Ganser und die «chinesische Diktatur»
Geschätze Leserin, geschätzter Leser,
häufig erhalten wir Hinweise zur Publikation. Kürzlich von einem Seniora-Leser zu Daniele Gansers Vortrag *«Corona und China: Eine Diktatur als Vorbild?». Das China-Bashing «Diktatur» ärgert uns schon lange, da wir denken, dass die meist negative Darstellung Chinas in unseren westlichen Medien von Überheblichkeit und historischer Unkenntnis getragen ist. Unserem Hinweisgeber sandten wir eine Leseempfehlung für Herrn Ganser zum chinesischen Denker Mencius*, der vor 2300 Jahren Wesentliches zur Menschlichen Natur beigetragen hat. Und wir baten unseren Freund und China-Interessierten, Wolf Gauer, um eine kurze Einschätzung, die wir Ihnen hier gerne weitergeben. Herzlich Margot und Willy Wahl
Zunächst bin ich dankbar für den Verweis auf Mencius. Auch weil Ihr damit den unerlässlichen Schritt gemacht habt, aus unserer unmittelbaren, aktualitätsgebundenen Diskussion und ihrer «politisch korrekten» Parteilichkeit in die so viel wichtigere historische Dimension überzuleiten, die die Grundlagen zu einer der kompliziertesten und faszinierendsten Hochkulturen des Planeten erbracht hat.
Chinas Eigenart, seine gesellschaftlichen Organisationsformen und Grundvorstellungen sind zwar von europäischen Denkern verstanden und bewundert worden. Seine westlichen Kolonisatoren aber haben sie regelmäßig herabgewürdigt, wann immer das politisch und ökonomisch opportun war. China-Bashing ist nun längst wieder in; wir alle wissen warum. Aber Chinas Stabilität und Überlebenskraft sind stärker denn je. Es ist ja inzwischen wirklich das «Land der Mitte», das Zentrum der Weltwirtschaft.
Trotzdem greift Ganser als ausgewiesen kritischer Denker, zum simplen Etikett «Diktatur», wohl wissend, dass dessen Gebrauch sich vor allem durch Selbstbetrug charakterisiert und durch das marktgerechte Behaupten einer vordergründigen westlichen Meinungshoheit. Ich komme darauf zurück.
Dass es der chinesischen Republik, und schließlich Mao Tse Tung und seinen Mitkämpfern geglückt ist, China auf einem äußerst rauhen und gewundenen Pfad aus unvorstellbarem Elend und grotesker Bevormundung herauszuführen, und dass die KPCh einen kontrollierten Kompromiss zwischen Sozial- und Kapitalinteresse zuwege gebracht hat, kann der Westen nicht verzeihen. Chinas letzte 100 Jahre sind ein Lehrstück sondergleichen, mit dem man sich vertraut machen sollte.
Verkürzt: Die resultierende zentralistische Demokratie Chinas garantiert demokratische Vernunft und (konfuzianischen) Gemeinsinn im Alltäglichen, im Zusammenleben ohne Hunger und Elend. Aber auch die Akzeptanz einer straffen Kontrolle und Reaktionsfähigkeit gegenüber der angesagten westlichen Bedrohung und der Machenschaften ihrer Zuarbeiter.
Dies mit «Diktatur» gleichzusetzen, halte ich nicht für gerechtfertigt. Ich erinnere an den Fall des kürzlich gemaßregelten Milliardärs Jack Ma (Eigentümer des Ali-Baba-Konzerns und längst wieder aktiv). Ma, das chinesische Äquivalent des Amerikaners Jeff Bezos (Amazon), hatte seine Kompetenzen überschritten, indem er im Eigeninteresse die staatliche Oberaufsicht über das chinesische Bankwesen infrage stellte. Vermutlich ermutigt durch die Tatsache, dass im Westen das Finanzgewerbe längst die Wege des Staates bestimmt.
Vergessen wir nicht: Brzezinskis und Kissingers Forderungen gelten weiterhin, die Volksrepublik China ist zu zerstören. Doch die bisherigen Mittel und Tricks haben weder in Tibet, noch in Hongkong oder Xinjiang (Uiguren) gegriffen. Chinas Wachsamkeit und Überleben ist deshalb ohne staatlichen Autoritarismus und Härte unvorstellbar. Eine Bevölkerung von 1,3 Milliarden und die Diversität ihrer 55 ethnischen Minderheiten und autonomen Bezirke laden natürlich zu Farbrevolution und ähnlichen Inszenierungen ein. China ist nun mal keine Agora der Antike, auf der sich jeder kennt, auf der familiär debattiert wird, während die Sklaven den Alltag bewältigen. Unsere immer wieder beschworene westliche Demokratie, erst recht in ihrer heutigen repräsentativen und lobby-verseuchten Form, ist ja ohnehin und unter wesentlich einfacheren Umständen zu einem Formalismus verkommen, der längst nicht mehr seinem konstitutionellen Auftrag gegenüber allen Klassen der Bevölkerung entspricht.
Natürlich weiß das auch Professor Ganser. Deshalb verstehe ich sein «China-Diktatur» zumindest teilweise als provokativ im Interesse einer weiterführenden Diskussion. Diese aber muss sich bei allen Partnern auf Grundinformationen und Kenntnisse stützen können, die aktuell - und nicht nur in den USA - weder vorhanden noch geschätzt sind. Es wäre sicher erhellend, vorab mal zu fragen «wer oder was ist Konfuzius (oder Mencius)»? Oder auch nach den bestimmenden Grundlinien der chinesischen Geschichte.
*Wolf Gauer, Filmemacher und Journalist, lebt seit 1974 in Brasilien. Er schreibt für die Zf. Ossietzky und andere deutschsprachige Periodika.
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*Dr. Daniele Ganser: Corona und China: Eine Diktatur als Vorbild? (Basel 5. Februar 2021) https://www.youtube.com/watch?v=xcjMUVrsBVg
* Was Menzius vor 2300 Jahren über die menschliche Natur lehrte
https://seniora.org/erziehung/die-soziale-natur-des-menschen/grundlagen/was-menzius-vor-2300-jahren-ueber-die-menschliche-natur-lehrte
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