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Kinder suchen Halt  – Den Kindern Orientierung geben


von Dr. Anita Schächter, Kinder- und Jugendpsychotherapeutin, Heitersheim

Der Mensch kommt zur Welt; er ist keine «Tabula rasa», kein unbeschriebenes Blatt. Und doch muss er alles lernen. Der Säugling ist sozial vorangepasst, präadaptiert. Er hat die Fähigkeit zur Wahrnehmung, welche optimal an die Pflegesituation angepasst ist. Er bringt angeborene Voraussetzungen mit, wie die Fähigkeit zum Saugen oder die Ausrichtung auf den Mitmenschen. Er ist bindungsfähig, hat ein sehr feines zwischenmenschliches Sensorium. Der kleine Mensch will lernen, sich entwickeln, er strebt nach Kompetenzzuwachs.

Wie lernt der Mensch?

Der Mensch kann laut Portmann als extrauterine Frühgeburt bezeichnet werden. Er hat eine sehr lange Lernphase, bis er geschlechtsreif ist, und eine noch längere, bis er seine Familie, sein Nest, verlässt und auf eigenen Füssen steht. Der Säugling ist auf die Fürsorge und die Liebe seiner Eltern angewiesen und darauf, dass seine Signale adäquat entschlüsselt und angemessen beantwortet werden.

Lernen vollzieht sich beim Kind durch Modellernen (abschauen, nachmachen)

modelllernen

Und durch das Prinzip von Versuch und Irrtum oder Tun und Wirkung (Was passiert, wenn …? Und wo bekomme ich ein Echo?). Kinder lernen dort am intensivsten, wo sie sich ausrichten, vertrauen, sich etwas versprechen. Im Idealfall sind dies die Eltern und weitere fürsorgliche, reife Erwachsene.

Dort, wo das Kind probiert und auswertet, sind wir im Mitdenken und Handeln gefragt.

Umgang mit Konflikten

Konflikte gehören zum Leben. Wie können Konflikte mit Kindern und unter Kindern gelöst werden, ohne selbst auf aggressive Mittel zurückzugreifen?
Schauen wir uns vier verschiedene Spannungssituationen aus vier Familien an.

Ärgert Felix seine Schwester?

Der zweieinhalbjährige Felix, so erzählt die Mutter, kommt morgens ins Wohnzimmer. Die Schwester sitzt auf dem Sofa und zieht gerade ihre Strumpfhose an. Er geht zielstrebig auf sie zu und zieht ihr ohne Vorankündigung heftig an den Haaren. Das tut er bisweilen auch bei der Mutter. Sie stellt ihn dann vor die Türe oder schimpft mit ihm. Oder auch beides. Er ist dann durchaus betroffen. Aber ändern tut sich nichts. Das ist auch genau das Gefühl der Mutter, dass sie ihrem Felix mit all seinem Temperament und all seiner Aktivität nicht beizukommen vermag.

Will Sarah nicht hören?

Die deieinhalbjährige Sarah will an den Kühlschrank. Soeben ist sie mit ihrer Mutter vom Kindergarten zurückgekehrt. Das Essen muss nur noch aufgewärmt werden. Sarah will sich eine Milchschnitte nehmen. Die Mutter sieht Sarah auf den Kühlschrank zugehen und erkennt ihre Absicht, als diese den Kühlschrank öffnet. Sie geht zur Tochter hin, sagt ihr fest, es gebe gleich Mittagessen, und sie dürfe nicht einfach zum Kühlschrank gehen und sich holen, was sie wolle. Die Kleine schreit, weint, wehrt sich. Bisweilen haut sie sich selbst und ist nur schwer zu beruhigen. Die Milchschnitte bekommt sie nicht.

Ist Pascal ein Mobbingopfer?

Die Familie ist vor vier Monaten in einen neuen Stadtteil gezogen. Der siebenjährige Pascal muss nun in eine neue Klassengemeinschaft hineinfinden. Nach einem Monat kommt er heulend nach Hause: Drei seiner Klassenkameraden haben ihn auf dem Nachhauseweg verfolgt. Sie warfen ihn in eine Hecke und schlugen ihn mit Brennesseln. Er habe Angst, alleine nach Hause zu laufen. Die Mutter ist betroffen. Soll sie ihn morgen zur Schule begleiten, soll sie mit der Lehrerin sprechen oder ihm Mut machen, so dass er lernt, sich selbst zu behaupten, doch wie soll sie dies auf den Weg bringen?

