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Interview mit chinesischer Ökonomin: «Alles, was China macht, zieht der Westen in den Dreck»

Die Wirtschaftsprofessorin Keyu Jin über unser angespanntes Verhältnis zu China und was wir im Westen an ihrem Land nicht begreifen.
Sven Behrisch (Das Magazin) Publiziert: 20.05.2021, 20:54
22. Mai 2021

Keyu Jin freundlich
Lehrt an der London School of Economics: die Pekinger Ökonomin Keyu Jin (39).

Das Magazin: Wieso ist das China-Bild in den westlichen Medien so negativ? Liegt das an China oder am Westen?

Keyu Jin: Ich glaube nicht, dass es an China liegt. Manche Länder, die USA zum Beispiel, haben ein strategisches Interesse an schlechter Presse zu China. Und das, obwohl sehr vieles, was aus China kommt, offensichtlich sehr positive Effekte für die Weltgemeinschaft hat   – der Ausbau der Infrastruktur in ärmeren Ländern etwa oder das Ankurbeln der Weltkonjunktur. Man kann alles immer auf gute und schlechte Weise interpretieren, und der Westen hat sich offenbar dazu entschieden, China im negativen Licht zu sehen, egal was es macht.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Das hat, soweit ich sehe, vor allem drei Gründe: Der erste betrifft das chinesische Entwicklungsmodell, also wie der chinesische Staat die Wirtschaft des Landes mit starker Hand und sehr erfolgreich führt. Das zweite ist Chinas globaler Anspruch. Die aktuelle Regierung agiert sehr selbstbewusst auf der politischen Bühne und China nimmt in Wirtschaft und Geopolitik eine zentrale und viel stärkere Rolle ein als noch vor wenigen Jahren. Diese Stärke mag viele verunsichern.

Und schliesslich ist China inzwischen ein ernstzunehmender, ein richtiger technologischer Rivale, vor allem gegenüber den USA. Das ist so ziemlich das erste Mal, dass Amerika dies passiert, seit es zur Weltmacht aufgestiegen ist. In letzter Zeit sind der Westen und China in einen hochkompetitiven Modus eingetreten. Das macht es für jene, die sich herausgefordert sehen, offenbar schwierig, über einen starken Wettbewerber positiv zu sprechen.

Zur Person

Keyu Jin, geboren 1982 in Peking, besuchte in New York die Schule, studierte Ökonomie in Harvard und lehrt seit 2016 als Professorin an der London School of Economics. Sie stammt aus einer in China einflussreichen Familie, ihr Vater ist Präsident der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank, einer von China dominierten Alternative zur Weltbank, der auch die Schweiz zugehört. Jin berät eine Reihe internationaler Organisationen und Unternehmen, darunter auch den in der Schweiz ansässigen Luxuskonzern Richemont. Seit Beginn der Corona-Pandemie hält sie sich in China auf.

Nicht zu vergessen sind einige problematische Entwicklungen wie der Umgang mit Hongkong oder mit der muslimischen Minderheit in Xinjiang.

Natürlich, auch das interpretiert der Westen auf seine Weise. Aber die Kritik daran hat ihren eigentlichen Grund ebenfalls in Chinas Stärke. Anders als früher einmal die Sowjetunion oder auf technologischem Gebiet Japan fordert China den Westen auf allen massgeblichen Bereichen, an allen Fronten heraus. Dabei ist es dem Westen in vielem fremd, es hat eine andere Sicht auf die Welt und eine andere Vision davon, wie sich die Welt entwickeln kann.

Meinen Sie, der Westen empfindet es als Demütigung, dass China nicht seine liberal-demokratische Ordnung übernommen hat?

Ja, natürlich ist das für viele eine Art Demütigung, zumindest etwas sehr Unerwartetes, und als solches ein feindlicher Akt. Ich dagegen finde es eine Bereicherung, dass es unterschiedliche Systeme gibt, politische und wirtschaftliche, kulturelle und ethnische, die nebeneinander koexistieren können. Ich glaube nicht, dass totale Konvergenz nötig ist. Und ich glaube ausserdem, dass die Welt ökonomisch davon profitiert, wenn China wirtschaftlich erfolgreich ist.

«Die chinesische Wirtschaft hat in vielen Bereichen die USA erreicht oder übertroffen und reduziert damit die Bedeutung des Westens.»

Trotzdem gibt es dabei auch Verlierer.

