Offener Brief von Oliver Ginsberg: Schluss mit der Anmaßung für Juden zu sprechen
An die Unterzeichnenden des Offenen Briefes,
als Nachkomme einer jüdischen Familie, die unter dem Faschismus bis auf eine Person ausgelöscht wurde melde ich hiermit meinen schärfsten Protest an gegenüber ihrer Anmaßung für Jüdinnen und Juden in diesem Land sprechen zu wollen. Noch leben Menschen in diesem Land, die selbst oder deren Eltern und Großeltern Opfer der Shoah wurden. Diese haben eine eigene Stimme und benötigen ihre bevormundende, geschichtsvergessene und eurozentristische Fürsprache nicht.
Im Übrigen hat auch der Staat Israel nicht das Recht für uns zu sprechen. Dieser Staat ist selbst das Ergebnis einer Kolonialisierungsideologie, die in ihrem völkisch-chauvinistischen Gepräge den rassistischen Kolonialisierungs- und Missionierungsbemühungen früherer Jahrhunderte in nichts nachsteht. Wenn ihnen angesichts der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welche die israelischen Streitkräfte schon zum wiederholten Mal an der palästinensischen Zivilbevölkerung verübt haben, angesichts des seit Jahrzehnten andauernden, illegalen und gewaltsamen Siedlerkolonialismus, angesichts der tausendfachen Schikanen, Verhaftungen und Folterungen in israelischen Gefängnissen nichts anderes einfällt als eine apologetische Bestätigung israelischer Selbstverteidigungsdoktrin, die nichts anderes ist als eine Legitimierung von Massenmord, dann wäre es besser ganz zu schweigen. Hören Sie auf in moralischer Überheblichkeit zu schwelgen. Sie haben nichts, rein gar nichts aus der Geschichte der Shoah gelernt.
Wer Israel jetzt noch unterstützt, setzt sich nicht für Jüdinnen und Juden und deren Nachkommen ein, sondern für ein militaristisch-koloniales Staatsprojekt, welches kein Existenzrecht für sich beanspruchen kann. Es sind MENSCHEN, die ein Existenzrecht und Recht auf ein Leben in Würde und Freiheit haben. Staaten, welche dieses Recht systematisch und mit derartiger Grausamkeit mit Füßen treten, haben jedes Existenzrecht verwirkt, auch wenn sie sich ein fassadendemokratisches Mäntelchen umhängen.
Was am 7. Oktober tatsächlich geschehen ist wird vielleicht die Zukunft zeigen. Was wir bereits jetzt wissen ist, dass die weit verbreiteten Narrative von geköpften Babys und Vergewaltigungen durch nichts belegt sind und dass viele Israelis im "friendly fire" ihrer eigenen Armee ums Leben kamen. Ein großer Teil der Getöteten auf israelischer Seite waren laut Ha'aretz Soldaten und Polizeikräfte. Es ist richtig, religiösen und nationalen Fanatismus und den Tod von Zivilisten zu verurteilen. Das gilt jedoch für beide Seiten und schon wegen des Umfangs noch viel mehr für die zionistische. Sie jedoch ziehen es vor, einer bequemen Staatsraison zu folgen, der zufolge die palästinensische Bevölkerung kein Recht auf bewaffneten Widerstand gegen die israelische Besatzungs- und Vertreibungspolitik hat, Israel aber jedes noch so grauenhafte Kriegsverbrechen begehen darf und ungeschoren davonkommt.
Hören Sie endlich einmal den Jüdinnen und Juden zu, die sich konsequent auf die Seite der palästinensischen Seite gestellt haben. Folgen Sie Abigail Martin, Miko Peled, Norman Finkelstein, Gabor Maté, Noam Chomsky u.a. welche zu der Minderheit derjenigen gehören, welche diesen Konflikt in seinen wahren historischen und moralischen Kontext stellen. Und bitte, bitte verschonen Sie uns mit Ihren jämmerlichen Krokodilstränen. Wir werden nicht von Kritik an Israel bedroht, sondern von einem Mangel an Empathie politischer Entscheidungsträger in Deutschland selbst, welche - indem sie ihre völlige Kritiklosigkeit an Israel äußern - diejenigen verhöhnen, die am meisten unter Faschismus und Rassismus gelitten haben.
Solange von Ihnen keine Besinnung und kein Bedauern bezüglich ihrer einseitigen und inakzeptablen Stellungnahme wahrzunehmen ist, werde ich die Unterschriftenliste nunmehr als literarischen Leitfaden verwenden, zu Autorinnen und Autoren, deren Werke keinen wesentlichen kulturellen Beitrag mehr versprechen.
Mit entsetzten Grüßen
Oliver Ginsberg
o.ginsberg@tetrateam.de
https://tetrateam.de/
__
Hier der Link zu Wortlaut und vollständige Liste der Unterzeichner:
http://www.offener-brief-israel-literaturbetrieb.de/
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- «Sagen wir nein zu den Kriegen, ja zum Frieden und ja zum Überleben des Planeten»
- Gideon Levy: Der zionistische Tango: ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts
- Harald Kujat: «Die Ukraine kann diesen Krieg nicht gewinnen»
- Craig Mokhiber: «Herr Hochkommissar, wir haben erneut versagt.»
- Roger Waters äußert sich zu den Vorwürfen in Deutschland & dem Israel-Gaza-Konflikt
- Chris Heges: Brief an die Kinder in Gaza
- Offener Brief von Oliver Ginsberg: Schluss mit der Anmaßung für Juden zu sprechen
- Ein Brief an die New York Times am Samstag, den 4. Dezember 1948 von Albert Einstein, Hannah Arendt, Sidney Hook, et.al.
- Buchempfehlung (31.10.2023): Nur durch Frieden bewahren wir uns selber
- Putin Rede über israel-palest. Tragödie zu religiösen Führern + Gespräch
- Professor Ilan Pappé – Krise des Zionismus, Chance für Palästina?
- Doctorow: Göttliches Eingreifen und das Ende des Krieges in der Ukraine
- Putin: Rede und Diskussion beim Valdai-Treffen in Sochi am 05. Oktober 2023
- 3. Oktober 2023 – „Tag der Deutschen Einheit“
- Oasen der Freiheit - Anarchistische Streifzüge
- Am Strand: Notizen aus einem finnischen Golfresort
- Söhne und Töchter der "Weißen Emigration" Russlands kehren in die Gemeinschaft zurück
- Anzeige in der New York Times: "Die USA sollten eine Kraft für den Frieden in der Welt sein"
- Putins Reden zwischen 2001 und 2022 zeigen, wie wichtig ihm Geschichte ist
- «Der Konflikt in der Ukraine wurde vom Westen angezettelt»
- Ein Leserbrief zum Beitrag "Sind die Chinesen nett?"
- Russlands neues außenpolitisches Konzept wird einen grundlegenden Wandel in der Innenpolitik des Landes einleiten
- Wieder Bücher lesen!
- Die USA heizen den syrischen Hexenkessel auf