Hier finden Sie Alinas ersten Frontbericht und hier ihren zweiten Frontbericht. In diesem dritten Frontbericht von Alina geht es um eine Fahrt nach Mariupol, die allerdings schon am 8. März stattgefunden hat. Da ich höchstwahrscheinlich selbst bald nach Mariupol fahre, wird es interessant sein, dann meine Eindrücke mit den Eindrücken von Alina zu vergleichen.
Donbass: Bericht über meine Trips an die Front — Teil 3
Mariupol und seine Flüchtlinge
Die dritte Reise an die Front (Berichte der 1. und 2. Reise hier und hier) trete ich zusammen mit meinem Kameramann Maxim an. Wir hatten bereits im Januar zusammengearbeitet und in Donezk Sequenzen für den Film „Leben und Sterben im Donbass“ (hier anschauen) des deutschen Dokumentarfilmers Wilhelm Domke-Schulz gefilmt. Maxim und ich waren zu einer offiziellen Pressetour eingeladen worden – zuvor waren wir immer auf eigene Faust unterwegs gewesen.
Es war der 8. März, der Tag der Frauen und offizieller Feiertag in Russland. Als wir mit Schutzhelm und -weste in der Hand am ausgemachten Treffpunkt ankommen, wird mir erstmal ein Strauß pinker Tulpen in die Hand gedrückt. Der Kontrast hätte größer kaum sein können – eine junge Frau mit kugelsicherer Weste und pinken Blumen in der Hand fährt nach Mariupol in den Krieg.
Erstmal geht es jedoch nach „Bezimmenoe“, einem Dorf 60 km von Mariupol entfernt. Hier kommen die Flüchtlinge aus der umkämpften Küstenstadt an, die seit wenigen Tagen über eingerichtete humanitäre Korridore fliehen konnten. Ca. zwei Wochen hatten Kämpfer des radikalen Asow-Bataillons eine Blockade um die Stadt errichtet und niemanden rein oder raus gelassen.
Maxim und ich beobachten, wie gerade ein Bus mit weiteren Bewohnern Mariupols im Flüchtlingslager einfährt und Menschen mit dem nötigsten Gepäck in der Hand aussteigen. Sie machen einen bedrückten Eindruck, ein Mann benötigt medizinische Hilfe, die ihm sogleich gewährt wird. Untergebracht werden die Flüchtlinge in zwei grünen Zelten mit einfachen Betten. Es ist angenehm beheizt und es gibt Essen und Trinken. Die anwesenden Soldaten helfen, wo sie können und schützen die Privatsphäre der Gäste vor aufdringlichen Journalisten.
Nur wenige Flüchtlinge sind bereit, Interviews vor der Kamera zu geben, doch zwei Jugendliche erklären sich bereit dazu. Sie erzählen mir, dass sie die letzten zwei Wochen in Kellern gelebt haben, während die ukrainische Armee auf die Stadt schoss. Niemandem wurde erlaubt zu fliehen. Dies bestätigt mir auch eine junge Mutter mit zwei Kindern. Ich unterhalte mich sehr lange mit ihr und kann meinen Ohren kaum trauen. Sie sagt, sie käme aus „keiner schlechten Familie“ und hätte in Mariupol ein eigenes Haus besessen – das völlig dem Erdboden gleichgemacht wurde. 12 Tage lang lebte sie mit ihrer Familie im Keller eines Cafés, während die Stadt laut ihrer Aussage völlig zerschossen wurde – Supermärkte und Wohnhäuser, Schulen. Überall auf den Straßen lägen Leichen, sogar von Kindern, und niemand schaffe es, sie unter dem ständigen Beschuss zu bergen und zu bestatten.
Die Angriffsziele erscheinen mir unlogisch – Wohnhäuser, Supermärkte? Ich frage die Frau nach dem Sinn des ganzen und ob dies vielleicht Kollateralschäden von Straßenkämpfen zwischen russischen und ukrainischen Soldaten seien. Dies verneint sie vehement. Bis zum aktuellen Zeitpunkt hätte noch kein einziger Donezker oder russischer Soldat die Stadt betreten gehabt. Sie berichtet, dass der Raketenbeschuss von außerhalb der Stadt unzweifelhaft aus Richtung der ukrainischen Positionen käme und die Bewohner durchaus genug Kriegserfahrung besitzen würden, um dies feststellen zu können. Aus Richtung der Donezker Streitkräfte sei nie etwas angeflogen.
