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Krieg in Syrien  – wofür?

von Karl-Jürgen Müller
Karl-Jürgen Müller ist Berufsschullehrer in Deutschland und unterrichtet dort die Fächer Deutsch, Geschichte und Politik
03. Dezember 2015
Am 4. Dezember 2015 will der Deutsche Bundestag  – nur drei Tage nach dem Beschluss der deutschen Regierung  – einen erneuten Einsatz der Bundeswehr in einem Kriegsgebiet beschließen, dieses Mal in Syrien. Dagegen stimmen werden die Abgeordneten der Fraktion Die Linke und die meisten Abgeordneten der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen.

Die offizielle Begründung für den Kriegseinsatz lautet, nach den Anschlägen in Paris vom 13. November 2015 und auf der Grundlage des von Frankreich ausgerufenen Bündnisfalles nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrages wolle auch Deutschland seine Pflicht tun, sich der weltweiten Koalition (mehr als 60 Staaten) gegen den Terror des IS in Syrien anschließen und insbesondere Frankreich in seinem dortigen Kampf unterstützen.

Der Beschluss des Bundestages lässt indes zahlreiche Fragen offen, die an dieser Stelle gestellt und mit Dokumenten vertieft werden sollen:

  • Warum warten die deutsche Regierung und der deutsche Bundestag mit ihrer Entscheidung nicht ab, bis der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen entschieden hat, ob es eine Resolution nach Kapitel VII der Uno-Charta gibt, die dazu ermächtigt, mit militärischen Mitteln gegen den IS vorzugehen? Russland bemüht sich seit Ende September um eine solche Resolution. Gibt es kein wirkliches Interesse an einem gemeinsamen Vorgehen mit Russland? Geht es stattdessen darum, die eigenen politischen Ziele in Syrien und im Nahen Osten durchzusetzen? Ziele, die sich gegen Russland richten? Die Hintergründe für den Abschuss des russischen Kampfbombers durch die türkische Luftwaffe sind ungeklärt. Die These steht im Raum, dass der Abschuss mit Rückendeckung aus den USA erfolgt ist, und zwar von dortigen Kräften, die alles tun, um ein gemeinsames Vorgehen mit Russland gegen den IS zu verhindern. Warum sind die deutsche Regierung und der Deutsche Bundestag erneut bereit, alle verfassungs- und völkerrechtlichen Bedenken gegen den Kriegseinsatz zu übergehen, nur um in einem Hauruck-Verfahren am Krieg beteiligt zu sein?
  • Die stark moralisierende Sprache deutscher Politiker bei der Begründung des erneuten Militäreisatzes fällt auf. Ein Beispiel dafür ist die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 1. Dezember 2015 lehnte sie eine Zusammenarbeit mit der syrischen Regierung und dem syrischen Präsidenten mit der Begründung ab: «Verantwortliche, an deren Händen Blut klebt, werden wir nicht in einer gemeinsamen Zusammenarbeit haben.» Solche Formulierungen sind eher grotesk, wenn man sich einmal anschaut, mit wem alles die deutsche Regierung in den vergangenen Jahren in den Krieg gezogen ist und jetzt wieder ziehen will. Dass an den Händen der US-Regierung massenweise Blut klebt, ist inzwischen Allgemeingut geworden. Solche Äußerungen wie die der deutschen Verteidigungsministerin machen misstrauisch: Wird uns die Wahrheit gesagt? Oder sollen wir wieder einmal hinters Licht geführt werden wie so oft bei den Kriegseinsätzen der vergangenen 20 Jahre?
  • Was sind die wahren politischen Ziele und Interessen beim Krieg in Syrien? Schon seit ein paar Jahren liegen zahlreiche Analysen vor, deren Gegenstand die geopolitischen und energiepolitischen Interessen und Konflikte sind, die Syrien und den gesamten Nahen Osten betreffen. Selbst im Armed Forces Journal der US-Streitkräfte war am 21. März 2014 eine Analyse eines Majors der Streitkräfte, Rob Taylor, zu lesen, der seinem Text den Titel «Pipeline politics in Syria. You can’t understand the conflict without talking about natural gas» gab und über entsprechende Fakten berichtete. Major Taylor ist Ausbilder am US-amerikanischen «Command and General Staff College, FT. Leavenworth.»
  • Auch in Deutschland zweifeln viele an Sinn und Zweck des Bundeswehreinsatzes. Niemand bestreitet die Notwendigkeit, etwas gegen den IS zu unternehmen und dessen mörderisches Handeln zu unterbinden. Aber nach wie vor ist für viele nicht nachvollziehbar, welche Strategie von der deutschen Regierung verfolgt wird. Jürgen Rose, Oberstleutnant a.D. der deutschen Bundeswehr und langjähriger Kritiker deutscher Auslandseinsätze, schloss in einem Interview mit der Zeitung «Main-Echo» vom 2. Dezember 2015 den Einsatz der Armee im Kampf gegen den IS nicht grundsätzlich aus, betonte aber mit Blick auf die Anschläge vom 13. November:

