Corona und Psychologie: Angst arbeitet dem demokratischen Miteinander entgegen
Längst ist die Angst überall sicht- und spürbar. Mal latent, mal manifest. Wenn eine Angst-Dynamik solche Ausmaße erreicht hat, wie es seit der Corona-Krise der Fall ist, handelt es sich um einen komplexen Vorgang, bei dem es sehr schwierig wird, die einzelnen Komponenten zu definieren und zwischen Anteilen der bewussten Herbeiführung sowie Anteilen der Eigendynamik zu unterscheiden.
Dass es auch Anteile der bewussten Herbeiführung gibt, ist spätestens durch ein vertrauliches Strategiepapier des Innenministeriums bekannt geworden. Über das siebzehnseitige Papier berichtete zuerst der Rechercheverbund aus Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR im März. Die Arte-Dokumentation „Sicherheit kontra Freiheit“ vom 10. November griff es wieder auf: „Dieses Papier legt die Vermutung nahe, dass die deutsche Regierung im Frühjahr u.a. auf Angst und Emotionen setzte“. So heißt es:
„Der Worst Case ist mit allen Folgen für die Bevölkerung in Deutschland unmissverständlich {…} zu verdeutlichen. Um die gewünschte Schockwirkung zu erzielen, müssen die konkreten Auswirkungen einer Durchseuchung auf die menschliche Gesellschaft verdeutlicht werden.“
Wenn nichts getan werde, prognostizieren die Verfasser ein Worst-Case-Szenario von über einer Million Toten im Jahre 2020 – für Deutschland allein. Es solle klargemacht werden, dass „viele Menschen qualvoll um Luft ringend zu Hause sterben. Kinder würden Eltern anstecken.“ Der Leiter des Innenministeriums bestätigte die Existenz des Papiers, wollte es aber nicht kommentieren, da es „nicht für die Öffentlichkeit bestimmt“ sei (zitiert nach taz.de vom 28.03.2020).
Gleich im Anschluss an diesen Auszug lässt Arte den Psychologen und renommierten Risikoforscher Prof. Gerd Gigerenzer aus dem Max-Planck-Institut für Bildungsforschung zu Wort kommen. Er erklärt, dass Menschen, die Angst haben, sich besser steuern lassen:
„Man kann vermuten, dass die Modell-Rechnungen, die am Anfang kursierten und die viel zu hoch waren, geholfen haben, dass Menschen genügend Angst bekamen, so dass sie die Hygiene-Regeln befolgt haben. Im Allgemeinen ist es so, dass Angst nicht nur eine ganz menschliche Reaktion ist, um Gefahren zu entgehen, sondern man kann die Angst auch etwas schüren, um nachzuhelfen – wie es möglicherweise dahinter gestanden ist –, damit die Menschen sich auch konformer verhalten.“
Die im Strategiepapier erwähnte „gewünschte Schockwirkung“ erklärt er psychologisch als Angst vor Schockrisiken. Ein Schockrisiko ist eine Situation, in der viele Menschen – wie bei einer Pandemie – innerhalb relativ kurzer Zeit sterben könnten. Wenn über einen vergleichbaren Zeitraum verteilt ebenso viele Menschen sterben – etwa durch eine Grippe oder Krankenhausviren – dann wird es sehr schwer, ebenso viel Angst auszulösen.
Angst-Dynamik als Lawine
Es versetzt mich heute nicht mal mehr in Verwunderung, wenn ich Kinder sehe, die Maske tragen, obwohl sie alleine auf der Straße unterwegs sind. Das wäre vor nur wenigen Monaten noch anders gewesen. Doch die Angst-Dynamik ist im Frühjahr wie ein Schneeball ins Rollen gekommen und inzwischen zu einer beachtlichen Lawine geworden. Die Psychologie eines Schockrisikos hat ihre Aufgabe erfüllt.
Möglicherweise wurde der Schneeball tatsächlich einzig zum Schutz vor einem Worst-Case auf den Weg gebracht. Aber zum einen denke ich, dass es nicht überraschen darf, wenn Menschen, die das Gefühl haben, „gesteuert“ zu werden, ein Unbehagen entwickeln, das das Vertrauen in das strategische Management der Corona-Krise untergräbt. Zum anderen reißen Lawinen mit, was sie nicht mitreißen sollen, haben zerstörerisches Potential und lassen sich nur mühsam und unbefriedigend stoppen, weshalb mir das Setzen auf Angst und Emotionen sowie das Erzielen einer Schockwirkung als naiv erscheint. Hier wurde eine Strategie angesetzt, ohne dass die Strategen zuvor imstande waren, unabhängig von den eigenen Interessen eine klare Diagnose und Prognose zu stellen.
