Zur Position der Schweiz in Europa
Dazu kann ein Blick in die gemeinsame Geschichte mit Grossbritannien eine Antwort geben. Aktuell ist wie damals die latente Einmischung der USA in Angelegenheiten der Europäer. – In der Datenbank der Diplomatischen Dokumente der Schweiz (dodis) sind die Ereignisse bis in die neuere Zeit gut dokumentiert.1
Mitte der fünfziger Jahre stand das Projekt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zur Diskussion. Jean Monnet – stark verbandelt mit den USA – war einer der Hauptinitianten. Die Leitidee war, die europäischen Länder zu einer «immer engeren Union» zusammenzuschliessen – das heisst mit einem politischen Überbau, den wir heute in der EU verwirklicht sehen. Jean Monnet sprach häufig von den künftigen «Vereinigten Staaten von Europa». Gleichzeitig war aber auch ein anderes Projekt im Gespräch. Die Europäer könnten sich als souveräne Staaten zusammentun und in einer Freihandelszone zusammenarbeiten
Widerstand der USA gegen den freiheitlichen Weg
Der freiheitliche Weg fand Freunde in vielen Ländern – nicht aber bei der US-Regierung. Schweizer Minister Albert Weitnauer (Staatssekretär des Bundesrates) berichtete von Gesprächen in der OEEC, der Organisation für europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit (die im Zusammenhang mit dem Marshallplan gegründet wurde). In diesem Gremium hatten die USA ihr Veto gegen eine Freihandelszone eingelegt (dodis.ch/15113).
Situation der Schweiz – Gründung der EFTA
Dem Bundesrat war klar, dass die Schweiz in einer EWG nicht werde mitmachen können, die eine «immer engere Union» mit einem entsprechenden politischen Überbau anstrebt. Hans Schaffner, Delegierter für Handelsverträge, wurde im Auftrag des Bundesrates aktiv. Er lud 1957 Interessierte aus verschiedenen Ländern nach Genf ein, die dem Konzept der EWG skeptisch gegenüber standen. Sie kamen aus Dänemark, Norwegen, Portugal, Schweden, Österreich und aus Grossbritannien. In Genf wurde hier das Konzept der EFTA entworfen, der European Free Trade Assoziation, die 1960 gegründet wurde. Die EFTA plante, die freiheitliche Zusammenarbeit auch mit den Ländern der EWG weiter auszubauen (dodis.ch/30785).
Massive Einmischung der US-Regierung
Am 14. Juli 1961 besuchte ein US-Staatssekretär den inzwischen zum Bundesrat gewählten Hans Schaffner und Bundesrat Friedrich Traugott Wahlen und teilte ihnen Folgendes mit: Die Präsidenten der USA und Grossbritanniens hätten sich getroffen. Die USA würden einen Wirtschaftsvertrag zwischen der EWG und der EFTA niemals tolerieren, sondern sie erwarteten, dass die Nato-Länder innerhalb der EFTA so schnell wie möglich der EWG beitreten – allen voran Grossbritannien, danach auch Dänemark, Norwegen und Portugal. Dann sollten die drei neutralen Länder Schweiz, Österreich und Schweden mit Brüssel Verhandlungen aufnehmen und einzeln einen Assoziationsvertrag mit der EWG abschliessen, der die politischen Ziele der EWG unterstützt. – Es war eine Ungeheuerlichkeit, wie es mancher im Bundeshaus zum Ausdruck brachte (https://dodis.ch/30116">dodis.ch/30116).
Wahlen erklärt das Schweizer Modell
Im Herbst 1962 lud der Ministerrat in Brüssel den Bundesrat zu einer Anhörung ein. Bundespräsident Wahlen erhielt Gelegenheit, die Grundsätze der Schweiz zu erklären und über die Vorarbeiten zu berichten. Der Bundesrat hatte mehrere Arbeitsgruppen einberufen, die sich den Standpunkt der Schweiz zu den verschiedenen Wirtschaftsfragen erarbeitet hatten. Zentral war der Vortrag von Jean Rudolph von Salis, der den Stellenwert und die Bedeutung der Neutralität, des Föderalismus und der direkten Demokratie im Gesamtzusammenhang erklärte (dodis.ch/34186, S. 36 –50).