    «Erst einmal muss man festhalten, dass die Anschläge von französischen und belgischen Staatsbürgern verübt wurden. Und grundsätzlich sage ich: Es handelt sich hier um Akte organisierter politischer Kriminalität, und für deren Bekämpfung ist nicht das Militär zuständig, sondern Justiz, Polizei und möglicherweise Geheimdienste. Deren Einsatz hat in solchen Fällen in der Vergangenheit die meisten Erfolge gebracht. Militär-Operationen dagegen haben die Terror-Gefahr potenziert. Der CDU-Politiker und Autor Jürgen Todenhöfer spricht in diesem Zusammenhang treffend von ‹Terroristenzuchtprogrammen›.»

    Das deutsche Magazin stern schreibt am 1. Dezember 2015 unter dem Titel «Warum Krieg für Frieden nicht funktioniert»: «14 Jahre nach Beginn des Afghanistaneinsatzes scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Hat denn niemand aus den Fehlern gelernt?» Spiegel-Online titelt am 2. Dezember 2015: «Anti-IS-Koalition. ‹Es gibt keine Exit-Strategie›». Im Artikel heißt es: «Eine Kooperation der verfeindeten syrischen Kräfte bestenfalls eine vage Hoffnung, westliche Bodentruppen ausgeschlossen, ein militärischer Sieg über den IS damit in weiter Ferne: Warum hat der Westen überhaupt mit seinen Luftangriffen begonnen, warum will nun auch Deutschland einsteigen, und wann soll der Einsatz als Erfolg gelten und beendet werden? Kritiker glauben, dass die Verantwortlichen auf diese Fragen schlicht keine Antworten haben. ‹Die Luftstrategie ist reiner Aktionismus›, sagt ein Nato-Insider. ‹Es gibt keine Exit-Strategie, es gibt nicht einmal eine vernünftige Eingangsstrategie. Eigentlich gibt es gar keine Strategie›.» Dann hätte man es in der Tat auf westlicher Seite mit Hasardeuren zu tun, die ohne Aussicht auf Erfolg im Kampf mit dem IS-Terrorismus nur eines erreichen werden: Zerstörungen, menschliche Opfer und noch mehr Terror in unseren Ländern. Oder aber es wird nicht mit offenen Karten gespielt? So wie nicht offen über die wahren Interessen und Ziele gesprochen wird?
  • Warum werden wieder einmal die Stimmen der deutschen Friedensbewegung übergangen? Aber es ist ein Zeichen der Hoffnung, dass sich die Friedensbewegung in einem «Aktionsbündnis: Kein Bundeswehreinsatz in Syrien» zusammengeschlossen hat und sich unter dem Motto «Nein zu deutschem Militär in Syrien! Ja zur politischen Lösung!» am 3. Dezember 2015 in Berlin am Brandenburger Tor versammelt hat.

