Kiev, Platz der Unabhängigkeit, Erinnerungsbild aus friedlichen Zeiten vor dem Putsch auf dem Maidan (Foto Christian Müller)

(Red.) Gestern erreichte uns aus Kiev der folgende Brief, verbunden mit der ausdrücklichen Bitte, ihn zu publizieren. Diesem Wunsch kommen wir gerne nach. (cm)

Lieber Christian (*)

ich bin Ihnen und Ihrer Publikation Globalbridge.ch dankbar, dass Sie meine Artikel furchtlos veröffentlichen, obwohl die westlichen Regierungen und die meisten Medien eine Politik des Schweigens über die tatsächliche Situation in der Ukraine verfolgen.

Erst kürzlich wurde mein Artikel über die Tatsache veröffentlicht, dass in der Ukraine alle, die mit der Regierung nicht einverstanden sind, zu „Staatsverrätern“ erklärt werden. Nur wenige Wochen nach der Veröffentlichung dieses Artikels, am 12. Oktober 2023, führte der Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU) eine Hausdurchsuchung in meiner Wohnung in Kiew durch, bei der persönliche Gegenstände und Rentenersparnisse meiner Eltern beschlagnahmt wurden, da die Strafbehörden nichts Illegales finden konnten. Dann haben der Sicherheitsdienst der Ukraine und die Staatsanwaltschaft   – als ob sie dem Algorithmus folgen würden, den ich damals erwähnt hatte   – mich in Abwesenheit angeklagt, angeblich Informationsaktivitäten zugunsten des Aggressors (Russland, Red.) zu begehen und den Angriff gegen die Ukraine zu rechtfertigen.

Dem Gericht wurde ein Antrag auf meine Verhaftung und Unterbringung im Gefängnis übermittelt. Gleichzeitig wurde mir das Verdachtsdokument selbst aber nicht ausgehändigt und nicht zugestellt, wie es das gesetzlich vorgeschriebene Verfahren verlangt hätte , wodurch meine Rechte auf Verteidigung grob verletzt wurden.

Was aber war die Grundlage für den SBU und die Staatsanwaltschaft, eine so schwere Anschuldigung gegen mich zu erheben? Wahrscheinlich einige schwerwiegende Beweise für die Schuld? Beweise: operative Daten, nicht klassifizierte Daten, Ergebnisse von Zeugenbefragungen, Ergebnisse von Telefonabhörungen, Durchsuchungen und Inspektionen? Nein! Vielleicht Spionage, Sabotage, Staatsstreich, Mord, Korruption? Auch nein! Denn das war es nicht und konnte es auch nicht sein: Als Anwalt, als Advokat, agiere ich immer ausschließlich im juristisch korrekten Bereich. Heute aber braucht man in der Ukraine keine Schuldbeweise mehr, um Oppositionelle strafrechtlich zu verfolgen, es genügen Beiträge in sozialen Netzwerken und/oder Aussagen über die Ursachen und Folgen des Krieges in der Ukraine, also eine andere, von der Position der offiziellen ukrainischen Behörden abweichende Haltung.

Worüber habe ich also in meinen Artikeln, Beiträgen in sozialen Netzwerken, Reden und Interviews gesprochen? Ich habe über die Notwendigkeit einer sofortigen Einstellung der Feindseligkeiten und den Beginn von Friedensgesprächen gesprochen. Ich habe über die herannahende nukleare Katastrophe geschrieben. Ich habe auf die Nutznießer des Krieges in der Ukraine hingewiesen, in erster Linie auf die Oligarchie und den militärisch-industriellen Komplex. Ich habe über die unvorstellbare Korruption im Krieg und im Alltagsleben geschrieben. Ich habe offen über das Aufblühen des Neonazismus im Land gesprochen. Ich habe historische Parallelen gezogen, um sie mit den heutigen Umständen zu vergleichen. Ich schrieb und sprach über all das, was in der Ukraine, in den USA, in Europa und überall auf der Welt schon lange bekannt ist.

Heute ist eine solche Meinungsäußerung in der Ukraine ein Gesinnungsverbrechen, eine schwere Sünde in den Augen der derzeitigen Regierung, denn Dissens, Objektivität und Wahrheit untergraben die Basis ihrer Macht. Dies wird in der heutigen Ukraine mit der grundlosen Verhaftung ohne Haftbefehl mit bis zu 15 Jahren Gefängnis und der Konfiszierung des gesamten Eigentums bestraft.

Meine politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung ist eines der bezeichnenden Beispiele für die Gesetzlosigkeit und die systematisch aufgebaute repressive Politik des Selenskyj-Regimes, die auf die vollständige Beseitigung von Dissens und Opposition in der Ukraine und auf die Errichtung einer Diktatur abzielt.

Lieber Christian,

heute brauche vor allem ich persönlich, aber auch die Ukraine als Ganzes, Ihre publizistische und menschliche Unterstützung wie nie zuvor, in welcher Form auch immer sie sich äußern mag:

1) die Veröffentlichung dieses Briefes auf den Seiten Ihrer Publikation;
2) Hilfe bei der Verbreitung dieser Informationen in allen möglichen anderen Medien;
3) Appell an Menschenrechtsorganisationen, die Regierung und das Parlament der Schweiz und anderer Länder, sich der Kampagne zur Verteidigung der Redefreiheit und der Demokratie in der Ukraine anzuschließen;
4) jede andere Form der Unterstützung, die Sie für sinnvoll halten.

In der gegenwärtigen Situation, in der die Opposition in der Ukraine verboten ist und verfolgt wird, in der die ukrainischen Oppositionsmedien geschlossen wurden und die verbliebenen nur noch offizielle Propaganda verbreiten, in der das Gesetz in der Ukraine nichts gilt und die Menschenrechte systematisch und demonstrativ von den Behörden verletzt werden, ist die Unterstützung und gegenseitige Hilfe von anständigen und aktiven Menschen unerlässlich. 

Mit Respekt,

Maxim Goldarb,
Vorsitzender der Partei „Union der Linken Kräfte   – Für einen neuen Sozialismus“ (*)

(*) In vielen Kulturen und Sprachen spricht man einander, auch wenn man im Text die Höflichkeitsform benutzt, mit dem Vornamen an. „Lieber Christian“ heisst also nicht, dass wir alte Duz-Freunde sind. Und wenn Maxim Goldarb für einen „neuen Sozialismus“ eintritt, dann ist damit nicht der „Sozialismus“ zu Zeiten der Sowjetunion gemeint, sondern ein Sozialismus im Sinne einer (westlichen) sozialdemokratischen Partei.   – Globalbridge.ch wird alles tun, um seine Wünsche zu erfüllen. (cm)