Der Wunsch nach Konsens gefährdet die Freiheit der Wissenschaft
Im 21. Jahrhundert ist die Menschheit mit einer Vielzahl komplexer sozialer Probleme konfrontiert, die von Ungewissheiten, systemischen Risiken und divergierenden Wertvorstellungen geprägt sind. Der Klimawandel und die Corona-Pandemie sind gute Beispiele. Die Wissenschaft ist immer mehr zu einer Art Rechtsstreit geworden, bei dem die Suche nach der Wahrheit zweitrangig ist und der Parteinahme für eine bestimmte politische Lösung untergeordnet wird.
Wie beeinflusst die Politik die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten Fragen? Politische Voreingenommenheit hat einen Einfluss darauf, welche Forschungsprojekte vorrangig finanziert, welche Fragen gestellt, wie die Erkenntnisse interpretiert werden, was zitiert und was in den Kanon übernommen wird. Faktische Darstellungen werden in Gutachten und von den Medien mit Blick auf spätere politische Verwendung gefiltert.
Angst vor Sanktionen
Wie beeinflusst die Politik das Verhalten von Wissenschaftlern? Wissenschaftler werden gedrängt, für konsensfähige Positionen, moralische Ziele und bestimmte politische Entscheidungen einzutreten. Dieser Druck kommt von Universitäten und Fachverbänden, von Kollegen, die zugleich Aktivisten sind, von Journalisten und von all den Gremien, die Gelder für Forschungsprojekte bewilligen. Da Peer-Reviews überaus wichtig sind für akademischen Erfolg, schrecken viele Wissenschaftler aus Angst vor Sanktionen davor zurück, Gedanken zu formulieren, die weithin unpopulär sind.
Wissenschaftsaktivisten nutzen ihre privilegierte Position, um moralische und politische Ziele zu verfolgen. Dieser politische Aktivismus erstreckt sich auch auf die Berufsverbände, die Fachjournale herausgeben und Konferenzen veranstalten. Diese Aktivisten entscheiden im Grunde, was veröffentlicht wird, wer zu Konferenzen eingeladen wird und wer berufliche Anerkennung geniesst. Praktisch alle Berufsverbände, deren Mitglieder in der Klimaforschung involviert sind, haben Stellungnahmen publiziert, in denen dringend ein Ende der Treibhausgasemissionen gefordert wird.
Eine besonders ungute Erscheinungsform einer politisierten Wissenschaft ist immer dann zu beobachten, wenn Politiker, Unterstützergruppen, Journalisten und Aktivisten solche Wissenschaftler, deren Arbeit ihnen unvereinbar mit ihrer moralischen und politischen Agenda erscheint, unter Druck setzen oder versuchen, sie mundtot zu machen.
Wenn wir Ungewissheiten anerkennen, wird die Menschheit eine gedeihliche Zukunft haben.
Ultimative Form von Ketzerei
Eine wesentliche Strategie bei der Politisierung von Wissenschaft ist die gezielte Herbeiführung eines wissenschaftlichen Konsenses zu politisch wichtigen Fragen – beispielsweise zu Klimawandel oder Corona. Unter Verweis auf den Uno-Klimakonsens werden wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für dringende politische Entscheidungen ausgegeben. Tatsächlich vertritt die Uno eine Position, die Ungewissheit und Widerspruch als problematisch ansieht und konsenshaft aufzulösen versucht. Diese Praxis ist Ausdruck einer Vorstellung, wie Politik mit wissenschaftlichen Ungewissheiten umzugehen habe.
Es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen «wissenschaftlichem Konsens» und «Konsens unter Wissenschaftlern». Wo es eindeutige wissenschaftliche Gewissheiten gibt – etwa die Tatsache, dass sich die Erde um die Sonne dreht –, muss über Konsens nicht geredet werden. Dagegen steht «Konsens unter Wissenschaftlern» für ein kollektives Urteil einer Gruppe von Wissenschaftlern, das oft von staatlicher Seite offiziell angefordert wird.