Schmutzige Deals: Worum es im Syrien-Krieg wirklich geht

Syrien ist der Spielball in einem knallharten wirtschaftlichen Konflikt um den globalen Energie-Markt. Es geht um den Zugriff auf Erdöl und Erdgas und um die Währung, in der diese Ressourcen bezahlt werden. Die Amerikaner haben viel zu verlieren, die Russen auch. Der Strippenzieher im Hintergrund kommt aus Saudi-Arabien.

Die Amerikaner wollen den syrischen Machthaber Assad stürzen. Doch nicht aus moralischen Gründen, weil dieser Giftgas eingesetzt hat. In Syrien geht es um die Weichenstellungen für den internationalen Energiemarkt. Es geht, wie immer bei Kriegen, um Öl, Gas und Marktzugänge.

Deutlich wurde dieser Konflikt aus den Notizen von einem Treffen zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und dem saudischen Geheimdienst-Chef Prinz Bandar bin Sultan. Von diesem Treffen berichtete die Nachrichtenagentur AFP Anfang August [2013].

Die Frage, wer den Giftgas-Einsatz am 21. August wirklich durchgeführt hat, ist weiterhin ungeklärt   – trotz der amerikanischen Erklärung, man wisse mit hoher Wahrscheinlichkeit, dass Assad hinter dem Verbrechen stecke.

Zwei renommierte Reporter, die lange für die Associated Press gearbeitet haben, haben in Syrien eine ganz andere Version recherchiert. Für MPN schreiben sie, dass der saudische Geheimdienst für den Giftgas-Einsatz verantwortlich sei. Dies gehe aus zahlreichen Interviews hervor, die sie vor Ort geführt haben. Demnach sollen die Saudis die Waffen nach Syrien gebracht haben. Durch unsachgemäße Bedienung soll es dabei zu einer Explosion gekommen sein, bei der auch 12 Terroristen getötet worden seien.

Wenn das stimmt, müssten die Amerikaner Saudi-Arabien bombardieren. Doch das geht nicht. Saudi-Arabien ist der engste Verbündete der USA in der Golf-Region. Zudem hätten mehr als ein Dutzend der befragten Rebellen gesagt, dass sie von der saudischen Regierung bezahlt würden.

Dass Saudi-Arabien tatsächlich Rebellen unterstützt, wird aus den Gesprächsnotizen eines Vier-Augen-Gesprächs Anfang August im Landhaus des russischen Präsidenten Wladimir Putin deutlich. Der saudische Geheimdienst-Chef Prinz Bandar bin Sultan soll dabei nach einem Bericht des «Telegraph» auch einen Hinweis auf die Olympischen Spiele in Russland gegeben haben. Der Bericht bezieht sich auf die libanesische Zeitung «As Safir», die über das Treffen mit dem Hinweis auf diplomatische Quellen schreibt.

Demnach sagte Bandar bin Sultan zu Putin:

«Ich kann Ihnen garantieren, die Olympischen Winterspiele im kommenden Jahr zu schützen. Die tschetschenischen Gruppen, die die Sicherheit der Spiele gefährden, werden von uns kontrolliert.»

Doch der saudische Geheimdienst-Chef soll nicht nur die Kontrolle der tschetschenischen Rebellen für sich in Anspruch genommen haben. Bandar sagte zudem, er könne den Russen die Sicherheit ihrer Marine-Basis in Syrien garantieren, wenn die Regierung von Baschar al-Assad gestürzt ist. Er könne die tschetschenischen Rebellen in Syrien an- und ausschalten.

«Diese Gruppen machen uns keine Angst. Wir nutzen sie, um Druck auf die syrische Regierung auszuüben, aber sie werden keine Rolle in Syriens Zukunft spielen.»

Für die Russen ist Syrien von enormer strategischer Bedeutung, weil die Russen verhindern wollen, dass Katar für den europäischen Energie-Markt zur Alternative wird. Wenn Russland seinen Einfluss in Syrien verliert, hätte dies zur Folge, dass dem russischen Energieriesen Gazprom ein ernster Konkurrent aus der Golf-Region erwachsen könne.