Ja, sicher, wir sehen eine Umverteilung. Die chinesische Wirtschaft hat in vielen Bereichen die USA erreicht oder übertroffen und reduziert damit die Bedeutung des Westens. Es reduziert dadurch aber nicht dessen absoluten Wohlstand, sondern nur relativ zu China. Und sicherlich trägt zu der Skepsis gegenüber China bei, dass der wirtschaftliche Aufschwung so anhaltend und rasant vonstatten geht.

Ist die Ablehnung wirklich einseitig? Seit der Ankündigung einiger Sport- und Modeketten wie Nike oder H&M, keine Baumwolle aus Xinjiang mehr zu verwenden, werden diese Unternehmen in China massiv von den Kunden boykottiert. Wie ist denn das Bild des Westens in China?

In den letzten Jahren haben die Spannungen zugenommen und ja, auch aufseiten der chinesischen Bürger. Ich glaube, wir müssen aber zwischen verschiedenen Gruppen unterscheiden. Die chinesische Öffentlichkeit ist ziemlich verärgert über das, was sie als Dämonisierung durch den Westen wahrnimmt. Die Leute haben den Eindruck, dass der Westen alles, was China macht, verleumdet und in den Dreck zieht. Viele Chinesen erfahren auch am eigenen Leib oder durch die Erzählungen von Freunden und Verwandten, wie Chinesen im Ausland behandelt werden, wie skeptisch ihnen begegnet wird.

Auf der Ebene der Eliten würde ich sagen, dass sie eher frustriert als verärgert sind, weil sie eine globalisierte Welt mit einer harmonischen Beziehung zum Westen sehen wollen, auch im Hinblick auf ihre wirtschaftlichen Interessen. Man darf nicht vergessen, dass viele in der chinesischen Elite stark vom Westen profitiert haben und ihn wirklich schätzen und lieben.

So wie Sie?

Ja, so wie ich. Ich liebe den Westen, ich habe viel von ihm gelernt, viel von ihm profitiert und tue dies bis heute. Ich liebe aber auch mein Land. Mich macht diese Lage daher sehr traurig. Eine dritte Ebene, die höchste, ist dann die politische Führung. Auch sie will gute Beziehungen zum Westen. Sie will kooperieren und harmonisieren, gleichzeitig aber auch Chinas Ziele verfolgen, so wie alle anderen Länder auch ihre Ziele verfolgen. Und natürlich muss die politische Führung in China die Interessen ihrer Bürger gegenüber Angriffen von aussen verteidigen. Das hat zu einer Zunahme nationalistischer Gefühle in China geführt. Leider ist es momentan so, dass der Populismus der einen Seite und der Nationalismus der anderen Seite sich gegenseitig hochschaukeln.

Kommen wir zu den Konfliktpunkten, welche die negative Presse über China derzeit dominieren, Xinjiang und Hongkong. Die   – teils auch handgreiflichen   – Demonstranten werden in der chinesischen Presse als Terroristen bezeichnet. Sind sie das?

«Terroristen» ist nicht das richtige Wort, um zu beschreiben, wie die meisten Chinesen die Hongkonger Demonstranten sehen. Die Menschen in China, insbesondere auch die jüngeren, sind sehr überzeugt von unserem System und den Möglichkeiten, die ihnen ihr Land bietet. Das Chaos in Hongkong überzeugt sie nur umso mehr davon, dass die Demokratie, so wie sie in Hongkong praktiziert wird, nicht die richtige Form für China ist.

Das heisst, was Sie und viele Chinesen an der Situation in Hongkong   – und damit an den Hongkonger Protesten   – ablehnen, sind nicht in erster Linie die Ziele der Demonstranten, sondern die Unruhe, die sie erzeugen?

Es ist beides. Aber vor allem ist es die Ablehnung von Chaos, denn Stabilität ist alles. Instabilität dagegen gefährdet Sicherheit und Wohlstand, die Früchte der Arbeit und ganz allgemein das Privileg, das Leben zu geniessen. Wir sehen, dass wir das in China können, es uns in Hongkong aber nicht möglich wäre. Es ist sehr schade, das zu sehen. Denn Hongkong war einmal ein vibrierender, kraftvoller, sehr internationaler Ort.

Sie sagen es: Das demokratische Hongkong war ein sehr stabiler Ort, bis die chinesische Regierung neue Regeln einführte, die zu eben dieser Instabilität führten. Ist also wirklich die Hongkonger Demokratie das Problem?

