Notruf aus dem Klassenzimmer
System des «selbständigen Lernens».
Früher war der Lehrer eine Autoritätsperson. Achtung hatte man weniger vor der Person als vor seiner Kompetenz. Er stand vorne und erklärte den Schülern, wie man Winkel halbiert, Verben konjugiert und die Mitose von der Meiose unterscheidet. Er beherrschte sein Fach und war erpicht darauf, in den Schülern dieselbe Leidenschaft zu wecken.
Blasse «Lernbegleiter»
Lehrer agieren heute nur noch als blasse «Lernbegleiter». Traditioneller Frontalunterricht, bei dem der Lehrer den Schülern etwas beibringt, ist verpönt. Sogenannte kooperative Lernformen bilden das Herzstück des angesagten Unterrichts. Das sind Sequenzen, in denen sich Schüler gegenseitig etwas beibringen sollen. Es sind grundsätzlich Gruppenarbeiten, wie es sie schon immer gab. Die Neuerung liegt darin, dass der Unterricht vielfach aus kaum etwas anderem mehr besteht als aus diesen sozialen Lernformen – die in den meisten Ausführungen nichts anderes als Spielereien sind. Entsprechend sind sie in infantilen Fantasiebegriffen wie «Lerntempoduett», «Gruppenpuzzle» oder «Gruppenrallye» verklausuliert.
Seit rund zwanzig Jahren lehren die pädagogischen Hochschulen sogenannte konstruktivistische Didaktik. Klare Erklärungen des Lehrers werden durch «selbsttätiges», «entdeckendes» Lernen verdrängt. Der Lehrer zeigt nicht mehr den besten Lösungsweg und vermittelt kaum mehr harte Fakten, sondern beschäftigt die Schüler damit, «Strukturen zu erkennen», «Vermutungen zu formulieren» oder sich «auf offene Aufgaben einzulassen», wie es im Lehrplan heisst. Zudem nehmen weiche Kompetenzen, beispielsweise Einfühlungsvermögen, Selbstreflexion oder Kritikfähigkeit, einen immer grösseren Platz im Unterricht ein, der dann für die Vermittlung von Fachkenntnis fehlt.
Die hohe Anzahl Lehrabbrüche steht mit dieser führungslosen Pädagogik im Zusammenhang. Vor allem schwache Schüler sind durch das System des «selbständigen Lernens» überfordert. Sie müssten enger geführt werden. Kommen sie dann in einen Lehrbetrieb, wo sie Fachinhalte und Abläufe auswendig kennen müssen und genaue Vorgaben unter Zeitdruck zu erfüllen haben, haben sie Mühe. In der Arbeitswelt geht es nicht mehr um «Selbstreflexion», «Geschlechterrollen» und «Umgang mit Vielfalt», wie es der Lehrplan suggeriert.
Luxus: Teilzeit
Eine Beziehung lässt sich nur aufbauen, wenn der Lehrer lehrt, wenn er führt, wenn er präsent ist.
Was die Bildungsbeamten überdies ignorieren, ist, dass Schüler, wenn sie etwas selbst erarbeiten, deutlich mehr Zeit brauchen, als wenn es ihnen erklärt wird. In jeder Lektion, in der man sie ein Thema allein studieren lässt, geht enorm viel Lernpotenzial verloren. Das hat sich in den letzten Pisa-Tests widergespiegelt: In den getesteten Fächern Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften war überall ein Leistungsrückgang zu verzeichnen, im Lesen lagen die Schweizer gar unter dem OECD-Durchschnitt. Zudem verlässt rund jeder fünfte Jugendliche die Schule als funktionaler Analphabet – und das in einem der teuersten Bildungssysteme der Welt.
Seit Jahrzehnten sind die asiatischen Länder mit traditionellen Unterrichtsmethoden Weltklasse. Dort hat man längst eingesehen: Lernen findet in der Interaktion statt – und zwar zwischen Lehrer und Schüler. Gruppenarbeiten mögen für einzelne Repetitionsphasen sinnvoll sein, aber als Fundament des Unterrichts mit dem Lehrer als blossem Organisator haben sie sich nicht bewährt. Entscheidend für den Lernerfolg ist die Beziehung zum Lehrer. Das hat John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Melbourne, in einer vielzitierten Studie nachgewiesen. Eine Beziehung lässt sich aber nur aufbauen, wenn man den Lehrer wahrnimmt, wenn er lehrt, wenn er führt, wenn er präsent ist – am besten täglich. Eine weitere Unart, die sich seit Jahren verbreitet, sind nämlich die Kleinpensen. Der durchschnittliche Beschäftigungsgrad liegt im Kanton Zürich bei 69 Prozent. Würden die Lehrer mehr arbeiten, hätte dies positive Auswirkungen auf die Beziehung zu den Schülern und somit auch auf ihre Leistungen. Weiter könnte man des Lehrermangels Herr werden, wenn jeder Lehrer sein Pensum um 10 Prozent erhöhte.