Gegenwärtig ist Europa bereits vom russischen Gas-Monopol abhängig   – vor allem im Winter. Einer der wichtigsten politischen Berater von Gazprom ist der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die Saudis wissen um die wirtschaftlichen Interessen Moskaus und machten daher den Russen ein Angebot, wie man ein Ende des Bürgerkriegs in Syrien auch in einen Vorteil für Russland umwandeln könnte. Der saudische Geheimdienst-Chef schlug den Russen vor:

«Lassen Sie uns prüfen, wie wir eine gemeinsame russisch-saudische Strategie zum Thema Öl aufsetzen können. Das Ziel besteht darin, eine Einigung über den Ölpreis und die Fördermengen zu erzielen, die den Preis auf den globalen Märkten stabil halten. (…) Wir verstehen Russlands grosses Interesse am Öl und Gas im Mittelmeer von Israel bis Zypern. Und wir verstehen die Bedeutung der russischen Erdgas-Pipeline nach Europa. (…) Wir könnten auf diesem Gebiet zusammenarbeiten.»

Bandar sagte, er spreche mit der vollen Unterstützung der USA. Saudi-Arabien hat Russland offenbar ein Bündnis mit der Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) angeboten. Russland und die OPEC fördern zusammen 45 Prozent des weltweiten Öls. Putin strebt seit längerem ein solches Abkommen an. Wenn Saudi-Arabien seine Fördermenge reduzieren würde und der Ölpreis steigen würde, könnte Russlands Regierung zusätzliche Einnahmen erzielen. Putin lehnte das Angebot der Saudis jedoch ab:

«Unsere Haltung zu Assad wird sich niemals ändern. Wir glauben, dass die syrische Regierung der beste Vertreter des syrischen Volkes ist und nicht diese Kannibalen.»

Damit spielt Putin auf ein Video an, das einen Rebellen zeigt, der das Herz und die Leber eines syrischen Soldaten gegessen haben soll. Putin pokert, weil er darauf setzt, dass der Westen nicht in der Lage sein werde, einen Krieg in Syrien zu gewinnen. Die «Financial Times» kommentierte:

«Je mehr sich die Amerikaner in Syrien verstricken, um so besser für Russland.»

Die Saudis haben allerdings ein starkes Argument auf ihrer Seite: Sie planen gemeinsam mit Katar eine Pipeline, die vom Golf bis in die Türkei verlaufen soll. Damit würde Gazprom einen echten Konkurrenten bekommen   – vor allem im wichtigen europäischen Markt. Katar, das die syrischen Rebellen mit 3 Milliarden Dollar unterstützt hat, will über diese Pipeline Europa mit Erdgas beliefern. Doch solange Assad in Syrien herrscht, wird diese Pipeline nicht gebaut werden, weil Russland diese Konkurrenz unbedingt verhindern will.

Neben der Kontrolle des europäischen Energiemarkts geht es jedoch auch um die Währung, in der Erdöl und Erdgas bezahlt werden. Der Dollar steht immer mehr unter Druck, seinen Status als Weltreservewährung und als Ölwährung zu verlieren. Saudi-Arabien als treuer Verbündeter der USA wird am Dollar festhalten. Im Falle von Russland ist das jedoch nicht der Fall.

Seit dem erfolglosen Treffen zwischen Putin und Bandar hat der Druck des Westens in Richtung eines Militärschlags gegen Syrien stetig zugenommen. Nachdem das britische Parlament einen Militärschlag abgelehnt hat, will US-Präsident Barack Obama notfalls allein losschlagen. Der französische Präsident François Hollande hat ihm allerding schon seine Unterstützung zugesichert. Gerade für Frankreich ist es wegen der wirtschaftlichen Krise wichtig, dass die Ölpreise nicht gänzlich von einem Kartell kontrolliert werden.