Ist Marvin ein aggressives Kind?

Der siebenjährige Marvin sitzt in der Klasse. Er soll die Buchstaben zusammenlesen, kann es aber einfach nicht. Er lässt den Bleistift zu Boden fallen. Jetzt rutscht er unter die Bank. Da fällt ihm Marisas Bein ins Auge. Er piekst sie gezielt. Marisa schreit auf. Die Lehrerin eilt herbei. Sie zieht Marvin unter dem Tisch hervor, und er beisst ihr in den Arm.
Vier Beispiele, vier Innenwelten der Kinder. Was beschäftigt das Kind, und vor welcher Aufgabe stehen die Erzieher?

Mögliche Lösungen

Felix

Felix ist ein sehr lebendiges Kind. Er sucht Kontakt zur Schwester. Zwischen beiden hat sich etwas eingespielt. Die Schwester reagiert lautstark und heftig. So hat er jedes Mal die Aufmerksamkeit der Schwester ganz und die der Mutter gleich auch noch.

Wie kann die Lösung aussehen? Natürlich muss die Mutter entschieden gegen die Fehlhandlung angehen. Aber sie muss ihren Sohn auch führen, ihm über die Fehlentwicklung hinweghelfen. Das «Time-out» (Fachbegriff, der besagt, dass bei einem Fehlverhalten des Kindes das Kind aus dem Zimmer gestellt wird, damit es zur Ruhe finden soll) greift zu kurz. Sie muss sich Felix entschlossen zuwenden und mit ihm sprechen, ihn zur Schwester hinführen, seine Absicht in Worte fassen und auch der Schwester verdolmetschen.

Hier gibt es nicht nur eine Lösung, wie in allen geschilderten Beispielen. Die ­Lösung kann von Familie zu Familie anders aus­sehen. Wichtig ist in erster Linie die Führung des Kindes über sein Fehlverhalten, seine Unsicherheit hinweg.
Die Mutter von Felix ging folgenden Weg: Sie entschloss sich, ihn morgens in seinem Zimmer abzuholen und mit ihm ein Spielangebot für die Schwester zu überlegen. («Da, du darfst meinen Schnuffel halten ...») Sie lebte ihm vor, wie Kontakt hergestellt wird, und begleitete ihn auf dem Weg. Sie sprach aber auch mit der Schwester, und als diese nicht abwehrte, hatte er Erfolg mit seiner neuen Art. Bei Rückfällen, die meist vorprogrammiert sind, wusste die Mutter, dass sie wieder fest und sicher ansetzen musste.

Sarah

Im zweiten Beispiel geht es um Sarah und ihren Umgang mit dem «Nein!». Hier war es wichtig, dass die Mutter sich sicher blieb, wie wichtig es ist, dass ihre Tochter lernt, mit dem Nein umzugehen, dass sie übt, Frustrationen auszuhalten. Sie sprach mit ihr darüber und hob dann ihre Stimme, ohne aufgeregt zu sein: «Oh, oh, da musst Du noch ein bisschen warten. Die Milchschnitte ist Dein Nachtisch. Aber diesen Apfelschnitz, den darfst Du schon mal essen.» Stimmungsmässig konnte sie Sarah über den Frust heben, ohne die Konfrontation zu vermeiden. Sie wusste nun, wie wichtig es ist, dass Kinder dies lernen.

Pascal

Im dritten Beispiel geht es um Pascal. Die Mutter war selbst ein eher ängstliches Kind. Sie hatte nicht das Gefühl, sich gegenüber ihrem Bruder angemessen behaupten zu können.

Sie war bei seinen Schilderungen, was sich auf dem Nachhauseweg abgespielt hatte, sehr betroffen. Eine Lösung hatte sie nicht, nur unendlich viel Mitleid mit ihrem Sohn. So gut kannte sie sich, dass sie dieses Mitleid, welches immer schwächend wirkt, nicht an ihren Sohn herantragen wollte. Sie brachte Pascal deshalb nur ihr Mitgefühl zum Ausdruck und wartete, bis Pascal beim Spielen war. Dann telefonierte sie mit ihrem Vater, Pascals Opa. Der meinte, es liege daran, dass Pascal zu übereifrig sei. Er habe schliesslich der Lehrerin verraten, dass ein Mitschüler Glitzerstifte in der Schule verkauft habe, das sei die Quittung dafür. Sollte die Mutter Pascal anhalten, sich mehr anzupassen, war es gefährlich, querzustehen?

