Arbeiten die Nato-Staaten bereits an der Kriegsschuldfrage?
Arbeiten die Nato-Staaten bereits an der Kriegsschuldfrage?
von Karl-Jürgen Müller*
Die Deutschen lehnen mehrheitlich die Hetze gegen Russland ab. Das scheint jedoch die Macher der deutschen Leitmedien nicht zu kümmern. Im Gegenteil, die unerträgliche Medienhatz gegen Russland und die Politik seiner Regierung geht unvermindert weiter und wird von Tag zu Tag verschärft.
Was wird damit bezweckt? Offensichtlich glauben die Medienmacher immer noch, die penetrante Wiederholung von Lügen würde dazu führen, dass diese irgendwann doch noch geglaubt würden.
Die «Experten» der «Massen»beeinflussung halten an diesem Mantra seit fast 100 Jahren fest und dokumentieren damit, was sie von ihren Mitbürgern halten – nämlich gar nichts. Und denen sollen wir folgen?
Ganz offensichtlich gibt es Kräfte, die eine weitere Eskalation der Situation in der Ukraine und in Osteuropa wollen und die dazu die Leitmedien eingespannt haben. Man muss nicht lange darüber nachdenken, woher diese Kräfte kommen. Ganz sicher sitzen sie in Washington D.C.
Die Staaten der Nato und vor allem die USA, das hat Kishore Mahbubani1, der ehemalige Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen, betont, befinden sich im Niedergang. Vieles weist aber darauf hin, dass der «Westen» einen friedlichen Weg des Wandels in der Welt noch nicht akzeptiert, sondern den Weg der Aggression gewählt hat.
Nur für die USA macht ein großer Krieg einen «Sinn» – man mag dieses Wort kaum benutzen, weil es Wahn«sinn» ist. Die US-Amerikaner glauben: Wir haben uns zweimal mit einem Weltkrieg wirtschaftlich «gesund» gestoßen. Aber auch dieses Wort gehört in Anführungszeichen gesetzt, weil der Weg so furchtbar krank und die Frage interessant ist, wer wirklich das «Wir» ist.
Die USA, vor dem Ersten Weltkrieg noch eine eher unbedeutende Macht mit imperialen Ambitionen in Lateinamerika und im Pazifik, wurden nach dem Ersten Weltkrieg eine Weltmacht, deren Finanz- und Wirtschaftsinteressen nach der ganzen Welt griffen. Der Zweite Weltkrieg und dessen Ergebnis potenzierten dies.
Und heute? Die USA stehen vor dem wirtschaftlichen Abgrund. Das einzige, was sie noch zur Verfügung haben, ist ihre geheimdienstliche und militärische Macht. Noch immer geben die USA fast soviel für ihr Militär aus wie der ganze Rest der Welt zusammen. Das Militärpotential der USA ist nach wie vor verheerend vernichtend und wartet auf seinen Einsatz.
Umso besser also, so die zynische und menschenverachtende Denkweise, wenn der Kriegsschauplatz weit weg ist. Und was macht es schon, wenn Europa danach ein Trümmerfeld ist? Das war auch 1918 und 1945 so. Die USA haben daran sehr gut verdienen können. Und bis heute fordern die US-Strategen von ihrer Regierung, dafür zu sorgen, dass die Staaten Eurasiens so mit sich selbst und ihren Konflikten beschäftigt sind, dass sie die Weltmacht der USA nicht gefährden können.2
Wie sieht es mit Russland aus? Russland befindet sich in einer schwierigen innenpolitischen Situation. Die Regierung Putin ist seit fast 15 Jahren bemüht, das nach 1991 und vor allem durch die USA stark geschwächte, geplünderte und destabilisierte Land wieder aufzubauen und zusammenzuhalten. Das ist nicht einfach. Aber genau darauf konzentriert die russische Politik ihre Kräfte. Ein großer Krieg könnte das Erreichte zunichte machen. Russland hat diese geschichtliche Erfahrung machen müssen.
Russlands Regierung hat sich entschieden, nicht den Fehler der Sowjetunion zu wiederholen und im Wettrüsten mit den USA mithalten zu wollen. Russlands militärische Anstrengungen gelten der Abschreckung. Der Preis für einen Angreifer soll so hoch sein, dass er ihn nicht riskiert. Am besten lässt man die Zahlen sprechen: Laut dem Institut SIPRI gaben die USA im Jahr 2013 offiziell 640 Milliarden Dollar für die Rüstung aus, bei Russland waren es 87,8 Milliarden US-Dollar.3 Russland kann kein Interesse daran haben, einen Krieg gegen die USA zu führen.
Wer aber einen Krieg will, der denkt auch darüber nach, wer danach bezahlen soll. Seit dem Ersten Weltkrieg spielt die Kriegsschuldfrage dabei die entscheidende Rolle. Alle Kriegsparteien waren bemüht, dem Kriegsgegner die Schuld am Krieg zuzuschieben.