Bei dem Giftgas-Einsatz vom 21. August kamen hunderte Menschen ums Leben, darunter viele Kinder. Aber um sie geht es nicht. Es geht um schmutzige Deals. An diesen Deals hängt der Reichtum einiger weniger. Diese sind bereit, für ihre Interessen mit allen Mitteln zu kämpfen. Und sterben zu lassen. Das sind die Fakten einer globalen Wirtschafts-Ordnung. Syrien ist nur ein Kapitel in einer unendlichen, grausamen Geschichte.

Quelle: Deutsche Wirtschafts-Nachrichten vom 31.8.2013

Weitere Stimmen:

Wer mit wem gegen wen?

Auf der Pressekonferenz mit Präsident Hollande hat Präsident Putin nochmals klargestellt, dass Russland die Routen und Ziele aller geplanten Angriffsflüge in Syrien vereinbarungsgemäß den Amerikanern mitteilt: «The US-led coalition, which includes Turkey, was aware of the time and place where our planes would operate. And this is exactly where and when we were attacked.» Damit sollte das Propaganda-Gedröhn von 17 Sekunden «Luftraumverletzung» nun wirklich ein Ende haben: Der Abschuss war ein Hinterhalt, den Erdogans Luftwaffe ohne US-Unterstützung nicht hätte legen können. Dass der US-Syrien-Koordinator General John Allen (Obama-Feind und Neocon) den Hit genehmigte, ist wahrscheinlich.

Quelle: vom 29.11.2015 Bundeswehr in Syrien
http://www.broeckers.com/tag/syrien/

Nichts gelernt aus Afghanistan

Ziemlich genau 14 Jahre nachdem der Deutsche Bundestag den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr in Folge der Terroranschläge von 9/11 beschlossen hatte, schickt Deutschland wieder Truppen in eine instabile Region. Auch damals hatte man einem Verbündeten «uneingeschränkte Solidarität» im Kampf gegen den Terror zugesichert. Auch damals sollte es eigentlich kein Kampfeinsatz sein, vielmehr sollte das Land wieder aufgebaut werden. Krieg als Mittel zum Zweck: Frieden.

Allerdings: Nach 14 Jahren «Hilfe» steht Afghanistan am Abgrund. Die Taliban sind wieder auf dem Vormarsch, sie erobern bereits Gebiete zurück. 56 deutsche Soldaten sind bisher am Hindukusch gefallen, von den Opfern in der Bevölkerung ganz zu schweigen. Aus Fehlern wird man klug, so das Sprichwort. Die Politik hat aber ihre eigenen Regeln. Geschichte wiederholt sich, weil man immer neue Begründungen dafür findet, wieso es im Hier und Heute ganz anders sei als früher.

Quelle: vom 1.12.2015
http://www.stern.de/politik/deutschland/bundeswehr-gegen-den-is--nichts-gelernt-aus-afghanistan-6583580.html

Einsatz in «rechtlicher Grauzone»

Interview von Deutschlandradio Kultur mit dem Völkerrechtler Prof. Dr. Hans-Joachim Heintze von der Ruhr-Universität Bochum

Prof. Dr. Hans-Joachim Heinze: Es ist eine grosse Errungenschaft im Völkerrecht, dass die Gewaltanwendung zwischen Staaten durch die Charta der Vereinten Nationen verboten wurde. Es gibt nur zwei Ausnahmen, dass Staaten berechtigt sind, Gewalt anzuwenden: Das ist zum einen der klassische Fall der Selbstverteidigung, der Platz greift nach einem bewaffneten Angriff auf einen Staat, und der zweite Fall wäre, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Staaten ermächtigt, Gewalt anzuwenden, weil ein Fall der Gefährdung und schweren Bedrohung der internationalen Sicherheit oder des Völkerrechts vorliegt. In diesen Fällen dürfte man Gewalt anwenden. Eine solche Resolution, die die Bundesrepublik Deutschland oder Frankreich oder die USA ermächtigen würde, in Syrien Gewalt anzuwenden, gibt es allerdings nicht.