Der öffentliche Umgang mit angstmindernden Informationen
Hinzu kommt, dass manche Nachrichten, die Angstgefühlen entgegenwirken oder zumindest zu einem kritischeren Umgang mit den weit verbreiteten Zahlen (z.B. die „Neuinfektionen“ betreffend) führen könnten, wenig Beachtung in den Leitmedien finden. Als Beispiel dafür kann der Artikel „Urteil gegen Corona-Test in Portugal: Was taugt der PCR-Test?“ der Ostthüringer Zeitung dienen, die wohl als erste deutsche Zeitung berichtete, dass das Berufungsgericht von Lissabon die PCR-Tests für unzuverlässig erklärt hat: Auf diese Tests aufbauende Quarantäne-Maßnahmen seien illegal. Das Urteil stammt vom 11.11.2020. Trotzdem blieb die Ostthüringer Zeitung zumindest bis Ende November die einzige deutsche Zeitung, die angemessen darüber berichtete. Immerhin wurde am 29.11.2020 online in einer juristischen Fachzeitschrift darüber berichtet:
„Corona-Urteil: Laut Lissabon sind PCR-Tests unzuverlässig und dürfen keine Quarantäne begründen“. In dem Artikel heißt es: „Das Berufungsgericht führt in seiner Begründung aus, dass der PCR-Test an und für sich nicht in der Lage ist, zweifelsfrei festzustellen, ob die Positivität tatsächlich einer Infektion mit dem SARS-CoV-2 Virus entspricht. Somit sei das Risiko eines falsch-positiven Ergebnis sehr hoch“ (zitiert nach anwalt.de) .
Da die Corona-Politik bislang weitgehend auf dem PCR-Test basiert hat, könnte das ernstzunehmende Fragen aufwerfen, selbst wenn nach ausreichender öffentlicher Diskussion z.B. entschieden würde, dass das Berufungsgericht für ein solches Urteil nicht die Befugnis hatte. Diese Diskussion könnte auch angstmindernd wirken, wenn dadurch bekannter würde, wie problematisch die Falsch-Positiv-Rate ist (worauf auch das Deutsche Ärzteblatt hingewiesen hat), da dies die Zahl der „Neuinfektionen“ in ein anderes Licht stellen würde. Wer jedoch kritisch hinterfragt bzw. bemüht ist, einem Übermaß an Angst entgegenzuwirken, muss während der aktuellen Krise vorsichtig sein, nicht den Verschwörungs-Stempel aufgedrückt zu bekommen – so wie es z.B. manche Virologen trotz langjähriger beruflicher Expertise an Universitäten oder anderen renommierten Institutionen erleben mussten.
„Strukturniveau“: Angst ist kein guter Berater
Wie von Prof. Gigerenzer erklärt, ist Angst per se kein primär pathologisches Phänomen. Etwa die Realangst, die Angst vor realer äußerer Bedrohung, ist zum Überleben des Individuums unerlässlich. Im Gegensatz dazu ist die sog. neurotische Angst eine aus einer innerlich erlebten Bedrohung. Doch welchen Ursprungs die Angst auch immer sein mag – stets erleben wir sie als eben das: Angst. Dass Angst kein guter Berater ist, gilt also in beiden Fällen. Sie ist kein guter Berater, weil Angst dazu führt, dass unser sog. Strukturniveau weniger gut integriert ist: Ein hohes Strukturniveau kann auf ein mittleres fallen, ein mittleres auf ein niedriges. Die Unterscheidung in hohes, mittleres und niedriges Strukturniveau geht auf den anerkannten Psychologen Otto Kernberg zurück und beschreibt einen unterschiedlichen Reifegrad der psychischen Funktionen. Eine relevante psychische Funktion könnte in diesem Kontext z.B. das sichere Unterscheiden von innerer und äußerer Welt sein. Bezogen auf diesen Kontext: Wie viel der gefühlten Bedrohung ist durch die äußere Welt begründet? Und wie viel ist durch das Schüren der Angst in meiner inneren Welt entstanden? Wenn ich stark verunsichert oder gar verängstigt bin, fällt mein Strukturniveau auf ein weniger reifes Niveau, und die Unterscheidung wird mir entsprechend schwerer fallen. Wenn strategisch auf Angst gesetzt wird, dann wird auch auf eine weniger „reife” Bevölkerung gesetzt. Ob gewollt oder ungewollt.
