Die legendäre Anführerin von Argentiniens Müttern des Maiplatzes wehrt sich gegen Korruptionsvorwürfe.
87 Jahre ist Hebe de Bonafini alt und 37 davon leitet sie schon die «Madres de la Plaza de Mayo», jene Gruppierung Hunderter Mütter, deren Kinder geraubt und getötet wurden von der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983. Hebe de Bonafini war Hausfrau, als 1977 ihre zwei Söhne «verschwanden» und 1978 auch noch ihre Schwiegertochter. Eine der Tausenden von Eltern, die keine Auskunft bekamen. Und sie gehörte zu jener Gruppe von Frauen die sich donnerstags traf, um die Plaza de Mayo zu umrunden. 1979 übernahm Hebe de Bonafini die Spitze der «madres», nachdem die ersten Anführerinnen verschleppt und ermordet worden waren.
Furchtlos, entschlossen und stets konfrontativ brachte sie den Kampf in die internationalen Medien und trug damit entscheidend zum Sturz des Militärregimes bei. Und sie führte die Donnerstagsmärsche weiter an, als die demokratischen Regierungen die Militärs nicht antasteten.
Bonafini wird Kirchner-Fan
Erst unter Néstor Kirchner stellten die «madres» 2006 ihre Proteste ein, weil der die Amnestiegesetze kassierte – und weil er den Müttern mit Millionen aus der Staatskasse half. Kirchner erkannte die Zugkraft der Unesco-preisgekrönten Frauen. Mit derselben Radikalität, mit der sie früher den Staat angriff, nahm Bonafini nun die Verteidigung des «Modelo K» auf und beschimpfte die obersten Richter als «Trottel», das Parlament als «Rattennest» und die katholische Kirche als «Umstürzler». Kirchner dankte für die Loyalität und bedachte die alten Frauen und ihre jungen Unterstützer mit einem Radiosender und einer Universität. Ausserdem wurde eine Stiftung gegründet, mit dem Zweck, sozialen Wohnungsbau zu realisieren; das Projekt hiess «Träume für alle».
Doch das geriet zum Albtraum – vor allem für Hebe de Bonafini. 4757 Wohnungen sollten errichtet werden, doch nur 822 wurden fertig. Dafür bezahlte der Staat den Gegenwert von heute etwa 260 Millionen Franken, ein erheblicher Teil des Geldes versickerte. Ein Skandal für das Ansehen der Menschenrechtsgruppe, dessen Aufarbeitung zunächst in Schubladen schlummerte. Und der nun, nach dem Ende der Ära Kirchner, wie viele andere Korruptionsaffären plötzlich die Gerichte beschäftigt. Das Verfahren um die geplatzten Wohnträume bekam neue Beachtung, nachdem Kirchners Bau-Staatssekretär José López mit fast 9 Millionen Dollar erwischt wurde, die er in einem Nonnenkloster verstecken wollte. López hatte einst die Millionen an das Bauprogramm der «madres» überweisen lassen.
Um die Zusammenhänge zu verstehen, lud der Richter vor einem Monat Hebe de Bonafini als Zeugin vor. Doch diese antwortete nur mit Verwünschungen. Am Donnerstag nun wollten Polizisten die Unwillige abholen und zum Gericht bringen. Doch ihr eilten Hunderte militante Anhänger zu Hilfe, setzten sie in einen Lieferwagen und fuhren über das Trottoir an der Strassensperre der Polizei vorbei – direkt zur Plaza de Mayo, wo die inzwischen greisen Mütter und viele Söhne und Enkel wieder marschieren, seitdem Mauricio Macri regiert.
Macri als «Faschist» bezeichnet
An diesem öffentlich zelebrierten Widerstand gegen die Staatsgewalt nahmen denn auch prominente Führer der Kirchner-Ära teil wie der vormalige Finanzminister Axel Kicillof. Wie die Ex-Präsidentin Kirchner zuvor klagte dieser, die Justiz habe sich in den Dienst der neuen Regierung gestellt. Die Richter veranstalteten eine Hexenjagd gegen korruptionsverdächtige Kirchner-Funktionäre, um von den sozialen Härten abzulenken, welche die Regierung Macri den Argentiniern derzeit zumute.
Tatsächlich: Während auf der Plaza de Mayo 6000 Bonafini-Unterstützer zusammenströmten, demonstrierten Bürger in vielen Stadtvierteln mit Töpfen und Pfannen zum zweiten Mal gegen die drastische Anhebung der Energiepreise unter Macri. Den titulierte Hebe de Bonafini kürzlich in aller Öffentlichkeit als Faschisten. Sie sagte:
«Ich habe mich getäuscht, als ich sagte, Macri sei wie Mussolini. Tatsächlich ist er Hitler.»
Nach einer Nacht in den Büros ihrer Organisation schrieb Hebe de Bonafini zunächst an den Richter, ihre Organisation habe der Justiz bereits 60 Kisten voller Beweismaterial geschickt, das niemals gesichtet worden sei. Sie habe «zu diesem unwürdigen Verfahren» nichts mehr beizutragen. Später überlegte sie es sich anders. Als sie am Freitagnachmittag schliesslich das Gebäude verliess, erklärte sie, am Montag werde sie vor dem Richter erscheinen, den sie tags zuvor noch «Hurensohn» genannt hatte.
Wolf Gauers Kommentar:
Wolf Gauer/Brasilien schreibt dazu: Nachzutragen ist, dass der Haftbefehl gegen Frau Bonafini am Freitag, 5. August aufgehoben worden ist. Es wäre ja ein brisanter Bumerang gewesen, wenn die Dame in ihrem Alter (87) – mit unvorhersehbarem Risiko – verhaftet worden wäre. Bonafini hat zwei Söhne und eine Schwiegertochter unter der Diktatur verloren.
Ob der Ausspruch "Der Richter soll sich..." tatsächlich von ihr ist, kann ich nicht beurteilen. In jedem Fall ist er eine herkömmliche, populäre Floskel der Umgangssprache in ganz Lateinamerika, die sich für Europäer skandalöser anhört als sie tatsächlich ist. Eben Teil der deftigen regionalen Ausdrucksweise und im vorliegenden Fall mehr als gerechtfertigt. Dass erst jetzt, im opportunen Moment, "finanzielle Unregelmäßigkeiten" entdeckt werden und einen bekannt rechtslastigen Richter beschäftigen, ist etwa so ernst zu nehmen wie die aufpolierten und wieder fallen gelassenen Vorwürfe gegenüber unserer Präsidentin Dilma Rousseff in Brasilien. (wg)
- Quelle: Tages-Anzeiger, Zürich v. 06. August 2016
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