Deutschlandradio Kultur: Nun hatte ja der UN-Sicherheitsrat nach den Anschlägen von Paris, wenn ich mich richtig erinnere, gesagt, man müsse alle Massnahmen ausschöpfen, um den IS zu stoppen. Wie weit darf man denn gehen, wenn man alle Massnahmen ausschöpft?

Prof. Dr. Hans-Joachim Heinze: Das ist völlig richtig, wir haben eine Resolution des Sicherheitsrates, die die terroristischen Anschläge und die Handlungen des IS als Bedrohung des Weltfriedens bezeichnet, allerdings fehlt die Konsequenz. Bei dieser Resolution handelt es sich nicht um ein rechtsverbindliches Dokument. Ein rechtsverbindliches Dokument liegt nur dann vor, wenn der Sicherheitsrat ausdrücklich Bezug nimmt auf die Charta der Vereinten Nationen und zwar auf das siebte Kapitel.

Diese Resolution, die vorliegt, die ist ein politisches Dokument, verurteilt die schrecklichen Geschehnisse von Tunis, von Paris und von sonstigen Terroranschlägen und ermächtigt die Staaten, innerstaatlich alles zu tun, um diese terroristischen Anschläge zu bekämpfen, allerdings berechtigt die Resolution nicht, Gewalt anzuwenden gegen einen souveränen Staat, und Syrien ist nach wie vor ein souveräner Staat, ein Mitglied der Vereinten Nationen und ist dadurch auch durch die Charta der Vereinten Nationen geschützt in seiner territorialen Integrität und in seiner politischen Unabhängigkeit.

Deutschlandradio Kultur: Nun haben Sie ja eingangs gesagt, dass es auch den Fall gibt, nämlich das Recht zur Selbstverteidigung, und genau darauf berufen sich ja die Franzosen, weil sie von den IS-Terroristen bei den Attentaten von Paris angegriffen worden seien, nur eben nicht von einem Staat, auch wenn der IS den Begriff Staat im Namen führt. Die Franzosen haben den europäischen Bündnisfall ausgerufen   – wie sehen Sie das als Völkerrechtler? Genügt diese französische Begründung?

Prof. Dr. Hans-Joachim Heinze: Das ist etwas problematisch, weil, wenn ich mich auf Selbstverteidigung berufe, muss vorher ein Angriff auf mein Territorium von einem anderen Akteur, also einem anderen Staat, oder einem nicht-staatlichen Akteur wie dem IS   – es muss erst ein Angriff erfolgen auf mein Territorium. Das Problem in Frankreich ist, dass die Täter, die diese Anschläge ausgeführt haben, französische beziehungsweise belgische Staatsangehörige waren, und insofern ist schwer zu erkennen, wo jetzt eigentlich die Dimension liegt, dass ein fremder Akteur Frankreich angegriffen hat.

Auch die Frage nach dem Bündnisfall innerhalb der Europäischen Union   – ja, das ist festgestellt worden, dass es einen schrecklichen Angriff auf die französische Ordnung gegeben hat, und man ist zusammengekommen und hat beschlossen, ja, Frankreich kann sich verteidigen. Das hängt zusammen mit dem Mechanismus der Europäer, die können so etwas natürlich beschliessen, allerdings scheint mir die völkerrechtliche Grundlage dann für militärische Massnahmen in Syrien nicht gegeben zu sein durch die Entscheidung der Europäischen Union.

Quelle: vom 1.12.2015
http://www.deutschlandradiokultur.de/bundeswehr-in-syrien-einsatz-in-rechtlicher-grauzone.1008.de.html?dram:article_id=338445

Dieser Krieg zerstört Lebensgrundlagen im Nahen Osten und untergräbt die Freiheitsrechte in Europa

