglicht, einen Schreibfluss zu erwerben. Mit 9 oder 10 Jahren entwickelt das Kind seine persönliche Handschrift, gewinnt an Leichtigkeit und Schnelligkeit im Schreiben.
Die Verbundschrift begünstigt das Einprägen der Orthographie, denn sie gräbt sich sowohl im kinästhetischen als auch im visuellen Gedächtnis ein. Das Wort wird leichter als lexikalische Einheit erkannt, wenn es eindeutig identifizierbar ist und damit als Ganzes – nämlich als miteinander verbundene Buchstaben – in der Erinnerung bleibt.
Beim Lernen der geschriebenen Sprache sind also sowohl das sensomotorische als auch das kinästhetische Gedächtnis und das visuelle Gedächtnis beteiligt. Mit Hilfe von bildgebenden Verfahren des Gehirns konnte gezeigt werden, dass gerade die Bewegung beim Schreibenlernen extrem wichtig für das Lesenlernen ist. Ausserdem kann man sich besser an Notizen erinnern, die man per Hand geschrieben hat, als an solche, die man Buchstabe für Buchstabe auf einer Tastatur erstellt hat.
Laura Dinehart von der International University Florida schreibt: «Es gibt eine starke Korrelation zwischen der frühzeitigen Beherrschung des Schreibens und dem Schulerfolg.» Das Schreiben sowie die Fähigkeit, diesen Vorgang selbst zu steuern, erlauben es, die eigenen Gefühle zu kontrollieren und sich an die erledigte Arbeit zu erinnern. Das alles sind Fähigkeiten, die für den Schulerfolg von grossem Nutzen sind.
Dinehart stellt auch fest, dass «das Beherrschen der Kalligraphie einen unvergleichlichen Effekt für die Entwicklung des Kindes zu haben scheint.»
Kalligraphie – griechisch kailos = schön und graphein = schreiben – heisst wörtlich «die schöne Schrift», also die Kunst, die einzelnen Buchstaben der Schrift schön zu formen. Mit dem Erlernen der Kalligraphie werden die Freude am Schönen, der Sinne für Fleiss, Konzentration und Präzision, Ordnung und Harmonie, der Reichtum des kulturellen Erbes weitergegeben. Mit dem benutzten Material, dem Geruch der Farben und der Tinten wird das Schreiben zu einer Kunst, einer Reise durch die Jahrhunderte.
Eine schöne Feder, eine Qualitätstinte, samtweiches Papier, welch eine Freude!
Während eines Kalligraphie-Ateliers, in dem meine Schüler die Kunst der mittelalterlichen Buchmalerei kennenlernten, konnte ich die Freude erkennen, die sie in einer ruhigen konzentrierten Atmosphäre beim Ausformen des ersten Buchstabens ihres Vornamens auf ein Kärtchen in Frakturschrift erlebten. Mit den Verzierungen, den Schnörkeln, der genauen Bewegung und einem ästhetischen Sinn für die Form entdeckten sie eine weitere Möglichkeit, ihren Vornamen schön zu schreiben.
Die Qualität der Schrift ist Teil der Kommunikation
Ein Blatt Papier wird noch lange bevorzugte Unterlage für die schriftliche Kommunikation bleiben. Zum Vergnügen der Augen und des Geistes wird es seinen Wert behalten. Die Qualität der Schrift ist dabei Teil der Kommunikation.
Erst wenn das Kind richtig schreiben gelernt hat, wenn es seinen Stift richtig halten kann, wenn es die räumlichen Abstände beherrscht (Dimension und Proportion der Buchstaben, Respektieren der Linien usw.), ist es in der Lage, sich zu überlegen, was es schreibt. Andernfalls braucht es seine ganze Aufmerksamkeit, um mit dem Stift den richtigen Weg auf dem Papier zu suchen.
Oberste Priorität für Schule und Elternhaus muss es sein, wieder konsequent die Handschrift zu fördern. Die Neurowissenschaften haben ihre Bedeutung für das Lesen bewiesen.