Angst erschwert das demokratische Miteinander
Zurück zu Realangst und neurotischer Angst. Ich denke, dass wir es bei den Corona-Viren mit einer Mischung aus beidem zu tun haben – es gibt sowohl eine reale Bedrohung wie auch einen Anteil neurotischer Angst. Auch das, also ein Gemisch aus beidem, ist nichts Seltenes. Trotzdem ist es in diesem Fall von besonderer Brisanz, da jede und jeder Einzelne in diesem Land ihr jeweils persönliches Mischungsverhältnis in sich hat, was in der Gesamtheit zu einer weiteren Emotionalisierung der Bevölkerung zu führen scheint. Wer als jüngerer, nicht-vorerkrankter Mensch wenig ängstlich ist, könnte einen kritischeren Blick auf die politischen Entscheidungen haben als jemand, der Vorerkrankungen und mehr Angst hat. Wer viel Angst hat, wird vielleicht sogar unempfänglich für wissenschaftliche Studien, die die Dramatik der Wahrnehmung lindern könnten. Wer die kursierenden Ängste gar nicht ernst nimmt, könnte sich und anderen ebenfalls schaden. Zu erwähnen sind noch diejenigen, die zwar keine oder wenig Angst vor dem Virus haben, dafür aber vor eventuellen Folgen der Krise für den Sozial- und Rechtsstaat. Die jeweiligen „Mischungsverhältnisse“ der Angst zeigen sich in den verschiedensten Gewändern.
An dieser Stelle geht es mir vor allem darum, wie emotional und zu großen Teilen auch intolerant wir miteinander bzw. mit den unterschiedlichen „Mischungsverhältnissen“ anderer umgehen. Streitigkeiten scheinen kaum möglich. Auch breite Debatten in den Leitmedien sind rar geworden. Warum ist das so?
Im besten Fall sind Auseinandersetzungen von einer gegenseitigen Offenheit für die jeweiligen Standpunkte geprägt. Um eine Sichtweise zu begreifen, muss man sich erst einmal darauf einlassen – auch wenn man sie dann im nächsten Schritt zerlegen will. Aber diese Form der Auseinandersetzung ist in diesem Jahr meines Erachtens deutlich seltener geworden. Öffentlich wie privat. Stattdessen werden Auseinandersetzungen überraschend schnell emotional. Zum Teil so emotional, dass sich Gräben zwischen anders Denkenden auftun. In meiner psychotherapeutischen Praxis höre ich von Familien, die bewusst nicht mehr über Themen, die mit der Corona-Krise zu tun haben, sprechen, um zu vermeiden, dass sich Fronten bilden.
Ein anderes Phänomen, das mir allgemein weit verbreitet scheint und die gewünschte Form der Auseinandersetzung ebenfalls verhindert, ist das Zitieren in Kombination mit einem Herausreißen aus dem Kontext. Ich erkenne meine eigenen Worte zum Teil nicht wieder, wenn Patienten mich „zitieren“. Irgendetwas, was ich gesagt habe, hat etwas in ihnen zum Klingen gebracht, das sie dann in ihren Kontext einbauen. Meine Worte können dadurch eine andere Bedeutung oder auch nur einen anderen Beigeschmack bekommen. In der öffentlichen Diskussion bekommt die Problematik des Reißens von Äußerungen aus ihrem Kontext eine ernstere Sprengkraft.