Die Instabilität rührt nicht von Peking her. Sie wurde von einigen Bürgern Hongkongs verursacht.

Ja, aber wegen neuer Regulierungen aus Peking. Die Ursache der Unruhen ist doch Peking, oder sehen wir das alle falsch?

Ich glaube schon. Die Instabilität hat tiefe, historische Wurzeln. Nun ist sie noch weiter gewachsen und ans Licht gekommen. Die Einkommensungleichheit war in Hongkong immer schon hoch, in den letzten Jahren ist sie aber nochmals enorm angestiegen.

Junge Menschen in Hongkong haben eine ziemlich deprimierende Zukunftsperspektive: Sie wissen, dass, egal wie viel sie arbeiten werden, sie nur mit Mühe, wenn überhaupt, sich jemals eine eigene Wohnung werden leisten können. Das ist unabhängig von irgendwelchen Regularien aus Peking. Unabhängig davon zählen die Wohnkosten in Hongkong zu den höchsten der Welt. Hongkong war und ist dominiert von einer Reihe superreicher Tycoons, aber von dem Geld, das sie anhäufen, landet nicht sehr viel bei der arbeitenden Bevölkerung.

«In Xinjiang gibt es Einrichtungen, in denen den Menschen die chinesische Sprache und Kultur vermittelt wird und wo man versucht, eine stärkere Verbindung zu dem Land herzustellen, in dem sie leben. Ich halte das für legitim.»

Auch im Rest von China wächst die Ungleichheit.

Die Verhältnisse lassen sich aber überhaupt nicht vergleichen. Auch die Bildung in Hongkong spielt eine Rolle. An Hongkongs Schulen wurde wenig und sehr oberflächlich die Geschichte Chinas gelehrt, was die Zugehörigkeit zu dem Land, dessen Teil sie sind, auch nicht gestärkt hat. Es gibt also eine riesige Lücke an Wissen, an Verständnis für China.

Man kann natürlich sagen, dass das zum Teil auch ein Fehler der chinesischen Regierung war, die Hongkong zunächst sich selbst überliess, um dessen ökonomischen Erfolg nicht zu gefährden. Aber es stellte sich heraus, dass dies dazu führte, dass der Graben zwischen Hongkong und China immer grösser wurde. Es gab zu wenig Austausch, zu wenig Kontakt zum chinesischen Mutterland. Wie bei vielen Krisenherden auf der Welt gab es in Hongkong vielleicht einen Auslöser für Gewalt und Proteste. Aber dieser Auslöser war sicherlich nicht die Ursache der Unruhen.

Kommen wir zu Xinjiang. Glauben die Menschen in China wirklich, dass es dort keine Internierungslager gibt? Oder stört es sie nicht?

Ich kann dazu nicht sehr viel beitragen, weil ich genauso wenig wie Sie vor Ort bin oder war. Ich glaube allerdings, dass es zu ungeheuren Übertreibungen gekommen ist in der westlichen Berichterstattung. Es gab Terrorattacken in der Region, was westliche Medien in der Regel ignorieren. Dass ein Staat versucht, Terror zu unterbinden, müsste eigentlich jedem klar sein. Andere Länder, die Terror bekämpfen, werden dagegen überhaupt nicht kritisiert, das ist doch merkwürdig.

Aber zu Ihrer Frage: Was wir aus der Region erfahren, ist, dass es dort Einrichtungen gibt, in denen den Menschen die chinesische Sprache und Kultur vermittelt wird und wo man versucht, eine stärkere Verbindung zu dem Land herzustellen, in dem sie leben. Ich halte das für legitim.

Gibt es einen Unterschied in der Wahrnehmung zwischen älteren und jüngeren Menschen, wenn es um Umerziehungsmassnahmen dieser Art geht? Viele ältere Chinesen haben während der Kulturrevolution selbst drastische Massnahmen des Staates über sich ergehen lassen müssen.

Ich will darauf sehr grundsätzlich antworten: Es gibt einen starken Sinn von Paternalismus zwischen der Regierung und der Bevölkerung, ähnlich dem zwischen Eltern und ihren Kindern. Dieser Paternalismus besagt: Ich weiss am besten, was gut für dich ist. Diese Haltung wird allgemein geteilt und gutgeheissen und ist nach meiner Beobachtung ziemlich unabhängig vom Alter.

