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Ethikkommission warnt vor Ritalin

01. April 2013

Über die „Verbesserung" des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen

Stellungnahme Nr. 18/2011, Bern, Oktober 2011
Verabschiedet von der Ethikkommission am 15. September 2011

Kommissionsmitglieder: Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Otfried Höffe* (Präsident), Dr. Ruth Baumann-Hölzle, Prof. Dr. Annette Boehler, Prof. Dr. Alberto Bondolfi, Dr. Kurt Ebneter-Fässler, Carlo Foppa, PhD*, Prof. Dr. Olivier Guillod, Prof. Dr. Daniel Hell, Sylvia Huber*, PD Dr. Dr. Silvia Käppeli, Dr. Bertrand Kiefer*, Dr. Margrit Leuthold, PD Dr. Jean Martin, Prof. Dr. Hansjakob Müller**, Dr. Judit Pók Lundquist*, Franziska Probst, lic. iur et lic. phil., Prof. Dr. François-Xavier Putallaz, Dr. Brigitte Weisshaupt

* Mitglied der vorbereitenden Arbeitsgruppe
** Vorsitz der vorbereitenden Arbeitsgruppe

Über die „Verbesserung" des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen

Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin NEK-CNE

Es liegt in der Natur des Menschen, dass er sowohl seine körperlichen und geistigen Kapazitäten steigern als auch seine emotionalen und sozialen Fähigkeiten verbessern will. Manche Ethik hält ein solches Streben sogar für eine moralische Pflicht [1,2]. Die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK-CNE) ist dagegen der Auffassung, dass es auf die Mittel zur „Verbesserung" und auch auf die gesundheitlichen und sozialen Folgen eines Konsums von vermeintlich leistungssteigernden Wirkstoffen ankommt.

Nicht alle Mittel und Folgen sind vom ethischen Standpunkt aus unproblematisch [3,4,5,6,7,8,9,10,11,12,13]. Am Beispiel pharmakologischer Wirkstoffe, welche bereits sowohl im Alltag als auch im Beruf und in Bildungseinrichtungen zur Leistungssteigerung konsumiert werden, legt die NEK-CNE ihre ethischen Überlegungen bewusst in thesenhafter Form dar und leitet daraus Empfehlungen ab. Ziel ist, die Frage nach möglichen gesundheitlichen und gesellschaftlichen Risiken einer nicht-therapeutischen „Verbesserung" des Menschen aufzuwerfen [14]. Dies geschieht mit der Absicht, zum einen vertiefte und langfristige ethische, medizinische, sozialwissenschaftliche, psychologische und suchtpräventive Forschungsvorhaben anzustossen, zum anderen Politik und Öffentlichkeit zur erhöhten Aufmerksamkeit anzuregen.

Es hat sich im Sprachgebrauch eingebürgert, für Veränderungen des Menschen, die nicht therapeutisch angezeigt sind, aber dennoch als eine „Verbesserung" menschlicher Fähigkeiten, Leistungen und Befindlichkeiten eingeschätzt werden, den englischen Ausdruck Enhancement zu übernehmen.1 Enhancement kann dabei nicht nur eine Leistungssteigerung oder Verhaltensänderung sein, welche die betroffene Person als einen Gewinn an Lebensqualität empfindet, sondern auch eine, die auch von ihrem Umfeld, zum Beispiel in der Schule und am Arbeitsplatz, eventuell sogar in der Familie und Partnerschaft, erwünscht ist. Ein vermehrter Konsum von pharmakologischen Wirkstoffen ist unter diesen Bedingungen zu erwarten, obwohl zur Zeit (noch) eine allgemeine Zurückhaltung der Schweizer Bevölkerung gegenüber Enhancement zu beobachten ist [15]. Dies könnte sich mit steigendem Verbrauch und damit einhergehend der vermehrten Anwendung solcher Wirkstoffe, aber auch im Fall der Entdeckung neuer, nebenwirkungsärmerer oder -freier Substanzen ändern. (...)

Enhancement bei Kindern

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Enhancement bei Kindern. Hier ist eine steigende Tendenz zu pharmakologischen Eingriffen zu beobachten, die noch nicht (voll) urteilsfähige Personen betreffen, über die Erwachsene, in der Regel die Eltern, auch in gesundheitlichen Belangen entscheiden dürfen. Diese Tendenz erfährt durch die Motivation der Eltern, nur „das Beste" für ihr Kind zu wollen und sicherzustellen, zusätzlich Auftrieb [26]. Dabei wird oft „das Beste" mit Blick auf das zukünftige Leben in der Gesellschaft definiert: Die Eltern wünschen in der Regel, dass das Kind im Wettbewerb um Ausbildung und Arbeitsplatz gut bestehe, indem vor allem seine kognitiven, aber auch emotionalen und sozialen Fähigkeiten verbessert und seine „Stressresistenz" gesteigert werden. Dieser Wettbewerb beginnt bereits sehr früh, verstärkt beim Schuleintritt. Bekanntlich zeigen Psychopharmaka auch bei gesunden Kindern Wirkung. Entsprechend gross ist der Anreiz für die Eltern, solche Mittel einzusetzen, um die Aufmerksamkeit und Konzentration des Kindes zu fördern und es damit konkurrenzfähiger zu machen. Eine derartige „Optimierung" der kindlichen Fähigkeiten geschieht ohne Zeitaufwand und auch unbemerkt, so dass sich die Eltern kritischen Bemerkungen nicht stellen müssen.

Nach Angaben des US President's Council on Bioethics stimmt der Einsatz von Psychopharmaka wie Ritalin® und Concerta® nicht mit der Anzahl der gestellten Diagnosen und Therapieindikationen überein, und es ist eine Tendenz hinsichtlich des Geschlechts (Knaben), des Alters (jüngere Kinder) und der Region (Stadt) festzustellen [26, S. 75; 80].