Zeiten des Notstands erfordern Solidarität
Im Rahmen der Ausbildung zur Psychoanalytikerin lernte ich, dass Solidarität einen Ausweg aus Grabenkämpfen (wie etwa dem zwischen Mann und Frau) bieten kann. Ich vermute, dass die meisten Menschen ähnlich denken und empfinden würden, wenn sie wie ich ihr Geld damit verdienen würden, den zu wenig beachteten Verlierern der Krise[1] zuzuhören und zu helfen – zum Beispiel denjenigen, die nicht nur von der Tatsache wissen, dass enorme wirtschaftliche Schäden entstanden sind und entstehen, sondern die es am eigenen Leib erfahren. Menschen, die darüber sprechen, dass sie Angehörige nicht auf dem Sterbebett begleiten durften; Menschen, die von ihren Enkeln nicht mehr umarmt werden, weil die Kinder „niemanden töten“ wollen; Menschen, die ihre Existenzgrundlage bedroht sehen – die Beispiele ließen sich fortführen. (Anmerkung der Redaktion: Die NachDenkSeiten haben in zahlreichen Artikeln und in dem Buch „Die im Dunkeln sieht man nicht“ solche Schicksale geschildert.) Bei diesen Menschen hinterlassen Begriffe wie Freiheit und Gerechtigkeit inzwischen Bitterkeit. Ich bin jedes Mal dankbar, wenn sich auch Virologen zu Wort melden bzw. in den Leitmedien zu Wort melden dürfen, die fordern, dass Soziologen, Pädagogen und Psychologen mit an dem Tisch sitzen sollten, wenn zukünftige Maßnahmen diskutiert werden.
Die psychische Reife
Im Verlauf des Jahres hat sich eine Atmosphäre entwickelt, in der ich bereits aufgrund des vorherigen Satzes befürchten muss, von manchen Leserinnen und Lesern als Querdenkerin oder gar „Covidiotin“ eingeordnet zu werden. Diese Gedanken bringen mich zurück zu meiner Frage, ob Solidarität nicht eine besondere Bedeutung bekommen sollte. Wir brauchen keine diffamierenden Etiketten, die Emotionen noch weiter hochkochen lassen und die Gräben vertiefen. Wie beschrieben, verlieren wir an psychischer Reife, wenn wir emotionalisiert sind. Daher ist es alles andere als hilfreich, wenn sich ausgerechnet die SPD-Vorsitzende Saskia Esken bezüglich ihres Gebrauchs der Covidioten-Etikette verteidigt, indem sie erklärt: Wer mit bestimmten Leuten zusammen marschiere, müsse sich möglicherweise Idiot nennen lassen.
Ich wundere mich, dass es sie nicht betroffen und nachdenklich macht, dass Leute, die jahrzehntelang u a. ihre Partei gewählt haben, auf die Straße gehen, OBWOHL sie dadurch „mit bestimmten Leuten zusammen marschieren“ müssen, von denen sie sich NACH WIE VOR abgrenzen wollen.
Ich wundere mich, dass es sie nicht betroffen und nachdenklich macht, dass die bislang geltende „Regel“, dass man nach Hause geht, sobald Demonstranten von rechts ebenfalls anwesend sind, TROTZ des nach wie vor bestehenden Bedürfnisses nach Abgrenzung nicht mehr greift.
Ich wundere mich, dass es die Vorsitzende einer „Volkspartei“ nicht betroffen und nachdenklich macht, dass Teile der Bevölkerung sich nicht mehr vertreten fühlen. Stattdessen wird zu besagter Etikette gegriffen. In der oben genannten Arte-Dokumentation erklärt die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot:
„Wenn ich die Person diffamiere und sage, Du bist ein Covidiot, dann habe ich schon ein Ausschlusskriterium – das heißt, ich muss Dein Argument nicht ernst nehmen. Und das ist das Verfängliche heute in der Diskussion, dass sich eine geschlossene Meinungsdecke im Grunde selbstgerecht dazu entschließt, bestimmte Argumente nicht einmal ernst nehmen zu müssen, weil sie aus dem oder dem Mund kommen.“
Wenn ein Diskurs einseitig gehalten wird, dann kommt die zu kurz gekommene Seite irgendwann und irgendwo zum Vorschein. Es hilft niemandem, wenn dann mit aufgeladenen Worten wie „Verschwörungstheoretiker“ oder „Covidiot“ losgelegt wird. Selbst abstoßende, verärgernde oder schockierende Äußerungen wirken anders auf mich, sobald ich verstanden habe, was dahinter steckt. Menschen sind nicht plötzlich schlecht oder dumm. Die Suche nach Gründen und der jeweils subjektiven Sinnhaftigkeit lohnt sich. Solidarität würde für mich bedeuten, dass ich das im Hinterkopf mitdenke.