Jede institutionalisierte Konsensbildung fördert Gruppendenken, das den Konsens verstärkt. Der Uno-Weltklimarat (IPCC) bemüht sich seit vierzig Jahren, zu einem wissenschaftlichen Konsens hinsichtlich des menschengemachten Klimawandels zu kommen. Insofern ist der IPCC-Konsens ein «herbeigeführter Konsens», also das Ergebnis eines gezielten Prozesses. Der IPCC-Konsens ist durch eine politische Vorgehensweise gesellschaftlich kanonisiert worden, unter Umgehung des langen und komplexen Prozesses wissenschaftlicher Validierung, der feststellen würde, ob die Schlussfolgerungen tatsächlich korrekt sind. Die Kehrseite eines herbeigeführten Konsenses ist «Leugnung». Das Narrativ vom Klimawandel in Frage zu stellen, ist die ultimative Form von Ketzerei im 21. Jahrhundert. Praktisch alle Klimawissenschaftler bewegen sich innerhalb des sogenannten 97-Prozent-Konsenses hinsichtlich der Einwirkung menschlichen Handelns auf die Erderwärmung.
Etikett eines Leugners
Welche Wissenschaftler werden als Leugner bezeichnet und geächtet? Verdächtig sind unabhängige Denker, die den IPCC-Konsens nicht teilen. Jede Kritik am IPCC-Konsens kann Ausgrenzung zur Folge haben. Wer politische Massnahmen zur Senkung des Kohlendioxidausstosses nicht billigt, weckt Misstrauen. Wer Atomkraft für sinnvoller als Wind- und Sonnenenergie hält, gilt als Klimaleugner. Am zuverlässigsten handelt sich das Etikett eines Leugners ein, wer den sogenannten Feinden des Klimakonsenses nahesteht – Erdölunternehmen, konservativen Denkfabriken oder gar der «falschen» Partei.
Der Umstieg auf neue Energieträger ist noch viel herausfordernder als die Corona-Pandemie.
Corona ist ein interessantes Beispiel eines fabrizierten Konsenses. Die Auffassung, dass Covid-19 natürlichen Ursprungs sei, wurde Anfang 2020 von zwei Stellungnahmen etabliert – die eine in The Lancet im Februar, die andere in Nature Medicine im März. Im Lancet hiess es: «Wir verurteilen nachdrücklich Verschwörungstheorien, denen zufolge Covid-19 nicht natürlichen Ursprungs ist.» Dies führte dazu, dass die Möglichkeit eines Lecks in einem Labor in Wuhan praktisch nicht mehr verfolgt wurde. In den Mainstream-Medien wurde wiederholt erklärt, dass nach Experten-Konsens ein Entweichen des Erregers aus einem Labor auszuschliessen oder höchst unwahrscheinlich sei.
Die Kluft zwischen dem damaligen Kenntnisstand und der Selbstgewissheit der beiden Artikel hätte jedem Virologen und überhaupt jedem aufmerksamen Beobachter auffallen müssen. Einige Wissenschaftler aus anderen Disziplinen haben auch darauf hingewiesen. Erst im Mai 2021, nach der Veröffentlichung eines Artikels im Bulletin of the Atomic Scientists, der aufdeckte, dass die Autoren des Lancet-Artikels ihre Kontakte zum Labor in Wuhan verschwiegen hatten, wurde der Konsens brüchig. Es folgte darauf eine Kaskade von Absetzbewegungen – der falsche Konsens war nicht mehr haltbar.
Beunruhigend an dieser Geschichte ist allerdings nicht die Aufkündigung eines Konsenses, sondern dass ein falscher Konsens über mehr als ein Jahr aufrechterhalten werden konnte. Einige Wissenschaftler protestierten zwar, wurden in den sozialen Medien aber wüst angegangen. Die allermeisten Wissenschaftler, denen klar war, dass der Ursprung des Virus keineswegs erwiesen war, schwiegen.
Jeder Virologe, der die akzeptierte Position der Kollegenschaft in Frage stellte, lief Gefahr, als Häretiker zu gelten und in den sozialen Medien fertiggemacht zu werden. Er musste überdies damit rechnen, dass sein nächster Antrag auf Bewilligung von Forschungsgeldern abgelehnt würde. Die hässliche Seite dieses falschen Konsenses wird erst jetzt allmählich bekannt.
Mehr Ehrlichkeit
Politische und moralische Vorurteile können zu weithin akzeptierten Thesen führen, die eher die blinden Flecken der Wissenschaft verraten, als dass es fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse wären. Ein fabrizierter Konsens behindert den wissenschaftlichen Fortschritt, weil bestimmte Fragen nicht gestellt und bearbeitet werden. Ein solcher Konsens greift darüber hinaus in die Selbstkorrekturmechanismen skeptischer Wissenschaft ein, die Grundlage des wissenschaftlichen Fortschritts sind.
Der Klimawandel ist eine säkulare Religion geworden – mit Dogmen, Häretikern und Stammesdenken.