Literaturangaben
- Velay, J.-L.; Longcamp, M. Clavier ou stylo comment écrire? In: Cerveau&Psycho no 11, 2005
- Bauerlein, Valerie. The new script for teaching writing is no script at all. The Wall Street Journal du 30/1/13
- Ecriture liée, du mouvement global au geste fin, publication du Département de l’Enseignement public de Genève, 2002
- Larcher, Jean. La calligraphie occidentale: sa pertinence dans la société contemporaine de 1906 à nos jours. In: Communication et langage, vol. 93, 1992
- VNI VousNousIls, e-mag de l’éducation. Ecriture cursive: en 2016, la Finlande privilégiera le clavier à l’école, 12/8/15
- Dinehart, Laura. Good handwriting and good grades: FIU researcher finds new link. In: FIU Magazine, Florida International University (FIU), 18/1/12
Kinder, die nicht mehr schreiben können
«Zwischen 10 und 30 % der Primarschüler haben gemäss Studien aus mehreren Ländern Schwierigkeiten beim Schreiben. – Schuld daran sind die vielen Arbeitsblätter und die mangelnde Übung. […]
Verkleckerte Hefte, unförmige Buchstaben und ständig die gleichen Bemerkungen der Lehrpersonen: ‹Unlesbar›, ‹zu langsam›, ‹unsorgfältig›. Am Ende der 1. Klasse sind 30 % der Schüler nicht in der Lage, einen lesbaren Text zu schreiben. Gemäss einer belgischen Studie von 2016 mit 2507 Schülern haben sie das Formen der Buchstaben und die Richtung der Schrift nicht erlernt. Gemäss drei von 2000 bis 2016 erstellte Studien aus Quebec, Israel und den Niederlanden haben zwischen 10 und 30 % der Primarschüler Schreibprobleme, die auf ‹graphomotorische› Schwierigkeiten zurückzuführen sind. […]
Die Sorgen der Eltern sind nicht unbegründet, denn die Fortschritte beim Erlernen des Lesens und der Orthographie sind eng mit dem Erlernen der Schrift verbunden.
Die Forscherin Natalie Lavoie beschreibt dies in ihrem 2016 erschienen Buch ‹Le Geste graphique au début de l’école primaire› [Das Erlernen der Schrift am Anfang der Primarschule] folgendermassen: ‹Die Leistungen in der Rechtschreibung hängen nicht nur von den Kenntnissen der Wörter oder der Schreibweise der Kinder ab, sondern auch von ihrem Stand in der Beherrschung der Schrift an sich […]. Das Erwerben einer flüssigen und automatischen Schreibbewegung erlaubt ihnen, kognitive Ressourcen und Aufmerksamkeit freizusetzen, um sich anderen Aspekten des Schreibens zuwenden können. […]›
Aber wie soll man sich die ‹explosionsartige Verbreitung› ungeübter Schriften, wie sie von einem Teil der Lehrpersonen moniert wird, erklären? ‹Viele Schüler halten ihren Stift falsch und das Blatt Papier nicht in der richtigen Richtung. Sie schreiben nicht auf die Linien und vermischen die Schreibweise gewisser Buchstaben miteinander. Dies betrifft mindestens ein Drittel meiner Schüler in jeder Klasse›, bestätigt Lise Micheli, Sprachlehrerin in einer öffentlichen Oberstufenschule in Yvelines (F). Laurence Pierson ergänzt, dass das systematische Erlernen des Haltens des Stifts ‹bereits im Kindergarten und in der 1. Primarklasse aufgegeben wurde›. Vorgefertigte Arbeitsblätter gibt es zuhauf, was als einfache Lösung angesehen wird, um die für Schreibarbeit der Schüler aufgewendet Zeit zu reduzieren und so seinen Stoff schneller durchbringen zu können.»
Zusammenhang von Schreiben und Denken wird nicht bedacht
«Welche Verkennung des Zusammenhangs von Schreiben und Denken! Als ob sich Gedanken klar sortiert im Kopf befänden und durch Schrift bloss noch anderen zugänglich zu machen wären. So läuft das nicht einmal bei hochkarätigen Schriftstellern, schon gar nicht bei Kindern. Gedanken bekommen durch mündliche und schriftliche Äusserungen überhaupt erst klare Kontur. Schrift ist eine mentale Kläranlage. Beim Aufschreiben werden Worte, Sätze, Gedanken manuell auseinandergelegt, versachlicht und auf einer Fläche fixiert. Das Schreiben nötigt dazu, bei ihnen zu verweilen. Schreiben ist eine Geste der Hingabe. Ein Kind, das sie lernt, muss wie kaum je zuvor seine Motorik und Aufmerksamkeit mit beträchtlicher Ausdauer auf einen Punkt hin zusammennehmen: die Spitze eines Stifts. Regelmässige, kontinuierliche Schreibbewegungen sind in der Phase ihres Erlernens eine hohe Koordinations- und Konzentrationsleistung. Schreibschrift legt auseinander und fügt zugleich zusammen. Sie schafft ein Gespür für das Verhältnis von Teilen und Ganzem. Oder in Worten von Nietzsche: ‹Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken›.»
Quelle: Christoph Türcke, «Lernen ohne Lehrer – Abgründe neuer Lernkultur», Zeit-Fragen Nr. 3/4 vom 31.1.17
(http://www.zeit-fragen.ch/de/ausgaben/2017/nr-34-31-januar-2017/lernen-ohne-lehrer.html)
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