«Kontrolliert zu werden ist für die Menschen in China nichts Negatives. Es wird erwartet, dass der Staat über sie wacht, sie schützt, sie fördert.»

Paternalismus hat also im Chinesischen keine negative Bedeutung, im Sinne von Bevormundung oder Freiheitseinschränkung?

Nein. Kontrolliert zu werden ist für die Menschen in China nichts Negatives. Im Gegenteil, es wird erwartet, dass der Staat über sie wacht, sie schützt und sie fördert.

Sehen das die grossen Technologiekonzerne in China auch so? Die Kommunistische Partei (KP) hat einige der grössten unter ihnen zurechtgestutzt und ihnen enge Grenzen gesetzt.

Ich finde das eine positive Entwicklung, und das sage ich als Ökonomin. China hatte lange Zeit eine tolerante Haltung gegenüber Monopolisten, weil es Unternehmergeist und Innovation stärken wollte. Aber jetzt ist die Zeit gekommen, da man sich um den Schutz der Konsumenten kümmern muss, deren Daten die Technologieriesen abgreifen. Man will kleineren Konkurrenten ermöglichen, in den Wettbewerb einzutreten und muss verhindern, dass Innovation nicht von Monopolisten unterdrückt wird. Die Massnahmen der Regierung gehen da alle in die richtige Richtung.

Vorher ging es in die falsche Richtung?

Nein, die Ziele waren andere. Es ging um Effizienz, um die Schaffung von National Champions, um Grösse. Jetzt, da die Innovation blüht, muss man einigen, die zu gross geworden sind und ihre Grösse ausnutzen, die Zügel anlegen. Dazu gehört auch, wie es nun geschieht, Unternehmen zu bestrafen, welche ohne Mandat die Daten ihrer Nutzer zu Geld machen. In den meisten Fällen dreht es sich um Finanzprodukte, vor allem um Kredite, welche Techfirmen auf der Grundlage ihrer Nutzerdaten an die Kunden vergeben. Die Regierung hat schon erkannt, dass diese Unternehmen dem Land auch enorm geholfen haben, indem sie Kleinkredite vergaben, Unternehmensgründungen ermöglichten und vielen Ärmeren halfen. Aber ohne Regulierung geht es eben nicht.

Nach dieser Interpretation schützt also das undemokratische China die Konsumentenrechte besser als der demokratische Westen, wo Facebook, Google, Amazon und Apple weitgehend unreguliert schalten und walten können?

Ja, ganz offensichtlich ist das so.

Geht es nicht eigentlich darum, dass der Staat keine anderen Informationsmonopole neben sich duldet?

Sicher gibt es eine Reihe von Gründen für die neuen Auflagen. Aber was auch immer die Motivation war, sie sind richtig. Wenn man Billionen von Renminbi erwirtschaftet, ohne reguliert zu werden, ist das in jedem politischen System ein Problem. Es setzt das gesamte Land einem enormen finanziellen Risiko aus.

Würden Sie generell sagen, dass die KP die Rechte ihrer Bürger besser schützt als eine liberale Demokratie?

Nein, das würde ich nicht sagen, das wäre zu einfach. Das chinesische Modell lässt sich ja nicht einfach auf ein westliches Land übertragen. Es hat tiefe Wurzeln in der langen chinesischen Geschichte, ist Teil der Kultur und des Denkens. Was man allerdings sagen und auch jeder sehen kann, ist, dass zu Zeiten wie der Pandemie ein straff organisierter Staat in einem paternalistischen System enorm erfolgreich ist. Verglichen mit anderen Ländern sind in China nur sehr wenige Menschen an Covid-19 gestorben. Das liegt eben an den Möglichkeiten und Fähigkeiten der KP. Und die Chinesen registrieren das natürlich.

Welches Bild haben die Chinesen von ihrer politischen Führung, der KP? Ist sie eine Art Gott? Ist sie gütig oder streng, liebt man sie oder muss man sie vor allem fürchten?

Seit der Pandemie ist die Wertschätzung der Partei in der Bevölkerung nochmals deutlich gestiegen. Und die Zustimmung war vorher schon hoch. Die Legitimität der Partei beruht auf dem Versprechen, das Leben der Menschen zu verbessern. Daran wird sie gemessen. In den letzten Jahren hat sich die Situation faktisch enorm gebessert, für die Ärmeren, für die Mittelklasse und auch für die Reichen. Junge Menschen haben eine ziemlich rosige Perspektive, was ihre Zukunft angeht, anders als in vielen westlichen Ländern. Die Luftverschmutzung hat abgenommen, Armut wurde drastisch reduziert und sehr viel anderes ist besser geworden. Die Leute verlangen nach Fortschritt. Und die Partei liefert.