Heute wissen wir, dass die wissenschaftliche Forschung, die alle Dokumente zur Hand hat, zu anderen Ergebnissen gekommen ist als die Kriegsparteien und deren mediale Sprachrohre. Das wird auch in der Gegenwart nicht anders sein. Trotzdem arbeitet der Westen bereits an der Kriegsschuldfrage, und zwar äußerst heftig. Im Eiltempo sollen mentale Fakten geschaffen werden. Fragen nach dem tatsächlichen Geschehen, zum Beispiel in Kiew in den entscheidenden Tagen vom 20. bis 22. Februar, sollen nicht gestellt und nicht beantwortet werden.4 Da könnte ja ein Kartenhaus zusammenbrechen. So wie nun Stück für Stück im Hinblick auf den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Jugoslawien im Jahr 1999, dessen Rechtswidrigkeit 15 Jahre geleugnet wurde. Gerhard Schröder, der damalige deutsche Bundeskanzler, hat jetzt den ersten Schritt getan und diese Völkerrechtswidrigkeit eingestanden5.
Dass die Völker Europas auch dieses Mal keinen Krieg wollen, ist offensichtlich. Warum sollten sie auch. Sie wissen genau, dass sie es sind, die den hohen Preis zu zahlen haben, dass sie diejenigen sind, die geopfert werden.
Auch die Medienhetze der letzten Wochen und Monate hat die Völker nicht umstimmen können. Das hat die Medien sehr aufgebracht. Sie verhöhnen ihre Leser, bezeichnen sie von oben herab als «Russland-Versteher». Und nun wird auch ganz offen die Kriegsschuldfrage angesprochen. Die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» titelte am 26. April auf der ersten Seite: «Russland will den Dritten Weltkrieg anzetteln». Die Zeitung zitiert den ukrainischen Politiker Jazenjuk, der sich anmaßt, Ministerpräsident des Landes sein zu wollen. Warum tut die Zeitung das? Warum schreibt sie nicht, dass Jazenjuk offensichtlich jedes Maß verloren hat? Folgt sie lieber der -Europa-Beauftragten der US-Regierung, Victoria Nuland, deren Favorit genau dieser Jazenjuk war – gegen die Pläne aus der EU? Warum plaziert die Zeitung am selben Tag und auf derselben Seite einen Kommentar, der dem «Westen» Schläfrigkeit vorwirft – sinngemäß: «Ihr macht heute denselben Fehler wie die Westmächte vor dem Zweiten Weltkrieg». Die Botschaft: Seid nicht so zurückhaltend in der Konfrontation mit -Russland! Langt endlich richtig zu! Das sind mediale Kriegstrommeln. Kenner der Medienlandschaft wissen, dass diese deutsche Zeitung gerne Direktiven aus Washington D.C. entgegennimmt.
Noch ist es Zeit, etwas zu tun. Man muss dem Monster die Maske abziehen. Die Belege dafür, dass die USA kein Interesse daran haben, eine diplomatische Lösung des Konfliktes im Osten Europas zu finden, liegen vor. Das «Genfer Abkommen», das eine Chance für eine friedliche Lösung bietet, wurde von vornherein torpediert. US-Vizepräsident Biden reiste wenige Tage nach der Unterzeichnung des Abkommens nach Kiew und tat nichts dafür, die politischen Scharfmacher in Kiew zu mäßigen – im Gegenteil. Der Militäreinsatz der Kiewer Machthaber im Osten der Ukraine und in Odessa ist ein deutlicher Hinweis darauf.
Europa muss sich von dieser US-Politik freimachen. Als US-Vasall in den Untergang gehen – ist das eine verlockende Perspektive? Sanktionen sind der erste Schritt in den Krieg. Schon damit wird das Völkerrecht gebrochen; denn der Weltsicherheitsrat hat sie nicht beschlossen. Niemand weiss, wie ein Krieg verlaufen und enden wird, wenn erst einmal die Waffen sprechen. Das haben zwei Weltkriege Europa gelehrt. Im Sommer 1914 wollten die Soldaten an Weihnachten wieder zu Hause sein. Am Ende dauerte der Krieg mehr als 4 Jahre – und kostete 16 Millionen Menschen das Leben.
Wie kann den Kriegstreibern Einhalt geboten werden? Sicher nicht mit Fatalismus! Jeder Bürger ist gefordert. Denen «da oben» die Sache zu überlassen oder auf ein «macht»volles Stopp zu hoffen, wird nicht helfen. Der Kreativität der Vernunft, der Sittlichkeit und der Menschlichkeit sind keine Grenzen gesetzt.
Fussnoten:
- vgl. Kishore Mahbubani: Ein Blick auf China lehrt Klugheit im Umgang mit Russland. Zeit-Fragen, Nr. 9, vom 22.4.2014
- So zum Beispiel ganz aktuell George Friedman von STRATFOR in seinem Artikel vom 8. April 2014: «U.S. Defense Policy in the Wake of the Ukrainian Affair» (www.stratfor.com/weekly/us-defense-policy-wake-ukrainian-affair)
- Sam Perlo-Freeman, Carina Solmirano: Trends in World Military Expenditure 2013, SIPRI Fact Sheet April 2014
- Das ARD-Magazin Monitor hatte am 10. April 2014 (www.wdr.de/tv/monitor/sendungen/2014/0410/maidan.php5) die Behauptung der Regierung in Kiew, die Scharfschützen, die auf Demonstanten und Polizisten geschossen haben, hätten im Auftrag des Präsidenten Janukowitsch geschossen, in Frage gestellt.
- So berichtet das St. Galler Tagblatt vom 1. Mai 2014
* Karl-Jürgen Müller ist Berufsschullehrer in Konstanz und Mitarbeiter der Redaktion «Zeit-Fragen»
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