Eine solche Tendenz ist neben sprachregionalen Unterschieden auch in der Schweiz zu beobachten [27, 28]. Der Verbrauch an Ritalin® in der Schweiz ist zudem zwischen 1996 und 2000 von 13,7 kg auf 69 kg markant gestiegen, vor allem in der Altersgruppe der 5- bis 14-jährigen, [28]. Die durchschnittliche Dosierung wurde innerhalb dieser vier Jahre um ca. 10% erhöht [28]. Leider liegt trotz zahlreicher parlamentarischer Vorstösse kein differenzierter, repräsentativer Bericht aktuelleren Datums zur gesamtschweizerischen Verschreibungspraxis und zum Verbrauch von Psychopharmaka bei Kindern vor [27, 28, 29,30]. Ein solcher Bericht wäre jedoch aufschlussreich, um auch die Ursachen klären zu können, warum z.B. Methylphenidat, unter anderem bekannt als Ritalin®, das seit über 55 Jahren in der Schweiz in Gebrauch ist, in den letzten 15 Jahren so viel häufiger zum Einsatz gekommen ist.

Aus ethischer Perspektive ist die Tatsache von Belang, dass die Diagnose beispielsweise eines Aufmerksamkeitsdefizitsyndroms, eines oppositionellen Trotzverhaltens oder einer Angststörung eine fachliche Herausforderung darstellt, weil die Abgrenzung zwischen normalen und krankhaften kindlichen Verhaltensweisen schwierig zu ziehen ist [31]. Ebenfalls ist anzunehmen, dass durch den Anstieg des Verbrauchs von Psychopharmaka sich auch die Standards verschieben bzw. verschoben haben, welche Verhaltensweisen eines Kindes oder Jugendlichen sozial verträglich und „normal" sind   – oder eben als krankhaft eingestuft werden. Da die Diagnosestellung auch von solchen gesellschaftlichen Bewertungen sowie einem Interesse, dass sich Kinder im Kindergarten und in der Schule angepasst verhalten, beeinflusst ist, ist eine weitere Zunahme der Verschreibungen zu erwarten. Dieses Beispiel zeigt, dass die Abgrenzung zwischen Enhancement und Therapiebedürftigkeit kulturell und historisch variabel ist   – und damit auch ethischer Reflexion bedarf.

Selbstverständlich kann man gegenüber dieser Entwicklung positiv eingestellt sein, weil offenkundig wünschenswerte Eigenschaften des Kindes und damit seine soziale Integration gefördert werden. Solche Förderung wird von einigen sogar zur moralischen Pflicht erhoben.

Die NEK-CNE hat hier jedoch Bedenken. Denn durch die Einnahme von pharmakologischen Wirkstoffen zu Zwecken des Enhancement wird das Verhalten des Kindes ohne jegliche Eigenleistung verändert [32]. Darin liegt ein Eingriff in die Freiheit und die Persönlichkeitsrechte des Kindes. Weil pharmakologische Wirkstoffe zwar Verhaltensveränderungen verursachen, das Kind aber damit nicht lernt, wie es solche Verhaltensänderungen selbst erzielen kann, wird dem Kind eine wichtige Lernerfahrung für eigenverantwortliches Handeln vorenthalten [26]: nämlich sein Verhalten durch eigene Entscheidungen   – und nicht (allein) durch fremde Mittel   – zu beeinflussen und damit Verantwortung übernehmen zu können. In diesem Sinne wird durch Enhancement die Freiheit des Kindes empfindlich eingeschränkt und es in seiner Persönlichkeitsentwicklung gehemmt.

Der Konsum pharmakologischer Mittel kann noch weitere Auswirkungen auf den Charakter haben, weil dem Kind vermittelt wird, dass es nur mit Hilfe solcher Mittel in sozial anerkannter Weise „funktioniert". Insofern seine Charaktereigenschaften medikamentös angepasst und von Psychopharmaka abhängig gemacht werden, hat es Folgen für seine Persönlichkeitsbildung und sein Selbstwertgefühl und könnte die Ausbildung von Mustern für Suchtverhalten begünstigen [19]. Der Konformitätsdruck, unter dem Kinder von Seiten der Eltern und Bildungseinrichtungen stehen, erzwingt einen Standard an Normalität, der die Toleranz gegenüber Kindlichkeit abnehmen lässt. Auch könnte sich die Vielfalt von Temperamenten und Lebensweisen reduzieren und damit letztlich das Recht des Kindes auf einen offenen Lebensweg gefährdet werden.

Die NEK-CNE plädiert dafür, die Lebensverhältnisse den Interessen und Bedürfnissen der Kinder anzupassen. Denn die Qualitäten der Kindheit, die nicht Aspekte des gesellschaftlichen Wettbewerbs und der Leistungsfähigkeit betreffen, sondern das Spielen, die Freundschaft und die erfolgsentlastete Musse ausmachen, könnten anderenfalls an Wertschätzung verlieren   – und damit auch die Kindheit selbst.

Den vollstädigen Bericht finden Sie unter:

Impressum

Herausgeberin: Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin NEK-CNE Redaktion: Susanne Brauer, PhD

Kontakt

nek-cne@bag.admin.ch

Zitiervorschlag: NEK-CNE. Über die Verbesserung des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen. Schweizerische Ärztezeitung. 2011; 43 vollständige Fassung online unter www.saez.ch
Diese Stellungnahme ist in deutscher, französischer, italienischer und englischer Sprache als Download unter www.nek-cne.ch/http://www.saez.ch verfügbar.

© 2011 Nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin, Bern
Abdruck unter Angabe der Quelle erwünscht.

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