«Der Kommunismus ist sehr präsent. Es geht darum, wie ein ideales Leben unter den Bedingungen eines starken, fürsorglichen Staates aussehen kann. Das unterscheidet sich sehr von Liberalismus oder Kapitalismus.»

Wenn die KP eine Person wäre   – wie müsste man sie sich vorstellen?

Sie ist wohl eine Elternfigur. Die Beziehung zwischen den Chinesen und ihrer Führung ist vielleicht gar nicht so viel anders als das Verhältnis, das in früheren Zeiten zum Kaiser herrschte. Es beruht auf einer Art Tausch: Ich vertraue dir einige meiner Rechte an, im Gegenzug gibst du mir Frieden, Wohlstand und Sicherheit.

Spielt der Kommunismus noch irgendeine Rolle? Wissen die Leute, was damit gemeint ist? Und was ist damit eigentlich gemeint?

Der Kommunismus ist sehr präsent, und Präsident Xi hat den Sozialismus chinesischer Prägung auch noch einmal akzentuiert. Es geht darum, wie ein ideales Leben unter den Bedingungen eines starken, fürsorglichen Staates aussehen kann und soll. Das unterscheidet sich sehr von Liberalismus oder Kapitalismus. Und Präsident Xi sind diese kommunistischen Werte sehr wichtig.

Können Sie ein paar davon nennen?

Diese Werte betreffen vor allem, was wir unter Gemeinschaft verstehen. Wie wir zu unserer Familie stehen und zu der grösseren Familie, unserer Gesellschaft. Wie man Wohlstand unter allen Gruppierungen von Menschen verteilen kann   – nicht nur in China, sondern auf der ganzen Welt. Zu den Werten gehört auch der Glaube, dass es allen besser geht, wenn es allen besser geht   – im Gegensatz zu der Vorstellung, dass uns andere etwas wegnehmen, wenn es ihnen gut geht. Die Menschen können vieles davon sogar in den Worten Xis rezitieren, so präsent ist das. Wie viel davon dann wirklich internalisiert ist, kann ich nicht sagen, jede Chinesin, jeder Chinese ist ein eigenständig denkender Mensch.

«Man sieht an China recht deutlich, dass es einem klug agierenden Staat möglich ist, Strukturen zu schaffen, die Wohlstand erzeugen. Ein kraftvoller Staat kann schwache Märkte stark machen und Entwicklung befeuern.»

Manche Ökonomen sagen, dass der wirtschaftliche Erfolg fünfzig Jahre zu spät kam, weil die politische Führung auf Kosten der Bevölkerung zu lange Fortschritt und Wohlstand verhindert hat. Erlebt China seinen Aufstieg also trotz oder wegen der KP?

Naja, es ist immer ziemlich schwer zu sagen, was passiert wäre, wenn. Man sieht an China aber recht deutlich, dass es einem planvoll und klug agierenden Staat möglich ist, Strukturen zu schaffen, die Wohlstand erzeugen. Ein kraftvoller Staat kann schwache Märkte stark machen und Entwicklung befeuern. Er kann Produktion koordinieren, Finanzierungen anstossen und Innovationen fördern, indem er Forschung und Industrie miteinander verbindet und Wettbewerb zulässt. All das muss zusammenstimmen, damit es klappt. Das ist komplex, das ist schwer, aber es ist, wie wir sehen, möglich.

Gehört zu dem Wettbewerb, von dem Sie reden, nicht auch der Widerstreit der Ideen und Meinungen? Wie passt Zensur in dieses Bild eines starken, selbstbewussten Landes?

Die Zensur würgt nicht die Vielfalt von Meinungen und den Wettbewerb der Ideen ab. Es sind nur ein paar wenige sensible Bereiche, in denen die Zensur greift; in den allermeisten, in fast allen Bereichen des öffentlichen Lebens, herrscht ein freier und oft ziemlich kontroverser Ton. Jeder, der der chinesischen Sprache mächtig ist, kann das in den Sozialen Medien mitverfolgen. Und wer das nicht kann, sieht ja auch so, dass die Zensur sicherlich nicht die Kreativität und Innovationskraft abschnürt, die wir in China erleben. Die Diskussion muss offen sein können, das ist wichtig. Sie muss aber nicht notwendig vollkommen frei sein.

