Antiwissenschaft grassiert in der besten Forschungsnation
Jared Diamond
Das Wort «Fötus» wird verboten
Ein anderes böses Wort ist «Vielfalt». Aber eine wirksame Gesundheitsvorsorge ist doch nur möglich, wenn man anerkennt, dass Menschen unterschiedlich und auch unterschiedlich anfällig sind. Frauen etwa sind durch Eierstockkrebs gefährdet, Männer nicht; alte Menschen durch Alzheimer, Babys nicht. Hellhäutige Amerikaner haben ein grösseres Hautkrebsrisiko als dunkelhäutige.
Zwei weitere Worte, die es auf die schwarze Liste geschafft haben, sind «faktengestützt» und «wissenschaftlich erwiesen». Aber Fakten und Wissenschaft sind doch gerade die Basis der modernen Medizin. Es ist die wissenschaftliche Forschung, welche die Fakten bewiesen hat, die heute allgemein akzeptiert sind. Zum Beispiel, dass kontaminiertes Wasser Krankheiten verursacht oder dass Antibiotika bestimmte Krankheiten heilen können. Und nur dank diesen Fakten liegt die durchschnittliche Lebenserwartung von Amerikanern – republikanische Senatoren und Kongressabgeordnete eingeschlossen – heute bei etwa 80 Jahren und nicht mehr bei knapp 50 wie noch vor zwei Jahrhunderten.
Besonders absurd ist das Verbot des Wortes «Fötus». Konservative Republikaner unter den Trump-Unterstützern werden nicht müde, ihre Sorge für Föten zu beteuern, deren Leben unbedingt erhalten werden soll, egal wie ihre Überlebenschancen sind. Doch wenn diese Föten einmal zur Welt gekommen sind und staatliche Unterstützung für ihre Ausbildung, Krankenversicherung und anderes beanspruchen, verlieren diese Politiker ihr Interesse an ihnen.
Das amerikanische Paradox
Solche offiziellen Sprachverbote wären in jedem Land idiotisch. Doch von der Regierung der Vereinigten Staaten erwartet man sie zu allerletzt. Denn die USA sind weltweit führend in Wissenschaft, Technologie und Medizin. Ihr Output an wissenschaftlicher Forschung übersteigt den der gesamten übrigen Welt. Wissenschaft und Technologie sind der Hauptgrund dafür, dass die USA während der letzten 70 Jahre das mächtigste Land der Welt waren. Und doch hat diese weltweit führende Wissenschaftsnation eine Regierung, die gleichzeitig weltweit führend in der Ablehnung von Wissenschaft ist. Wie lässt sich dieses Paradox erklären?
In Wahrheit war ein hartnäckiges Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Rationalität schon immer ein Teil der amerikanischen Gesellschaft. Dies belegt zum Beispiel der oft zitierte Scopes-Prozess von 1925. Damals wurde ein Lehrer dafür verurteilt, weil er in einer Schule in Tennessee die Evolutionslehre unterrichtet hatte. Dies war in Tennessee durch ein 1925 verabschiedetes Gesetz verboten worden, das erst 1967 wieder abgeschafft wurde. Noch immer darf die Evolutionslehre vielerorts in den USA nicht oder nur mit Einschränkungen gelehrt werden. Dabei ist die Evolution der zentrale Aspekt der Biologie. Man kann Biologie ebenso wenig lehren, ohne die Evolution zu verstehen, wie man Chemie oder Physik lehren kann, ohne Moleküle und Atome zu verstehen.
Demokratischer als Europa
Es gibt meiner Meinung nach zwei wichtige Gründe für dieses paradoxe amerikanische Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Vernunft. Der erste Grund ist, dass die USA keine gewöhnliche, sondern eine extreme Demokratie sind. Während westeuropäische Länder politisch zwar als Demokratien betrachtet werden, waren Länder wie etwa Grossbritannien oder Italien sozial gesehen effektiv immer viel undemokratischer, weil in ihnen Klassenzugehörigkeit eine viel grössere Rolle spielt als in den USA. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung beginnt dagegen mit der Bekräftigung, dass jeder Mensch gleich sei; Chancengleichheit war lange ein zentrales amerikanisches Ideal; die Einwanderer aus Europa waren ihrer ererbten Privilegien beraubt und gezwungen, ohne Rücksicht auf Stand und Klasse neu anzufangen.