Der französische Präsident François Hollande hat nach den barbarischen Attentaten in Paris eine neue Runde des «Krieges gegen den Terror» erklärt, der seit 2001 in Afghanistan, Pakistan, Irak, Libyen, Jemen und zuletzt in Syrien den Nahen und Mittleren Osten destabilisiert. Die Zahl der zivilen Todesopfer wird auf über 1,3 Millionen geschätzt   – viele Millionen Menschen sind auf der Flucht. Selbst der ehemalige britische Premierminister Anthony Blair hat kürzlich eingeräumt, dass der von ihm mit zu verantwortende Krieg gegen den Irak die Entstehung des terroristischen «Islamischen Staates» erheblich mit verursacht hat. Nun soll auch die deutsche Bundeswehr in diesen Krieg ziehen. Friede wird so nicht erreicht. Wir lehnen alle militärischen Interventionen ab. Der von der Bundesregierung angestrebte Kriegseinsatz ist völkerrechtswidrig. Wir fordern den Stopp aller Rüstungsexporte und die Trockenlegung aller Finanzierungsquellen des «Islamischen Staates» sowie anderer terroristischer Milizen. Dieser Krieg zerstört nicht nur die Lebensgrundlagen der Menschen im Nahen und Mittleren Osten. Er untergräbt auch die mühsam erkämpften Freiheitsrechte in Europa. Die Opfer von Terroranschlägen und unsere Trauer um sie dürfen nicht instrumentalisiert werden, nicht für neue Überwachungsapparate, nicht für Kriege.

Quelle: Stellungnahme von ATTAC vom 29.11.2015

So werden die Ursachen von Terror und Gewalt nicht beseitigt

Die Kriege in den Ölländern der Nahostregion und die terroristischen Attentate, die längst auch Westeuropa erreicht haben, zeigen in aller Deutlichkeit: Krieg erzeugt Krieg. Aus Hunderten ISIS-Terroristen vor wenigen Jahren sind Zehntausende Kämpfer der Mörderbande «Islamischer Staat» (IS) geworden, die zur stärksten und reichsten Terrorgruppe der Welt aufgestiegen ist.

Die jetzt auch in Deutschland immer unverhohlener geforderten militärischen Gegenschläge werden jedoch die Ursachen für Terror und Gewalt nicht beseitigen, weil darunter immer zuerst die Zivilbevölkerung leidet: in Syrien und im Irak die von den Bombardements betroffenen Bürgerinnen und Bürger, in den westlichen Ländern die Opfer von Terrorattentaten. Jeder weiss es: Gewalt setzt eine Spirale in Gang, die sich immer schneller dreht. Krieg erzeugt Krieg.

Die Kanzlerin sagt: Die Attacken des «Islamischen Staates» brauchen eine militärische Antwort. Die Naturfreunde Deutschlands fordern: Nein, es muss andere Wege geben, um den Terror zu stoppen. Warum wird dem IS nicht der Geldhahn abgedreht? Warum wird Öl gekauft, das aus IS-beherrschten Quellen kommt? Warum werden immer mehr Waffen in die Region gepumpt? […] In der Welt werden die Unterschiede immer grösser. Bald werden fast zwei Milliarden Menschen in Slums und Lagern leben. Die Welt braucht eine neue Ordnung. Doch solange die Industriestaaten im Verbund mit den Ölscheichs die Völker in den Ölregionen ausbeuten, verfestigen sich die Gründe für Terror und Migration.

Quelle: Stellungnahme von Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde Deutschland, vom 30.11.2015

Gegen Terror und Imperialismus

Die Angriffe in Paris am 13. November werden von uns auf das schärfste verurteilt. Wir übermitteln hiermit den Familien der Opfer und allen Menschen in Frankreich unsere aufrichtige Anteilnahme. Terrorismus ist eine brutale und grausame Methode, die unschuldige Menschen als Hauptziel hat, und jeglicher Terrorismus sollte auf das schärfste verurteilt werden.

Wir schliessen uns allen friedliebenden und freiheitsliebenden Menschen auf der ganzen Welt im Kampf gegen Gruppen, die mit diesen Methoden vorgehen, an. Derzeit gibt es immer mehr Opfer in verschiedenen Ländern, von Nigeria bis Libanon, Tunesien, Syrien und Frankreich. Die Völker vereinigen sich in Solidarität mit den Opfern und den Nationen, die nach Möglichkeiten suchen, diese brutalen Herausforderungen zu meistern. Die Völker vereinen sich auch im Widerstand gegen die grossen imperialistischen Mächte und ihre Politik der Einmischung, sowie gegen ihre «Stellvertreterkriege», welche diese Terrornetzwerke unterstützen.