Ein solcher Konsens verschleiert Ungewissheiten, Ambivalenzen, Dissens und Unkenntnis. Grössere Ehrlichkeit in Bezug auf Unwägbarkeiten und Unwissenheit und mehr Transparenz in Sachen Dissens und Kritik würde politischen Entscheidern ein vollständigeres Bild einer relevanten Wissenschaft und ihrer Grenzen vermitteln.
Ein fabrizierter Konsens erwächst aus einer Vereinfachung von Problemen, so dass der Spielraum der Politik am Ende eingeengt wird und sich die irrige Annahme ergibt, das Problem könne gelöst werden. Bei komplexen Problemen wie dem Klimawandel oder Corona führt ein solcher Konsens zu der naiven und zugleich anmassenden Vorstellung, man habe es mit simplen und handhabbaren Risiken zu tun. Es braucht mehr Realismus bei der Lösung komplexer sozialer Probleme.
Autorität in Frage stellen
Die Pandemie hat gezeigt, dass die Instrumente, die uns bei der Konfrontation mit einem komplexen globalen Problem zur Verfügung stehen – Experten, präzise wissenschaftliche Untersuchungen, Computermodelle, staatliche Vorschriften –, keineswegs zu der angestrebten Qualität von Kontrolle geführt haben. Der weltweite Umstieg auf neue Energieträger und Nachhaltigkeit ist noch viel herausfordernder als die Corona-Pandemie. Das hergebrachte Paradigma von Beherrschung, Planung und Optimierung ist für die Probleme des 21. Jahrhunderts nicht mehr geeignet.
Aufgrund des übersteigerten Bewusstseins von Wissen und Kontrolle, das in der Klima- und der Corona-Politik zu beobachten ist, werden einige Fragen, über die offen diskutiert werden sollte, von der Politik ignoriert. Jedes vorschnelle In-Abrede-Stellen von Ungewissheiten und Ambivalenzen bei komplexen Problemen wie Klimawandel und Pandemien führt zu einer unsichtbaren Form von Unterdrückung, die mögliche Lösungen verhindert.
Punkto Klimawandel ist heutzutage nicht bloss die Durchsetzung eines politisch motivierten Konsenses mitsamt Cancel-Culture zu beobachten. Der Klimawandel ist eine säkulare Religion geworden – inklusive Dogmen, Häretikern und moralischen Stammesdenkens. Die säkulare Religion des Klimawandels wirft Fragen auf, die viel grundlegender sind als die Risiken schlechter Politik. Gefährdet sind die fundamentalen Werte der wissenschaftlichen Revolution und die Freiheit, Autorität in Frage zu stellen.
Wir müssen wegkommen von einer konsensorientierten Haltung, die Debatten über komplexe soziale Fragen wie den Klimawandel einschränkt. Wir müssen Widerspruch und Kritik ermöglichen. Wenn wir mit Blick auf Risikomanagement und Entscheidungsprozesse wissenschaftliche Ungewissheiten anerkennen, wird die Menschheit im 21. Jahrhundert eine gedeihliche Zukunft haben.
*Judith A. Curry ist emeritierte Professorin am Georgia Institute of Technology und Präsidentin des Climate Forecast Applications Network.
Dieser Artikel enthält Auszüge aus Currys neuem Buch «Climate Uncertainty and Risk. Rethinking Our Response».
Aus dem Englischen von Matthias Fienbork
4 Kommentare zu “Der Wunsch nach Konsens gefährdet die Freiheit der Wissenschaft”
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fmj
Wissenschaft bedeutet Forschung zur Erweiterung der vorhandenen Erkenntnis.
Sie dient nicht einer einmaligen Feststellung, wer recht hat.
Wissenschaft ist fliessend, sie entwickelt sich fortlaufend. Nicht immer steht eine abschliessende Erkenntnis am Ende.
Stellt sich Wissenschaft nicht selbst kritisch in Frage, indem sie auch Fehler miteinbezieht, kann sie nicht Grundlage neuer Erkenntnis werden und ist dann nicht mehr wissenschaftlich.
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Dieser Artikel ist Balsam für meine Akademiker-Seele. Ich habe das Vertrauen in die Universität verloren. Sie war die unvoreingenommene Gralshüterin des Wissens, sowie der Ort, wo Probleme unserer Gesellschaft diskutiert und nach Lösungen gesucht werden konnten. Klimakrise und Corona-Pandemie haben nun aber gezeigt, dass sich die Universität den Mainstream-Ideologien unterordnet. Der ideologisch geprägte Konsens in der Wissenschaft barrikadiert die freie Forschung und verhindert den Fortschritt.