Da Lehrer allerdings sehr grosszügig entlöhnt werden – weder Mediziner noch Ökonomen erreichen nach dem Studium das Lohnniveau von Sekundarlehrern –, leisten sich viele den Luxus, nur Teilzeit zu arbeiten. Selbst erfahrene Lehrer, deren Vor- und Nachbereitungsaufwand ein Vollpensum durchaus erlauben würde, nehmen für (noch) mehr Freizeit gerne Lohneinbussen in Kauf. Eine Lohnprogression bei Vollzeitpensen und eine entsprechende Degression bei kleinem Beschäftigungsgrad wäre sicher ein Stimulus, über den man reden könnte.
Die Pisa-Resultate haben auch gezeigt, dass die Schere zwischen guten und schlechten Schülern grösser geworden ist. Während Kinder mit bürgerlichem Hintergrund die aufgrund mangelhafter Lehrerpräsenz angehäuften Lerndefizite eher durch besorgte Eltern und Nachhilfe ausgleichen können, bleiben die sozial Benachteiligten auf sich gestellt. Auch der Ansturm auf Privatschulen müsste der Volksschule zu denken geben. Einerseits ist er ein klares Misstrauensvotum gegenüber der öffentlichen Schule, andererseits wird durch die Abwanderung bessergestellter Schüler die soziale Ungleichheit zementiert.
Der Lehrplan 21 hat sich an das gesunkene Niveau der Volksschule angepasst: Zahlreiche Lernziele wurden nach hinten verschoben (kleines Einmaleins, Rechnen im Zahlenraum bis hundert, Rechnen im Zahlenraum bis tausend etc.) oder ganz weggelassen (grosses Einmaleins, schriftliche Multiplikation, schriftliche Division etc.). Das kleine Einmaleins muss man nicht mehr können, sondern nur noch «kennen», und Prozentrechnen muss man nur noch mit dem Taschenrechner.
An der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium müssen die Schüler im Kanton Zürich keine Winkelhalbierenden mehr konstruieren können, und den Konjunktiv muss man nicht mehr bilden, sondern lediglich bestimmen können. Auch die neuen Lehrplan-21-kompatiblen Lehrmittel brillieren durch Abflachung: weniger Text, weniger Tiefgang, weniger Inhalt – dafür mehr Farben und Bilder.
Vor rund zehn Jahren eingeführt, ist die integrative Schule heute das Reizthema schlechthin im Bildungsbereich. Kinder mit Behinderung, Lernschwäche oder mangelnder Sprachkenntnis wurden früher in Kleinklassen oder Sonderschulen unterrichtet, die auf bestimmte Behinderungsformen oder Verhaltensschwierigkeiten spezialisiert waren. Heute besuchen sie die Regelschule. Diesen «integrierten» Sonderschülern wird eine Integration in die Regelklasse aber nur vorgegaukelt. Neben dem Lehrer steht für mehrere Wochenlektionen noch ein Heilpädagoge im Klassenzimmer, der sie innerhalb der Klasse sonderbehandelt.
Man teilt also Schüler in die Regelklasse ein, die ganz offensichtlich nicht den Mindestanforderungen genügen, und um ihre absehbare Überforderung abzufedern, stellt man ihnen zusätzliches Personal zur Seite – anstatt sie direkt in Sonderklassen zu unterrichten. Für die Sonderschüler ist die Spezialbehandlung innerhalb der Klasse eher eine öffentliche Stigmatisierung ihrer Andersartigkeit als eine Stütze. Und die anderen Schüler werden gebremst, da Sonderschüler nicht nur die Ressourcen der Spezialisten binden, sondern in der Regel auch eine engere Betreuung des Lehrers brauchen. Vom Kompetenzwirrwarr, das entsteht, wenn mehr als ein Lehrer im Schulzimmer steht, gar nicht zu reden.
Fachkenntnis, Fleiss, Verbindlichkeit
Hohe Prüfungskadenzen, zahllose Bewertungsbögen, unüberblickbare Kompetenzen, bürokratisches Absenzenwesen, detaillierte Lernberichte, Mitarbeit an diffusen Strategiekonzepten und ein Lehrplan so dick wie die Bibel rauben den Lehrern Zeit, die sie in den Unterricht investieren könnten. Die ständig neuen Vorgaben, die von irgendwelchen Kantonsbeamten erlassen werden, bringen keinen Mehrwert für die Schüler. Auch die didaktischen Reformen, die die Schulen im Jahresrhythmus schwemmen, sind nicht vom Schüler aus gedacht. Die viel zu zahlreichen Technokraten an den pädagogischen Hochschulen, die sie zu verantworten haben, brauchen sie zur eigenen Daseinsberechtigung.
Die gute Nachricht ist, dass der Blick mit seiner Schlagzeile falschlag. Die Schüler sind keineswegs zu dumm für die Lehre. Aber sie bleiben durch Vernachlässigung, falsch gesetzte Prioritäten und unseriöse Lernsettings ihrer Lehrer weit unter ihren Möglichkeiten. Auf ihre Kosten profilieren sich zudem Hochschultheoretiker, die selbst keine Einbussen erleiden, wenn sich ihre Konzepte als untauglich erweisen. Die Schule muss zurückfinden zu den simplen, aber zeitlosen Tugenden, die sie einst erfolgreich gemacht haben: Fachkenntnis, Fleiss, Verbindlichkeit und Beziehung.
Quelle: https://weltwoche.ch/story/notruf-aus-dem-klassenzimmer-2/
Mit freundlicher Genehmigung von Weltwoche
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