Neuerscheinung: "Die Wiederentdeckung des Menschen"
Der Mensch ist ein soziales Wesen
„Einige Kritiker werfen dem Kapitalismus vor, ein egoistisches System zu sein. Aber der Egoismus ist nicht im Kapitalismus – er ist in der Natur des Menschen“, bringt der US-amerikanische Sachbuchautor Dinesh D’Souza auf den Punkt, was in weiten Teilen der Gesellschaft eine verbreitete Ansicht ist.
„Was ist die menschliche Natur?“ lautet die Frage, die Philosophen und Theologen seit vielen Jahrhunderten umtreibt und immer wieder lebendige Diskussionen am Stammtisch nach sich zieht. Im 21. Jahrhundert erscheint die Antwort auf diese Frage eindeutig: Der Mensch ist egoistisch, auf Konkurrenz gepolt und materialistisch.
Gute Begründungen für dieses Menschenbild, das ich der Einfachheit halber das kapitalistische Menschenbild nennen will, scheint es zuhauf zu geben. Hatte Charles Darwin in seiner revolutionären Erforschung der Evolution nicht die zentrale Bedeutung von Egoismus und Konkurrenz im „Krieg der Natur“ und dem „Kampf ums Überleben“ dargelegt? Wurde die These des natürlichen Egoismus aller Lebewesen nicht unlängst durch die Arbeiten des Evolutionsbiologen Richard Dawkins und seiner Entdeckung des „egoistischen Gens“ noch untermauert? Und formulierte nicht schon Adam Smith den Gedanken, dass der Egoismus der zentrale Antrieb der freien Marktwirtschaft sei? Letztlich scheint es nur folgerichtig zu sein, dass das Modell des Homo oeconomicus eine zentrale Grundlage der Wirtschaftswissenschaften bildet.
Angesichts dieser vermeintlichen Gewissheiten haben die Entscheider in Politik und Gesellschaft, aber insbesondere der Mainstream der Wirtschaftswissenschaft die Frage nach der Natur des Menschen in den letzten Jahrzehnten schlicht ignoriert. Nichtsdestotrotz gibt es eine Vielzahl faszinierender, aktueller Forschungsergebnisse zu der Frage nach der Natur des Menschen, die das kapitalistische Menschenbild vom Kopf auf die Füße stellen: Sie stehen in deutlichem Widerspruch zu den Annahmen, der Mensch sei von Natur aus egoistisch, auf Konkurrenz eingestellt und materialistisch – und vor allem widerlegen sie die Annahme, der Kapitalismus sei die natürlichste aller Wirtschaftsformen.
Ein besonderes beeindruckendes Experiment führten Felix Warneken, Professor für Psychologie an der Universität Harvard, und der Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello durch, Co-Direktor des Max-Planck-Instituts in Leipzig. Sie untersuchten den Einfluss extrinsischer Motivation auf die Hilfsbereitschaft von Kleinkindern. Diese wurden in drei Gruppen aufgeteilt: Die Kinder aus der ersten Gruppe erhielten keinerlei Reaktion auf geleistete Hilfe, während den Kindern aus der zweiten Gruppe ein Dank ausgesprochen wurde und Kinder aus der dritten Gruppe sogar eine Belohnung erhielten.
Nach mehrfacher Wiederholung des Tests wurde schließlich eine Runde durchgeführt, bei der kein Kind eine Reaktion auf die geleistete Hilfe erhielt. Die erste Gruppe zeigte weiterhin eine sehr hohe Hilfsbereitschaft, die zweite Gruppe hatte eine minimal verringerte Hilfsbereitschaft, während die dritte Gruppe eine deutlich geringere Hilfsbereitschaft offenbarte. „Aus einer unbedingten Hilfsbereitschaft war eine bedingte Hilfsbereitschaft geworden“, stellt Richard David Precht dazu pointiert fest. In der Fachsprache nennt man das den Korrumpierungseffekt. Doch weil wir davon überzeugt sind, dass Kinder nicht von Natur aus hilfsbereit sind, scheint es zwingend, einen Anreiz zu schaffen – fast ein Viertel der Eltern geben ihren Kindern Geld für die Mithilfe im Haushalt. Weil wir überzeugt sind, dass Kinder von Natur aus faul sind und nicht lernen wollen, belohnt fast die Hälfte der Eltern ihre Kinder mit Geld, wenn sie gute Noten nach Hause bringen.
Auch zwei Beispiele aus der Welt der Erwachsenen bestätigen, dass Geld, die wohl wichtigste extrinsische Motivation überhaupt, den von Natur aus vorhandenen Altruismus schnell zerstören kann: Eine großangelegte Studie etwa hat gezeigt, dass sich die Anzahl von Blutspendern verringert, wenn die Spende mit Geld honoriert wird. Denn nicht einmal zwei Prozent erwarten eine Gegenleistung – fast alle Spender erklärten stattdessen, schlicht anderen Menschen helfen zu wollen. Ein ähnlich bemerkenswertes Phänomen beobachtete ein israelischer Wirtschaftswissenschaftler bei Jugendlichen, die einmal jedes Jahr freiwillig Spenden für wohltätige Zwecke sammelten. Als die Jugendlichen für ihre freiwillige Arbeit plötzlich einen Lohn bekommen sollten, wirkte sich dies keineswegs positiv auf ihre Motivation aus. Im Gegenteil: Die eingesammelten Spenden sanken um mehr als ein Drittel.
Der gesellschaftliche Schaden, der durch diesen Korrumpierungseffekt verursacht wird, ist immens – sei es im Sozialwesen, im Arbeitsumfeld oder in der Schule: Die Überzeugung, der Mensch helfe, arbeite oder lerne nur, wenn er dafür belohnt wird, zerstört in Wahrheit die natürlich vorhandene intrinsische Motivation zu selbstlosem sozialen Verhalten. Wenn es um die tatsächliche Natur des Menschen geht, sitzen wir einer Fehlannahme auf. Besonders alarmierend ist dabei die Tatsache, dass wir in der heutigen Gesellschaft zu Menschen nach kapitalistischem Vorbild erzogen werden. Der Mensch verliert seine Menschlichkeit. Ein bedrückendes Beispiel einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung.
Das sollte zu denken geben. Anstatt weiterhin künstliche Anreizsysteme zu erschaffen, müssen wir uns endlich auf unsere eigentliche Natur zurückbesinnen – und die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Die Wiederentdeckung des Menschen ist das Gebot der Stunde, denn nur so können sich Politik und Gesellschaft aus der selbstverschuldeten Kontrolle durch eine fehlgeleitete Wirtschaft befreien.
Andreas von Westphalen studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Neuere Germanistik und Philosophie in Bonn, Oxford und Fribourg. Er ist als Theater- und Hörspielregisseur und Journalist tätig. Gemeinsam mit Jochen Langner realisierte er das russisch-deutsche Dialogprojekt zum Zweiten Weltkrieg "Horchposten 1941". www.horchposten1941.com.
Quelle: https://www.westendverlag.de/buch/die-wiederentdeckung-des-menschen/
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