Die Angriffe zeigen mit grosser Grausamkeit, dass zu den Opfern der aggressiven Politik einiger Regierungen, wie den USA, Frankreich und Großbritannien, unter anderen die eigenen Bürger zählen. Diese Politik schuf einen fruchtbaren Nährboden für Gruppen wie den sogenannten Islamischen Staat, und Imperialisten instrumentalisierten terroristische Gruppen für ihre Versuche, die syrische Regierung zu stürzen.

Darüber hinaus bringen wir unsere Besorgnis über die verstärkte Fremdenfeindlichkeit und die Militarisierung als Antwort der Regierung Frankreichs auf die neuesten Massaker an unschuldigen Menschen, über die übliche islamfeindliche Reaktion und das Ergreifen von «Sondermassnahmen» gegen die wichtigsten demokratischen Rechte.

Die Welt muss ihren Kurs ändern, die Politik der Hegemonialmächte, die auf Einmischung, Militarisierung, Verletzung des Völkerrechts und Kriegen basiert, muss durch eine Politik zur Verteidigung des Friedens und der nationalen Souveränität ersetzt werden. Der Kampf gegen den Terrorismus von Gruppen wie IS und Al-Qaida ist direkt mit dem Kampf gegen den Staatsterrorismus der imperialistischen Mächte verbunden.

Quelle: Erklärung von Maria do Socorro Gomes, Präsidentin des Weltfriedensrates, vom 28.11.2015

Die Verhandlungen in Wien sind der geeignetste Weg, eine Lösung für den Krieg in Syrien zu finden

Der «Krieg gegen den Terror», der bereits seit 9/11 (2001) geführt wird, hat die gesamte Region im Nahen Osten destabilisiert. Krieg ist keine Antwort auf Terror, sondern selbst Terror, der die Verletzung und Tötung von Zivilisten hinnimmt. […]

Deutschland steht in engen Beziehungen zu den Staaten, die den IS bis jetzt unterstützen, und liefert selbst in erheblichem Ausmass Rüstungsgüter in die Kriegsregion. Gerade wurde mit einer Lieferung von «Leopard 2»-Panzern an Katar begonnen. Über die Fusion des Rüstungsunternehmens Krauss-Maffei Wegmann mit dem französischen Konzern Nexter sollen bundesdeutsche Ausfuhrbeschränkungen für Saudi-Arabien, an das bereits eine komplette Waffenfabrik geliefert wurde, unterlaufen werden. […]

Statt kriegerischer Antworten bedarf es intelligenter ziviler Interventionen gegen den IS und einer Unterstützung der syrischen Zivilbevölkerung. Die aktuell gestarteten politischen Verhandlungen in Wien sind der momentan geeignetste Weg, eine Lösung für den Krieg in Syrien zu finden. Deutschland hat selbst mit seiner Politik der frühen Anerkennung der «Freunde Syriens» als die (einzige) legitime Opposition eine bewaffnete Eskalation in Syrien mitbetrieben und die seinerzeit hilfreichen Vermittlungsvorschläge der UN torpediert. Schon 2012 hatten die UN-Sonderbeauftragten Kofi Annan und Lakhdar Brahimi konstruktive Vermittlungsvorschläge vorgelegt, die von den westlichen Staaten unterlaufen wurden. […]

Eine politisch kluge diplomatische Lösung der jetzigen Krise in Nah-Mittel-Ost bedarf der Einbeziehung Russlands, Irans und auch des regierenden Präsidenten Assad, zumindest für eine Übergangszeit.

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Quelle: Stellungnahme von Andreas Buro, Martin Singe, Elke Steven und Dirk Vogelskamp vom Grundrechtekomitee in Köln vom 1.12.2015