Der Text der von Wahlen vorbereiteten und vom Gesamtbundesrat genehmigten Rede liegt heute vor (dodis.ch/30371). Im ersten Teil informierte Wahlen ausführlich über die Schweiz, ihre Wirtschaft und ihren staatlichen Aufbau. Zu seinen Ausführungen gehörte die folgende, eindrückliche Passage:
«[…] In der mit der Gemeinschaft zu treffenden Vereinbarung muss jedoch die Schweiz ihre Neutralität, die der Schutz ihrer Unabhängigkeit ist, und ihre innerstaatliche Struktur des Föderalismus und der direkten Demokratie wahren. Direkte Demokratie, Föderalismus und Neutralität haben das politische Gesicht der Schweiz geprägt. Sie sind aus ihrer Vielgestaltigkeit herausgewachsen und haben ihr eine politische Stabilität ermöglicht, die sich, wie uns scheint, auf die Beziehung mit Drittländern günstig ausgewirkt hat.»
Einspruch von Präsident Charles de Gaulle
Es gab jedoch einen europäischen Staatschef, der die Aktivitäten der USA mit wachsendem Unmut beobachtete: Der französische Präsident Charles de Gaulle legte das Veto gegen den geplanten Beitritt von Grossbritannien in die EWG ein. Nach einem Beitritt Grossbritanniens zur EWG würden die USA das politische Geschehen in Europa noch stärker dominieren, als sie es ohnehin schon taten, wandte er richtig ein. Frankreich würde an Gewicht verlieren.
Das Veto de Gaulles brachte eine Atempause. Die Verhandlungen wurden auf Eis gelegt. Es beseitigte den Druck der USA auf die Schweiz, mit der EWG einen politischen Assoziationsvertrag abzuschliessen. Die EFTA erholte sich. Sie bestand nach wie vor aus denselben Gründungsmitgliedern mit Grossbritannien. Wie geplant vollzogen sie in den sechziger Jahren den Zollabbau im Gleichschritt mit der EWG – so dass 1971 der Schritt zu einem gemeinsamen Freihandelsabkommen nicht mehr gross war.
Freihandelsabkommen von 1972 – verbunden mit Europa
Am 22. Juli 1972 wurde das Freihandelsabkommen der EWG mit den EFTA-Ländern unterzeichnet. Bundespräsident Brugger (Vorsteher des Eidgenössischen Volkswirtschaftsdepartements) hielt anlässlich der Unterzeichnung im Palais d’Egmont in Brüssel eine Rede, in der er bereits im ersten Satz auf die Bedeutung der staatspolitischen Grundlagen für die Schweiz hinwies (dodis.ch/36209).
«Das Abkommen zwischen der Schweiz und den Europäischen Gemeinschaften, das im Namen des Bundesrates zu unterzeichnen ich heute die Ehre habe, stellt einen entscheidenden Schritt in unserem traditionellen Bemühen dar, an der Integration unseres Kontinents mitzuarbeiten, soweit wir hierzu unter Wahrung der direkten Demokratie, der parlamentarischen Befugnisse und der neutralen Aussenpolitik in der Lage sind.»
Am 4. Dezember 1972 kam es zur Volksabstimmung. 72 Prozent der Stimmenden und alle Kantone sagten deutlich ja zum Vertragswerk.
Grossbritannien und die Schweiz gehen getrennte Wege
Der Freihandelsvertrag der Schweiz von 1972 wurde weiterentwickelt, so dass über 100 Zusatzverträge ihn im Laufe der Jahre ergänzten. Er legte den Grundstein für einen langen und erfolgreichen bilateralen Weg. Heute passieren jeden Tag Waren im Wert von mehr als 1 Milliarde Franken die Grenze zwischen der Schweiz und der EU.
