Der IGH bestreitet Behauptungen über unanfechtbare moralische Ziele und erschüttert das westliche Machtgefüge
Nach dem IGH-Urteil werden sich die Menschen freier fühlen, sich zu sensiblen Themen zu äußern, die in der Praxis unterdrückt wurden (Illustration von Mahdi Rteil für Al Mayadeen English)
Der Eckpfeiler der Urteile des Internationalen Gerichtshofs (IGH) vom Freitag ist, dass sie die Behauptung der unanfechtbaren moralischen Richtigkeit des "israelischen" Projekts widerlegen.
Gemessen an der eigenen "regelbasierten Ordnung" des Westens befand eine überwältigende Mehrheit der internationalen Richter, dass es erstens plausible Beweise dafür gibt, dass "Israel" die Absicht hat, einen Völkermord zu begehen, und zweitens, dass es plausible Beweise dafür gibt, dass "Israel" tatsächlich einen Völkermord begeht. Der IGH hat (noch) keine endgültige Entscheidung über den Vorwurf des Völkermordes getroffen, sondern festgestellt, dass genügend Beweise vorliegen, um "Israel" anzuweisen, die Handlungen einzustellen, die den Anschein eines Völkermordes erwecken.
Dies ist ein verblüffendes Ergebnis, das letztlich das globale Machtgleichgewicht verschieben wird. Die behauptete Unanfechtbarkeit und moralische Untadeligkeit des israelischen Verhaltens wurde schließlich als (plausibel) völkermörderisch – und damit illegal – eingestuft.
Das "israelische Projekt" war immer Kern der westlichen Außenpolitik. Die anschließende "Industrialisierung" des Begriffs der unanfechtbaren moralischen Rechtschaffenheit stützte sich auf diese (unterstellte) Unanfechtbarkeit, um nicht nur die israelischen Handlungen an sich zu rechtfertigen, sondern um stellvertretende Machtstrukturen in der gesamten westlichen Welt zu schaffen.
Letztere nutzten im Wesentlichen die zentrale Bedeutung der moralischen Richtigkeit des israelischen Staates, um eine moralische Oberaufsicht über die politische Matrix der USA und des europäischen Westens auszuüben. Diese Machtstruktur – grob als "Lobby" bezeichnet – fügte sich in die breitere Politik ein und erlangte einen unverhältnismäßigen Einfluss, indem sie die Interessen der USA als kongruent mit der Rechtschaffenheit der israelischen "Sache" darstellte und sich daran beteiligte.
Der Anspruch der westlichen Machtzentren auf moralische Unanfechtbarkeit wurde durch den IGH vielleicht für immer durchbrochen. Dies hat tiefgreifende Auswirkungen: Der globale Süden kann nun Gefühle äußern und seine eigene Geschichte der Unterdrückung artikulieren, die in einer früheren Ära verboten gewesen wären und deren Äußerung schwere Strafen nach sich gezogen hätte.
In den westlichen Staaten ist es zu einer informellen "Heiligen Inquisition" gekommen: In den USA werden prominente Persönlichkeiten in ähnlicher Weise "befragt": Haben Sie sich jemals mit Ungerechtigkeit verbündet? Haben Sie die Hamas öffentlich angeprangert?
Sollte die Antwort zweideutig oder unzureichend sein, werden die Befragten – seien es Präsidenten angesehener US-Universitäten oder andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens – nicht mehr gefoltert (der frühe "Lügendetektortest") oder bei lebendigem Leib verbrannt, wenn sie versagen; sie werden jedoch angeprangert, gedemütigt und ihre Karrieren werden zerstört (wegen ihrer Beinahe-Ketzerei).
Natürlich werden die Beschlüsse des IGH in der westlichen Welt aus dem öffentlichen Diskurs "verschwinden", und man stellt sich taub. Die Politik wird sich nicht über Nacht ändern. Doch jeder im Nicht-Westen und Millionen in den westlichen Gesellschaften, die eines der fünf Milliarden existierenden Smartphones besitzen, werden Zugang zu der knappen und klaren Argumentation der obersten Richter des IGH gehabt und sie gesehen haben.
Die Beurteilungen mögen aus den westlichen Medien verschwunden sein, doch sie werden wiederkehren, denn es gibt eine Frist von dreißig Tagen, innerhalb derer "Israel" dem Gerichtshof über die Maßnahmen berichten muss, die zur Verhinderung aller Aspekte eines möglichen Völkermords ergriffen wurden. Sollte der Bericht unzureichend sein, wird die Verfügung des Gerichts wahrscheinlich dem UN-Sicherheitsrat zur Durchsetzung vorgelegt werden.
Dies ist ein verheerendes Ereignis für bestimmte Machtstrukturen im Westen: Im Gefolge des IGH-Urteils werden sich die Menschen freier fühlen, sich zu sensiblen Themen zu äußern, bei denen die Unterdrückung der Meinungsäußerung praktiziert wurde. Und niemand kann die Symbolik von Gaza übersehen: Unabhängig davon, was dort an Rechten und Unrechten geschehen ist (vielleicht eine Menge), stellt sich ein kleines Volk trotzig gegen die überwältigende Macht mächtiger Staaten und strebt nach Befreiung.
Die brisante Frage, die im Mittelpunkt des IGH-Urteils steht, wird wahrscheinlich zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Ära werden – einer Ära des Kampfes und der Spaltung des Westens –, während die Kräfte der Unterdrückung weiterhin ihr Regime über die Kräfte, die gegen sie sind, durchsetzen. Das Wesentliche in diesem Konflikt wird sozusagen global sein.
Quelle: https://english.almayadeen.net/articles/analysis/icj-contests-assertions-of-unassailable-moral-purpose--shaki
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
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«Israel kann im globalen öffentlichen Raum nicht überleben»
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