Jemand, der seine sterbende Ehefrau nicht in den Tod begleiten durfte, darf Wut auf die politischen Eingriffe haben, ohne gleich als Leugner oder Covidiot beschimpft zu werden. Die Wut darf selbstverständlich nicht dazu führen, rücksichtslos mit den Bedürfnissen derjenigen umzugehen, die ängstlich sind. Jemand, dessen Eltern über sechzig und womöglich Asthmatiker sind, hat ein Recht auf seine Angst vor den Corona-Viren. Diese Angst darf aber nicht dazu führen, Menschen, denen es primär um die Sorge um unsere Grundrechte geht, zu entwerten. Zeiten der Krise erfordern Solidarität. Entwertung meiner Mitmenschen verunmöglicht Solidarität und schafft stattdessen Gräben. Gräben können hier als Metapher verstanden werden für Spaltungstendenzen – wenn nicht sogar Spaltungen – die mit dem Fortschreiten der aktuellen Krise immer sichtbarer werden.
Wie kommen wir aus der Polarisierung der Gesellschaft heraus? Wenn ich oben sage: „ich wundere mich“, dann ist das kein Versuch in Diplomatie. Ich wundere mich tatsächlich. Denn ich unterstelle der SPD-Vorsitzenden oder allen anderen, die ich als Beispiele für den schnellen Griff zur Diffamierung hätte aufführen können, ebenfalls nicht, dass sie plötzlich schlecht oder dumm sind. Vielmehr wundere ich mich, wie eine ganze Gesellschaft sich in eine Richtung bewegt, die vom psychologischen Blickwinkel aus als psychisch unreif zu definieren ist.
Spaltungen machen eine komplizierte Welt überschaubarer
Das bringt mich zurück zur Angst. Jedem von uns stehen sog. Abwehrmechanismen zur Verfügung, derer die Psyche sich bedient, um mit schwierigen Gefühlen fertig zu werden. Im Alltagssprachgebrauch hat sich zum Beispiel längst die „Verdrängung“ etabliert. Wir sagen, dass wir etwas verdrängt haben, wenn wir etwas Unangenehmes aus unserem bewussten Denken weghaben wollen. Hier wird das oben beschriebene Strukturniveau wieder interessant. Denn je besser das Strukturniveau einer Person integriert ist – also je reifer der psychologische Entwicklungsstand –, desto reifer sind auch die Abwehrmechanismen. Ein sehr reifer Mechanismus wäre zum Beispiel Humor. Auch bei der Intellektualisierung oder Rationalisierung handelt es sich um reife Bewältigungsstrategien. Im Gegensatz dazu ist die Spaltung ein deutlich unreifer Abwehrmechanismus.
Im klinischen Kontext könnte man bei dieser drastischen Art der Abwehr als erstes an Patienten mit einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung denken, die auch Borderline-Persönlichkeitsstörung genannt wird. Es handelt sich dabei um eine schwere Störung. Die pathologische Abwehr erkennt man z.B. daran, dass diese Patienten ihre Welt in Schwarz und Weiß einteilen „müssen“, um mit schwierigen, sie überfordernden Gefühlen umzugehen. Grautöne gibt es nicht mehr. Dadurch wird eine sie überfordernde Welt überschaubarer. Das Einteilen in Schwarz und Weiß / Gut und Böse hilft den Betroffenen also dabei, sich zu orientieren. Ihr Strukturniveau ist gering integriert, so dass die Spaltung als ein Weg der Bewältigung zu verstehen ist.
In zusammenlebenden sozialen Verbänden kann sich eine solche pathologische Dynamik mit verschiedenen Rollen auf alle verteilen. Die an verschiedenen Stellen zu verzeichnenden gesellschaftlichen Spaltungstendenzen deuten darauf hin, dass das Angstniveau ein solches Ausmaß erreicht hat, dass reifere Abwehrmechanismen nicht mehr greifen und wir als Gesellschaft möglicherweise teilweise auf ein Borderline-Niveau gefallen sind.
Das Schüren der Angst ist schädlich
Ich möchte von meinem sozialpsychologischen Standpunkt aus also darauf aufmerksam machen, dass ein Schüren der Angst schädlich ist. In Zeiten der Krise sollte klug abgewogen werden. Jede und jeder Einzelne sollte in der Lage sein, für sich und die Kinder gute Entscheidungen zu treffen – wie etwa die, dass Kinder nicht auf frische Luft verzichten sollten, wenn sie allein durch die Straßen spazieren. Es ist nicht möglich, klug abzuwägen und gute Entscheidungen zu treffen, wenn eine Gesellschaft auf ein Borderline-Niveau regrediert ist und ein Übermaß an Emotionen nur noch mit Hilfe des Abwehrmechanismus der Spaltung bewältigt werden kann. In Zeiten des Notstands erfordert es mehr als ein Borderline-Strukturniveau, um den Sozial- und Rechtsstaat zu bewahren. Es kann gefährlich werden, wenn Teile der Bevölkerung das Bedürfnis haben, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, um sich in ihr zurechtzufinden.