Noble Ideale, bittere Realität
Dieser noble Glaube an Chancengleichheit prallt in der Realität auf die bittere wissenschaftliche Erkenntnis, dass nicht alle Menschen die gleichen Fähigkeiten haben. Manche sind begabter als andere, die einen beim Basketball, die anderen in der Forschung, jeder in einem anderen Bereich. Und in diesem Widerspruch wurzelt das amerikanische Misstrauen gegenüber Experten und speziell gegenüber Wissenschaftlern.
Konservative Amerikaner prahlen ganz offen mit ihrem Misstrauen gegenüber der Wissenschaft und den Experten und rühmen das Weltbild des Durchschnittsbürgers. Doch diese Bewunderung für den Mann oder die Frau der Strasse ist nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Denn ironischerweise hat sich die Situation des amerikanischen Durchschnittsbürgers in den letzten zwei Jahrzehnten laufend verschlechtert, und die jüngste Steuerreform der Republikaner kommt nicht allen, sondern vor allem den Superreichen zugute.
Trotzige Ablehnung von Fakten
Der zweite Faktor, der meiner Meinung nach zum paradoxen amerikanischen Misstrauen gegenüber Wissenschaft und Vernunft beiträgt, ist die Rolle der religiösen Fundamentalisten. Als die USA gegründet wurden, gab es in vielen europäischen Ländern, aus denen die meisten der Einwanderer kamen, Staatsreligionen: der Katholizismus in Italien und Spanien, die anglikanische Kirche in England, der Protestantismus in den mitteleuropäischen und skandinavischen Ländern. Viele Immigranten kamen aus Europa, um diesen Staatsreligionen zu entfliehen. In den USA gründeten sie dann neue Religionen, darunter die Mormonenkirche, die Zeugen Jehovas, die Adventisten und die verschiedenen Baptistenkirchen.
Der Aufstieg dieser Kirchen gründete oft in einer trotzigen Ablehnung wissenschaftlicher Tatsachen. Die zentralen Lehren der enorm erfolgreichen Mormonenkirche etwa basieren auf dem Glauben, dass am 21. September 1823 ein erleuchtetes, wiedergeborenes Wesen namens Moroni im Bundesstaat New York einem Teenager namens Joseph Smith erschien. Das Wesen Moroni zeigte Joseph Smith vergrabene Goldtafeln mit eingravierten Schriften in «reformiertem Ägyptisch», auf denen Indianer als Nachfahren der Hebräer beschrieben werden, die über den Pazifik nach Nordamerika gesegelt seien. Und Moroni offenbarte Smith, wie man die ägyptischen Texte ins Englische übersetzte, als ein Buch der Bibel mit dem Titel «Buch Mormon».
Der einzige Beleg für diese Geschichte sind Joseph Smiths eigene Behauptungen und die von elf Zeugen, die schwören, Smiths gravierte Goldtafeln gesehen zu haben. Sehr viel wahrscheinlicher und belegter ist hingegen die nicht mormonische Darstellung, nach der Joseph Smith das «Buch Mormon» selbst geschrieben und sich dabei auf lokale indianische Legenden gestützt habe.
Mögliche Verlierer
Das Glaubenssystem der Mormonen und anderer fundamentalistischer Religionen steht im Konflikt mit einer auf Tatsachen beruhenden wissenschaftlichen Weltsicht. Dennoch haben diese Religionen viele Anhänger, und deren politischer Einfluss ist viel höher als es ihrem Anteil, den sie an der Gesamtbevölkerung ausmachen, entsprechen würde. Denn diese Gemeinschaften sind sehr motiviert, gut organisiert und engagiert. Fundamentalistische Religionen sind daher ein wichtiger Teil der gegenwärtigen antiwissenschaftlichen Strömung in den USA, der sich speziell auch gegen die Evolutionslehre richtet.
Der gegenwärtige Zustand der Vereinigten Staaten erinnert mich an ein Sprichwort der alten Griechen: «Den, den die Götter vernichten möchten, machen sie erst wahnsinnig.» Welche Konsequenzen das haben wird, weiss ich nicht. Klar ist nur, dass diese von den Wahlen in diesem Jahr und 2020 abhängen und davon, was die gegenwärtige Regierung unternimmt, um die freie Entscheidung der Amerikaner bei diesen Wahlen zu verhindern. Die grosse Frage wird sein, ob dann nur die Konservativen, die die republikanische Partei dominieren, geschlagen werden. Das wäre eine Rückkehr zur politischen Vernunft. Oder ob vielmehr die auf Wissenschaft und Vernunft beruhenden Stärken der USA verlieren werden.
Aus dem Englischen von Jörg Häntzschel
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