Der Großteil der Bevölkerung säße seit fast zwei Wochen im Keller, viele würden hungern, da keine Supermärkte mehr geöffnet wären. Sie selbst hatte Glück, den Keller eines Cafés gefunden zu haben, doch auch hier sei das Essen irgendwann verdorben. Sie hatten es ausgekocht und vor allem den Kindern gegeben. Wasser für die Körperwäsche hatte die Familie in einer Badewanne angesammelt. Als das Trinkwasser zur Neige ging, hatten sie keine andere Wahl, als dieses Badewannenwasser schließlich zu trinken. Aus der Stadt zu fliehen sei unmöglich gewesen, da die Asow-Kämpfer auf diejenigen das Feuer eröffneten, die es versuchten.
Ich bin geschockt und habe nur noch eine Frage an die Frau – Warum? Sie schüttelt mit den Schultern und sagt, die ukrainische Armee möchte die strategisch wichtige Stadt Mariupol eben nicht in einem guten Zustand Russland hinterlassen. Sondern als Ruine und mit vielen Toten. Um hinterher zu sagen – das haben wir alles nur deswegen gemacht, weil Russland seine militärische Operation in der Ukraine gestartet hat.
Nach diesem Gespräch möchte ich eigentlich nur noch schreien; man sitzt inmitten all dieser Menschen, die alles verloren haben und meist nur noch das Nötigste bei sich haben und kann nicht verstehen, womit sie all dies verdient haben. Der kleine Sohn der Frau, keine drei Jahre alt, fängt an, an meinem Blumenstrauß zu ziehen, den ich mit ins Zelt gebracht habe. Ich schenke ihm und allen Frauen im Zelt eine Tulpe und verlasse das Lager stillschweigend und mit steinernem Gesicht.
Nach einem kurzen Halt bei einer Schule, in der ebenfalls Flüchtlinge untergebracht sind, trennen Maxim und ich uns von der anderen Gruppe und fahren mit ein paar Soldaten näher an Mariupol heran. Wir halten in Sopino direkt am Meer, 6 km von Mariupol entfernt. Sogar markante Schemen der Mariupoler Skyline sind aus der Ferne zu sehen. Wir hören Explosionen. Sopino gehört zum Donbassgebiet, das in den letzten Jahren unter ukrainischer Kontrolle stand. Hier befand sich auch das Hauptquartier des rechtsradikalen Asow-Bataillons, das mittlerweile von der Donezker Volksmiliz neutralisiert war.
Ich unterhalte mich mit einem Ehepaar, das zufällig an uns vorbeigeht und wir dürfen sie sogar filmen. Die Frau fängt bereits nach einigen Worten an zu weinen. Sie erzählt das gleiche, wie alle anderen zuvor – es sei die ukrainische Armee, die die Zivilisten terrorisiere. Sie habe Kinder in Mariupol und keinen Kontakt zu ihnen, da es dort keinen Empfang mehr gab. Supermärkte hätten auch in Sopino nicht mehr geöffnet.
Ich erkundige mich bei den beiden, wie es ihnen in den letzten Jahren unter ukrainischer Kontrolle ergangen sei. Der Mann erzählt, es seien keine guten Jahre gewesen, weil man ständig aufpassen musste, vom ukrainischen Militär nicht als pro-russisch abgestempelt zu werden – dies hätte Konsequenzen für Leib und Leben nach sich gezogen. Niemand hätte seine Meinung frei äußern können. Das Ehepaar begrüßt die Befreiung des Dorfs von den nationalistischen Kräften durch die Donezker Volksmiliz.
Auf dem Nachhauseweg halten wir in Schirokino – einem verlassenen Dorf, in dem bereits 2014 heftige Kämpfe stattfanden. Jedes Haus ist hier vom Krieg gezeichnet, keine Menschenseele auf den Straßen. Der ideale Ort zum Drehen eines Horrorfilms… Wir fahren durch große, blau-gelb angemalte Betonblöcke hindurch in Richtung Donezk. Auf ihnen steht geschrieben: „Heil Ukraine“.