Sie hatte den Eindruck, dass diese Einschätzung nicht so recht einen stärkenden Ausweg ermöglicht. So rief sie ihren Mann im Geschäft an. Der reagierte anders. Er bat die Mutter, bis zum Abend zu warten, er wolle mit Pascal und ihr gemeinsam sprechen. Dann sei immer noch genug Zeit, die Lehrerin anzurufen, falls sich dies als erforderlich erweise. Das Gespräch fand dann beim Abendtisch statt. Der Vater erkundigte sich bei Pascal, wie sich alles auf dem Nachhauseweg zugetragen habe. Des Vaters ge­fasste Stimmung führte dazu, dass Pascal nun eine differenzierte Version des Vorfalls erzählte. Der Vater erfuhr, dass die drei Mitschüler Pascal verfolgt und dann in einen Busch gestossen hatten: «Aber, ich habe mich so gedreht», erzählte Pascal nun, «dass ich mir gar nicht weh getan habe. Und die Brennesseln, mit denen sie mich geschlagen haben, haben gar nicht gepiekst. Die kennen sich ja gar nicht aus mit Brennesseln und wissen wohl nicht, dass die Jahreszeit vorbei ist, in der die pieksen.»

An diese pfiffige und Stärke zeigende Seite knüpfte der Vater nun an. «Das hast du gut gemacht. Die hast du gut ausgetrickst. Die sind ja selber dumm, mit den Brennesseln. Und dann bist du im Laufen so schnell, dass die dich gar nicht einholen konnten. Ich bin stolz, wie du dich verhalten hast.» Der Vater hatte ein anderes Gefühl. Er hat sich in seiner Kindheit nichts gefallen lassen. Selbst die Grossen hatten Respekt vor ihm. Den erkaufte er sich nicht mit Muskelkraft, sondern mit innerer Stärke und Pfiffigkeit. Und die vermittelte er dem Sohn. Auch dass er die Sache mit dem Handeln des Klassenkameraden zur Sprache gebracht habe, sagte der Vater, sei mutig von ihm gewesen. Man solle nicht wegschauen, sondern man solle auf Unrecht hinweisen. «Nein, du gibst nicht nach.»

Der Vater erfragte, ob er sich vorstellen könne, morgen vor der Pause seiner Lehrerin davon zu erzählen. Ja, das wollte er tun und tat es auch. Diese sprach mit den Raufbolden. Sollte es nicht aufhören, wollte sie wieder informiert werden. Schliesslich besprach sie, dass diese Kinder sich bei ihrem neuen Klassenkameraden entschuldigen. Eine Mutter kam sogar extra bei Pascal vorbei, um sich gemeinsam mit ihrem Sohn zu entschuldigen. Sie schlug vor, dass die beiden sich einmal zum Spielen treffen sollten. Heute ist Pascal gut in die Klassengemeinschaft integriert, die Mitschüler respektieren und schätzen ihn.

Marvin

Im vierten Beispiel lag etwas anderes vor. Marvin hatte sehr hohe Anforderungen an sich, er verglich sich immer mit der 11jährigen Schwester. Wenn er sich auf ein Lernfeld begab, wollte er den Übungsvorgang überspringen, er wollte nicht versagen, er wollte glänzen, vorne sein. Er fasste nicht ins Auge, Fehler zu machen, er wollte diese um jeden Preis vermeiden. Wenn er in eine Situation geriet, in der er dem Fehler nicht ausweichen konnte, machte er lieber ein Heidenspektakel, das lenkte wenigstens ab von der Blamage. Dabei war es ihm egal, was er anstellte, auch wenn er wie im geschilderten Beispiel einem Mitmenschen Schaden zufügte. Zunächst waren die Erwachsenen gefordert, genau zu beobachten, um zu verstehen, was mit Marvin los war.