Spaltungen umgehen die Mitte. Aber es ist genau das, was gebraucht wird: Brücken, die die verschiedenen Gräben miteinander verbinden. Bei der Therapie eines Borderline-Patienten verfolgen alle das gleiche Ziel: eine reifere Integration des Strukturniveaus. Trotzdem fliegt einem die Therapie bisweilen um die Ohren und es kommt zu Therapieabbrüchen. Auch gesellschaftlich verfolgen wir das gleiche Ziel: ein demokratisches Miteinander und möglichst geringe Sterbezahlen. Trotzdem sind zunehmend mehr Menschen besorgt (Eingriffe in die Grundrechte, keine breite mediale Debatte, Selektierung in systemrelevante und nicht-systemrelevante Berufe etc.). Es bleibt sehr zu hoffen, dass uns das nicht „um die Ohren fliegt“.
Noch ein Wort zum Vorgehen vieler Medien in der aktuellen Krise: Mir ist bekannt, dass das Wecken von Emotionen ein gewünschtes Mittel ist, um eine Zielgruppe „bei der Stange zu halten“. Medien haben aber auch eine Aufgabe und Verantwortung in und für die Demokratie – also für die gesamten hundert Prozent der Bevölkerung. In emotional derart aufgeladenen Zeiten ist weniger Emotion mehr. Bei der Behandlung eines Borderline-Patienten ist das therapeutische Vorgehen klar festgelegt: Wenn die Emotionen hochkochen, gehe ich als Therapeutin einen Schritt zurück, damit das sog. psychische Funktionsniveau nicht noch unreifer wird.
Der Schriftsteller Matthias Eckoldt, der über das Machtdispositiv der Massenmedien promovierte, schreibt:
„Die hochgradig selektive und immer dramatische Realität der Massenmedien ist kein Abbild der Wirklichkeit, wohl aber der Gesellschaft. Denn man wird das, was man sieht {…}. Die Funktion der Massenmedien besteht nicht darin, der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten, damit sie sich selbst erkennt. Vielmehr führen die Massenmedien der Gesellschaft ein Bild vor Augen, an dem sie sich zu orientieren hat. Die Disziplinarmacht geht mit der totalen Präsenz der Massenmedien in eine neue Runde (Eckold 2007)[2].“
In dem Sinne der Appell an die Massenmedien: Weniger Dramatik! Denn zu der Borderline-Dynamik kommt noch hinzu, dass wir es in dieser Krise ohnehin mit emotional aufgeladenen Themen zu tun haben (z.B. Tod, Krankheit, Lobbyismus oder Pharma-Industrie).
In meiner Praxis werde ich mich weiter um Einzelschicksale der Krise kümmern. Hier lerne ich von Betroffenen, was in der politischen Schaltstelle in Berlin nicht berücksichtigt wird. Wenn zukünftige Maßnahmen für das strategische Vorgehen in der Corona-Krise entschieden werden, müssen psychologische Fachleute in die Entscheidungsfindung miteinbezogen werden. Sowohl klinisch arbeitende Psychologinnen wie auch Sozialpsychologen. Dann würde vielleicht endlich bemerkt werden, dass zu Solidarität mehr gehört, als eine Maske zu tragen.
Willkommen in der „neuen Normalität“
Eine Woche ohne Massen-Medien – Ein Selbstversuch
Corona-Demo, Nawalny, Krieg und Frieden: Der unterirdische Zustand deutscher Medien
Pandemie und Propaganda: Die ganz große Verwirrung
Corona: Die bizarre Selbstsicht der Medien
[«1] Diejenigen, die an Covid-19 erkrankt sind oder jemanden verloren haben, die daran erkrankt war, sind natürlich ebenfalls stark und auf traurige Weise betroffen. Diese Menschen erfahren jedoch die Beachtung, die bei der von mir genannten Gruppe m. E. zu kurz kommt.
[«2] Eckoldt, M. (2007) Medien der Macht. Macht der Medien. Berlin: Kadmos.
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