Gleichzeitig, am 1. Januar 1973, trat Grossbritannien der EWG bei – im Einklang mit den USA. – Nach vielfältiger Erfahrung traten die Briten nach 47 Jahren am 31. Januar 2020 wieder aus – nach einer Volksabstimmung (2016) und nach einer heftigen politischen Auseinandersetzung. Fast alle Medien in Europa verbreiteten ein düsteres Bild über die Zukunft Grossbritanniens «ausserhalb Europas» und zeichneten seinen wirtschaftlicher Niedergang in schwarzen Farben. Es kam anders.
Freihandelsvertrag der EU mit Grossbritannien – von gleich zu gleich
Grossbritannien unterzeichnete am 30. Dezember 2020 ein Handels- und Kooperationsabkommen mit der EU2, das am 21. Mai 2021 endgültig in Kraft trat. Dazu gehört ein umfangreicher Freihandelsvertrag von über 2000 Seiten, der die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der EU detailliert regelt. Das Abkommen erstreckt sich nicht nur auf den Handel mit Waren und Dienstleistungen. Weitere Bereiche, die im Interesse beider liegen, gehören dazu. Ein Gemeinsamer Partnerschaftsrat sorgt dafür, dass das Abkommen ordnungsgemäss angewandt und ausgelegt wird. Das Schlichtungsverfahren ist klar geregelt. – Wer die düsteren Zukunftsprognosen vor dem Brexit noch im Kopf hat, staunt über dieses sorgfältige, massgeschneiderte Vertragswerk, das die freiheitliche Zusammenarbeit zwischen der EU und Grossbritannien regelt. Alle Streitpunkte, die im Rahmenvertrag der EU mit der Schweiz den Abschluss verhinderten, wie die Rechtsübernahme, die Unterstellung unter den EU-Gerichtshof, die Personenfreizügigkeit mit der Unionsbürgerrichtlinie, sind in diesem Abkommen nicht enthalten. Es ist also möglich. Man bekommt den Eindruck, dass die Briten etwas erreicht haben, was sie bereits 1960 angestrebt hatten, als sie zusammen mit der Schweiz die EFTA gründeten.
Wir Schweizer können den Kopf so hoch halten wie die Briten
Beide Länder, die Schweiz und Grossbritannien, haben mit der EU ein detailliertes Freihandels- und Kooperationsabkommen abgeschlossen. Der Rahmenvertrag, der die Schweiz politisch stark an die EU gebunden hätte, hat sich von Anfang an als Sackgasse erwiesen. Die Weiterführung und Aktualisierung des Schweizer Freihandelsvertrages (und eventuell der Bilateralen) ist deshalb der logische Schritt.
Grossbritannien ebnet den Weg. Kommen die Schweizer Verhandlungsführer in Brüssel an einem Punkt nicht weiter, können sie den Vertrag der Briten zu Rate ziehen. Die EU kann eigentlich den Schweizern nicht etwas verweigern, was sie den Briten gewährt hat. Die Schweiz hat ohnehin eine gute Verhandlungsposition: Sie ist ein sehr guter Kunde der EU-Länder und stellt die wichtige Nord-Süd-Verbindung zu sehr günstigen Bedingungen zur Verfügung. Es kann nur ein Erfolg werden, falls Schweizer Unterhändler mit dieser Haltung antreten und wie frühere Verhandlungsführer die staatstragenden Grundsätze beherzigen. – Am 1. August erinnern wir uns daran.
Zwielichtige Rolle der USA
Fazit: Die dominierende Rolle der USA hat seit dem Zweiten Weltkrieg das europäische Geschehen wesentlich geprägt und gesteuert. In den fünfziger Jahren haben sie eine Freihandelszone innerhalb der OEEC verhindert, danach ziemlich dezidiert die Auflösung der EFTA verlangt und ihre Mitglieder gedrängt, der EWG beizutreten oder einen Assoziationsvertrag zu unterschreiben. Das war ziemlich «starker Tobak».