Als die privatlogische Wahrnehmung entschlüsselt war, begann die Arbeit, Marvin ins Lernen hineinzuführen, um diesen Irrtum im Lernen mit ihm zu korrigieren. Seine ungünstige Art der Reaktion konnte dann im gleichen Atemzug korrigiert werden, indem die Erwachsenen mit Marvin sprachen und sein Mitgefühl mit dem Geschädigten weckten. Auch muss­te Marvin lernen, wie er einen angerichteten Schaden dann wiedergutmachen konnte. In dem Mass, in dem Marvin sich aufs Fehlermachen einstellte, verblasste sein aggressives Verhalten.

In allen Situationen ist das feindselige Verhalten irrtümlich als Weg eingeschlagen worden, weil dieser wirkungsvoll erschien. Sanktionen greifen bisweilen zu kurz. Das Kind braucht darüber hinaus Hilfestellung im Umgang mit seinen Impulsen, seinem Willen, seinen Irrtümern.

Führung in der Erziehung   – was ist damit gemeint?

Meist überlegen Eltern in schwierigen Situationen, wie sie sich wohl am besten verhalten sollen. Nicht die Frage, wie sie sich verhalten sollen, steht im Zentrum des Interesses, sondern das Wissen um die Ausrichtung des Kindes auf den Erwachsenen und seine Erziehungsbedürftigkeit. Im Wissen, welche Bedeutung die Eltern für ihre Kinder haben, können sie die Erziehung gestalten.

Eltern brauchen in erster Linie eine innere Sicherheit dem Kind gegenüber. Erst von dieser Sicherheit aus gestaltet sich die Erziehung der Kinder sinnvoll und nachhaltig. Diese innere Sicherheit knüpft an die Beziehung, die Bindung zum Kind an. Kinder beginnen dann, von ihren Eltern, ihren Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern zu lernen, wenn die Erwachsenen sie aktiv zu sich hinführen, sie ausrichten. Nur auf dem Boden dieser festen und verbindlichen Beziehung lässt sich die Erziehung ausgestalten.

Die Bindungstheorie legt schlüssig dar, dass Eltern die Basis, das absolute Zentrum, für ihre Kinder sind, von dem aus ihre Kinder die Welt erkunden. Sie sind der Rückhalt, zu dem sie zurückfinden, wenn das Kind verunsichert, bedürftig, in Aufruhr ist. Das sind Eltern von der Geburt an, sie bleiben es über die Kindheit und Jugend hinweg. Sie sind ­idealerweise auch noch im jungen Erwachsenenalter Rückhalt und Basis, zu der ihre Kinder in Zeiten der Bedrängnis zurückkehren können, um sich die Kraft zur Bewältigung der nächsten Schritte auszuleihen.

Eltern geben dem Kind Sicherheit, und sie ermutigen es, sich Neues zuzutrauen. Sie sind für ihr Kind unersetzlicher Hafen und Bezugspunkt. Das alles ist keine Frage der Technik, der Tips. Es ist eine Frage der inneren Orientierung des Vaters, der Mutter, der Erzieher im Wissen um ihre Bedeutung für ihr Kind.
Gleichzeitig beinhaltet diese Sicherheit aber auch die Bereitschaft der Eltern, in einen Konflikt hineinzugehen und ihn mit dem Kind durchzustehen.
Eltern stehen vor der Aufgabe, sich den Respekt und die Kooperation der Kinder zu sichern. Gelingt dies, sind erzieherische Mass­nahmen wie Bestechung (Belohnung) oder Zwang (Drohen oder Strafen) verzichtbar.

Zusammenfassung

Eltern sind gefordert, ihren Standort in der Beziehung zu reflektieren und dafür Sorge zu tragen, dass die Bindung zu ihren Kindern stark bleibt. Wenn Eltern realisieren, dass sie an einem Punkt nicht weiterkommen, ist es hilfreich, den Austausch mit Erfahreneren zu suchen. Ob das Besprochene hilfreich ist, merken Eltern ganz gut selbst, im Erziehungsalltag können sie überprüfen, ob sie damit arbeiten können oder nicht.
Langfristig geht es darum, sich selbst und die Kinder besser kennen- und verstehen zu lernen, dann gelingt es besser, aus einer Sackgasse herauszufinden.
Und gegen Gewalt gilt es Stellung zu nehmen, gleich ob ein Kind Opfer oder Täter ist.

Quelle: Nr.17 vom 30.4.2007
www.zeit-fragen.ch

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