Wird sich die Haltung gegenüber der Zensur ändern, wenn eine jüngere Generation irgendwann die politische Führung übernimmt?

Schwer zu sagen. Es geht auch hier um Paternalismus, und ein Aspekt davon ist Kontrolle. Niemand will   – der Präsident nicht, ich nicht und die chinesische Bevölkerung nicht   –, dass das Land ausser Kontrolle gerät. Das ist die Priorität. Und die steht auch über der Diversität der politischen Meinungen. Es muss da eine Balance geben. In den USA habe ich manchmal das Gefühl, es gibt zu viel Vielfalt und zu wenig Wahrheit.

«Universitäten sollten Orte sein, wo man nach der Wahrheit sucht. Aber oft legt man in den USA mehr Wert auf die Vielfalt der Meinungen als darauf, gemeinsam einen Weg zur Wahrheit zu finden.»

Wie meinen Sie das?

Ich habe ja selbst in den USA studiert und habe meiner Zeit dort unglaublich viel zu verdanken. Universitäten sollten Orte sein, wo man nach der Wahrheit sucht. Aber oft legt man dort mehr Wert auf die Vielfalt der Meinungen als darauf, gemeinsam einen Weg zur Wahrheit zu finden. Je stärker Vielfalt zum Selbstzweck wird, desto mehr verliert man das eigentliche Ziel aus den Augen.

Sie meinen mit «Vielfalt» die Rücksichtnahme auf ethnische und Gender-Perspektiven?

Nein, all das ist gut und richtig. Mein Eindruck ist einfach generell, dass das Interesse daran, etwas zu verstehen, darunter leidet, wenn man nicht in die Tiefe geht, sondern nur von möglichst vielen Seiten äusserlich draufschaut. So kann ich nie zu einem wirklichen Verständnis von etwas kommen, wenn ich mich immer nur frage, wie man es auch noch sehen könnte.

Sie waren erst vierzehn Jahre alt, als sie in die USA kamen. Was veranlasste ihre Eltern dazu, ihre Tochter so jung in die USA zu schicken?

Mein Vater war Regierungsbeamter, aber wir waren nicht wohlhabend. Ich bekam ein Stipendium, mit dem ich eine amerikanische High School besuchen konnte. Sonst hätten wir uns das nicht leisten können. Die Schule hatte nach chinesischen Schülern gesucht, weil sich der Direktor für chinesische Geschichte interessierte. Es war einfach Glück, dass ich von dem Angebot mitbekam.

Ich habe mich für die USA entschieden, weil ich viel Gutes von der amerikanischen Ausbildung gehört hatte   – dass sie mehr auf Problemlösen und kritischem Denken beruht als auf Auswendiglernen. Dass es darum geht, Neugierde zu entwickeln statt die richtigen Antworten zu kennen. Und natürlich gab es damals in den USA mehr Möglichkeiten, sich zu entwickeln und beruflich zu entfalten als in China. Das galt damals und gilt heute nicht mehr für China.

Was war ihre wichtigste Erkenntnis in diesen frühen Jahren in einem fremden System?

Ich habe, mehr als später in Harvard, an der High School gelernt, wie wichtig und bereichernd es ist, offen gegenüber Neuem zu sein. Ich habe gelernt, Fragen zu stellen, Unterschiede zu benennen, kritisch Texte zu lesen. Über all so etwas hatte ich vorher nie nachgedacht und es hat mich sehr viel weiter gebracht. Aber sehr bald fiel mir auf, dass sich diese Art von Offenheit sehr konträr zu der Offenheit gegenüber anderen Ländern und politischen Systemen verhält. Denn da lässt der Westen keine Offenheit mehr zu, sondern fordert Gefolgschaft und Konvergenz.

Erst wenn der Westen anerkennt, dass es Länder mit einer anderen Kultur und anderen Wertvorstellungen gibt, die trotzdem ihre Bürger schützen und ihnen ein gutes Leben ermöglichen, erst dann wäre er wirklich offen.

Sven Behrisch ist Redaktorbei «Das Magazin». sven.behrisch@dasmagazin.ch

Publiziert: 20.05.2021, 20:54

Quelle: https://www.tagesanzeiger.ch/alles-was-china-macht-zieht-der-westen-in-den-dreck-113108459461

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