Vom pädagogischen Wert der Zuversicht
«Gerade lernschwächere Schülerinnen und Schüler brauchen Lehrpersonen, die sie ermutigen und ihnen so eine Brücke zum Gelingen bauen – und damit zur Zuversicht und zur Einsicht.» (Bild caro)
«Resignatio» ist keine schöne Gegend
Wer die aktuelle Bücherliste konsultiert und die Titel studiert, stösst auf schwere Kost mit bedrückenden Befunden: «Der Zerfall der Demokratie», «Wie Demokratien sterben», «Die Menschheit schafft sich ab», «Leere Herzen». Die Liste ist lang und der Tenor oft eher düster, der gesellschaftliche Abgesang hörbar und die Resignation spürbar. Da und dort ist es gar ein Spiel mit apokalyptischen Ängsten, mindestens mit pessimistischen Vokabeln. Doch «Resignatio», so der scharfe politische Denker und kauzig-kluge Schweizer Schriftsteller Gottfried Keller, sei «keine schöne Gegend».1 Das gilt auch für die Schule. Sie darf nicht einerseits eine positive Anthropologie pflegen und anderseits doch ins pessimistische Horn stossen. «Resignatio» bedeutet für die Kinder Gift. Es wäre eine Klimakrise der anderen Art. Die Schule muss gegenhalten und zur Zuversicht erziehen.
Die Welt ist mehr als nur ein Problemberg
Der Lehrplan 21 – ein Spiegelbild der Zeit? Das fragt sich, wer die 470 Seiten durchgeht und die 363 Kompetenzen mit ihren 2300 Kompetenzstufen studiert. Da wird das Rätselwesen Mensch tendenziell auf den Kompetenzbegriff zurückgestuft, und die Welt erscheint im wesentlichen als ein gigantischer, monotoner Problemberg, an dem primär eines zu tun ist: Probleme lösen und kontrollierbare Kompetenzen erwerben. Da werden hochkomplexe Weltprobleme formuliert, verbunden mit einer Menge irgendwo abrufbarer Antworten.2 Kompetenzorientiert und selbstgesteuert sollen sie bearbeitet werden. Jeder Schüler wird so sein eigener Lernmanager und Lernen damit der Selbsterfahrung überlassen. Diese Komplexität überfordert viele Kinder, vor allem lernschwächere und mittelstarke Schüler. Sie erleben zu wenig, wie Lernen gelingen und Freude bereiten kann und wie dabei Sinn entsteht. Genau das aber brauchen junge Menschen; das stärkt sie und vermittelt Zuversicht.3 Nichts stimuliert so sehr wie (Lern-)Erfolg.
Natürlich, Probleme knacken können, das gehört zum menschlichen Dasein. Das ist zwingend. Doch muss man deswegen die ganze schulische Bildung aufs Können reduzieren und sie instrumental handhaben? Das aber geschieht. «Alle Ziele im Lehrplan 21 werden mit dem Verb ‹können› formuliert», verkündete vor kurzem die Zuger Bildungsdirektion der Öffentlichkeit.4 Das tönt dann beispielsweise so: «Die Schülerinnen und Schüler können ihren Körper sensomotorisch differenziert wahrnehmen, einsetzen und musikbezogen reagieren.» Und weiter: «[Sie] können sich zu Musik im Raum und in der Gruppe orientieren.»
Es gibt eine Bildung jenseits des überprüfbaren Könnens
Wenn alles zum Problem wird, die Musik und die Poesie, auch die Kommunikation und das Ästhetische – dann vergisst die Schule, dass uns die Welt noch zu ganz anderem einlädt, nämlich zum Staunen und Unbeschwert-Sein, zur Empfänglichkeit fürs Schöne und Geheimnisvolle, zur Leidenschaft, zur Hingabe an eine Aufgabe, zur Zuversicht. Auch zum eigensinnigen Verhalten, zum Querdenken und Gegenhalten. Kompetenz ist eben nicht nur das, was man kann und weiss. Beides kann man erwerben und darüber verfügen; beides kann man unter Kontrolle halten, und es testen und zertifizieren. Doch darüber hinaus gibt es noch etwas Drittes: das menschliche Sein, die humane Grundhaltung. Bin ich meine Kompetenz? Bin ich neugierig und zuverlässig, einfühlsam und engagiert, achtsam gegenüber der Mit- und Umwelt, zuversichtlich?
Die Welt lieben und ihr Sorge tragen
Es gibt die Pflicht zur Zuversicht, schrieb Immanuel Kant. Gerade in prekären Zeiten. Kinder müssen dies von den Erwachsenen vorgelebt erhalten. Auch in der Schule. Unterricht, so sagt die Wirksamkeitsforschung, ist eine Begegnung von Mensch zu Mensch, ein dialogisches Geschehen. Das wissen alle sokratischen Pädagogen. Entscheidend sind die Kompetenz und Haltung der Lehrperson – ihr Vertrauen und Zutrauen, ihr Vorbild und ihre Erwartungshaltung, ihre Zuversicht und ihre Leidenschaft für die Welt.5 Daraus entsteht die Leidenschaft für die Pädagogik und den Unterricht.
Nicht umsonst sagte die Politphilosophin Hannah Arendt: «In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um die Verantwortung für sie zu übernehmen.»6 Die Welt lieben, um ihr mitverantwortlich Sorge zu tragen. Vielleicht trifft der französische Dichter Romain Rolland mit seinem Satz aus dem Michelangelo-Roman das Gemeinte: «Es gibt keinen anderen Heroismus, als die Welt zu sehen, wie sie ist, und sie dennoch zu lieben.» Wie trivial das ist! Und doch so schwer.
Kinder brauchen menschliche Brückenköpfe
Gerade lernschwächere Schülerinnen und Schüler brauchen Lehrpersonen, die sie ermutigen und ihnen so eine Brücke zum Gelingen bauen – und damit zur Zuversicht und zur Einsicht: «Ich kann es!» Oft sind diese Brückenköpfe eben nicht die Köpfe, sondern die Herzen. Was in der Schule zwischen Lehrerin und Schüler, zwischen Schülerin und Lehrer läuft, passiert nicht zuerst von Hirn zu Hirn, sondern von Auge zu Auge, von Sinn zu Sinn. Also körperlich und seelisch. Auch die Ermutigung und das Vorleben der Zuversicht. Die pädagogische Pflicht zur Zuversicht steht heute ganz weit vorne.
Die Welt braucht Menschen, die sich hinauswagen in die Welt und sie mittragen, Menschen, die wie Faust zuversichtlich sagen: «Ich fühle Mut, mich in die Welt zu wagen, / Der Erde Weh, der Erde Glück zu tragen.»
Quelle: journal21 vom 22.5.2019
1 Pestalozzi, Karl. Gottfried Keller. Kursorische Lektüren und Interpretationen. Basel 2018, S. 237
2 vgl. Kaube, Jürgen. Illusionen der Pädagogik, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 19. Mai, S. 33
3 vgl. Schnabel, Ulrich. Zuversicht. Die Kraft der inneren Freiheit und warum sie heute wichtiger ist denn je. München 2018
4 Endspurt für den Lehrplan 21 in den Zuger Gemeinden. In: Zuger Zeitung vom 22.04.2019, S. 21
5 Hattie, John & Zierer, Klaus. Visible Learning. Auf den Punkt gebracht. Hohengehren 2018, S. 146f.
6 Arendt, Hanna. Die Krise der Erziehung. In: Dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 276
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