Dies ist auch in Bundesbern so empfunden worden. Paul Jolles, Chef des sogenannten Integrationsbüros in der Bundesverwaltung, berichtete am 23. Juli 1963 dem Bundesrat in einem als streng vertraulich eingestuften Dokument über ein Gespräch mit dem Leiter des Policy Planing Board des amerikanischen State Department wie folgt: «Mein Gesprächspartner vertritt vorbehaltlos die bekannte amerikanische Auffassung, dass das Nationalstaatentum in Europa historisch überholt sei und eine politische Einigung unvermeidlich erscheine, falls Europa weiterhin in der Weltpolitik eine Rolle spielen wolle.» Die an die Bundesräte Wahlen und Schaffner gerichtete Mitteilung von Jolles endete mit folgender persönlicher Bemerkung: «Das Gespräch hinterliess bei mir den Eindruck, dass man im braintrust des State Department mit Bezug auf Europa den Boden der Realitäten unter den Füssen verloren hat.» (dodis.ch/30356)
Die USA verfolgten offensichtlich geopolitische Ziele: Die europäischen Länder sollten in der EWG und der Nato einen einheitlichen Block bilden – gegen die Sowjetunion. Auch die Schweiz wurde massiv unter Druck gesetzt. Der «Paukenschlag» de Gaulles rettete die EFTA und ihre Idee der freiheitlichen Art der Zusammenarbeit in Europa – wenigstens vorläufig.
Der oben beschriebene «Stil» der Vereinigten Staaten ist auch heute zu beobachten. Die USA mischen sich auf ähnliche Weise in die Politik Europas ein. Sie haben mit massiven Wirtschaftssanktionen einen «Blitzkrieg» gegen Russland lanciert und verlangten, dass sich die europäischen Länder als einheitlicher Block hinter sie scharen. Dieser Blitzkrieg ist weitgehend gescheitert. Aber die Sanktionen bringen vor allem die europäischen Länder in Schwierigkeiten. – Leider ist heute kein Charles de Gaulle in Sicht.
Die Schweizer Unterhändler von damals wollten ähnlich wie de Gaulle ein Europa von souveränen Staaten, die mit ihrer Politik «das europäische Orchester zum Klingen bringen», wie Albert Weitnauer es einmal ausdrückte (dodis.ch/30358). Ein Beispiel: Im Jahr 2014 hatte die Schweiz den Vorsitz in der in Wien beheimateten OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Wie der Schweizer Nachrichtenoffizier Jacques Baud heute berichtet, hat die Schweizer Delegation damals vorgeschlagen, dass sich die Ukraine föderalistisch organisiert und ihre Regionen über eine weitgehende Autonomie verfügen sollen, ähnlich wie in der Schweiz die Kantone. Als neutrales, mehrsprachiges Land hätte sie sowohl nach West als auch nach Ost gute Beziehungen pflegen können. Diese Idee fand Eingang in die beiden Abkommen von Minsk, die Frankreich und Deutschland zusammen mit Russland ausgehandelt haben. – Heute sind die Abkommen unglücklicherweise Geschichte, denn andere gaben die Linie vor. •
1 Die Online-Datenbank «Dodis» enthält Tausende digitalisierter Dokumente zu den internationalen Beziehungen der Schweiz seit 1848, hauptsächlich aus dem Schweizerischen Bundesarchiv. Faszinierend sind u. a. Protokolle interner Gespräche des Bundesrates mit Regierungsmitgliedern anderer Staaten oder Berichte über das Geschehen im Bundeshaus, über das damals nicht berichtet wurde. Diese Dokumente waren damals streng vertraulich und sind heute – dank dodis – öffentlich zugänglich. – Begonnen hat diese Forschungsarbeit bereits 1972, seit 1997 ist sie online.
2 https://ec.europa.eu/info/strategy/relations-non-eu-countries/relations-united-kingdom/eu-uk-trade-and-cooperation-agreement_de
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-16-26-juli-2022/zur-position-der-schweiz-in-europa
Mit freundlicher Genehmigung von Zeit-Frage
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