Corona: «Die Katastrophenszenarien waren offensichtlich falsch»
Notizen eines alternden Mediziners zur Corona-Krise
Ich liebe dieses Land, dem ich viel zu verdanken habe, zahlte pünktlich Steuern, hatte Vertrauen in die Institutionen. Doch inzwischen frage ich mich, ob dieses Vertrauen berechtigt war. Da tritt ein neues Virus auf, mässig gefährlich, keine Pest. Experten malen den Teufel an die Wand, die ratlose Regierung verfällt in Panik und erklärt den Notstand. Das Volk kuscht, die Freiheit ist bloss noch eine Erinnerung, das Land steht still, das Volksvermögen wird hochwassernd die Aare hinuntergespült. Der Staat verfällt in einen inkohärenten Aktivismus.
So mutiere ich auf Geheiss der Regierung von einem einigermassen intakten Forschungsgruppenleiter zu einem vulnerablen, potenziell einzusperrenden Greis, der mittels milliardenschwerer Massnahmen geschützt werden soll. Nur: Will ich das? Eine intensivmedizinische Behandlung endet in meinem Alter nach wochenlangem Siechtum in mehr als der Hälfte der Fälle letal – und bei den wenigen Überlebenden ist sie mit Folgen wie Demenz oder therapieresistenten Depressionen verbunden.
Wundersame Macht der Bilder
Vor einem Jahr um diese Zeit pflegten und begleiteten wir meine todkranke Frau bis zu ihrem Ableben zu Hause. Während dieser schweren Zeit war jeder der Besuche der Enkelkinder ein heiss ersehntes Fest für meine Frau, ein lebensprägendes Ereignis für die Enkel. Die Abdankung unter Anteilnahme der ganzen Dorfbevölkerung ein zentrales Element für den Beginn der Trauerarbeit. Nicht auszudenken heute. Die Toten werden einsam verscharrt, die Kirchen üben sich in nobler Zurückhaltung.
Das Bild des vor Napalmbomben fliehenden Mädchens führte zur Wende im Vietnamkrieg. Die Bilder der Särge abtransportierenden italienischen Militärlastwagen führten zur plötzlichen und widerspruchslosen Akzeptanz von Notrechtmassnahmen europaweit. Welches Bild braucht es für eine Wende, die rasche und vollständige Rücknahme der Massnahmen?
Lemmingen gleich verordnen Politiker die überall gleichen Massnahmen. Grossbritannien knickt nach anfänglichem Widerstand ein, bleibt noch Schweden. Sonst herrscht überall der Primat der Gesundheit. Wo bleibt das Land, das, «whatever it takes», eine rasche, breitflächige Durchseuchung der Bevölkerung knapp unterhalb der Belastungsgrenze des Gesundheitssystems anstrebt? Als mögliche Belohnung winken die rasche Wiedergewinnung weltweiter Bewegungsfreiheit, geringere Notfallmassnahmen-induzierte Kollateralschäden, weniger schulschliessungsbedingte Ungleichheit und mehr.
Was macht der Bundesrat? Er strebt neuerdings eine Zahl neuer Fälle unter 100 pro Tag an. Sein Argument: Nur so sei konsequentes Nachverfolgen weiterer Ansteckungen logistisch möglich. Ist es das uneingestandene Ziel der Regierung, unter horrenden Qualen und Kosten für das Volk einigen App-Entwicklern Studien zu ermöglichen? Diese Strategie wird die Pandemie verlangsamen, nicht stoppen. Gibt es eine elendere Perspektive, als während der nächsten achtzehn Monate maskenbewehrt, «socially distanced» und von der eigenen Regierung kujoniert dahinzuvegetieren?
In den Task-Forces wimmelt es von Epidemiologen, den Apparatschiks der modernen Medizin, die Daten sammeln, wenn die Schlacht längst vorbei ist. Nun mutieren sie zu Propheten. Die Datenlage ist unsicher und widersprüchlich. Kein Problem, das Computerprogramm berechnet ja den Pandemieverlauf auf die Kommastelle genau. Die zu treffenden Schutzmassnahmen sind alternativlos und kristallklar, werden auf allen Kanälen mit Nachdruck propagiert.
Die Spitäler stehen halb leer, die Intensivstationen sind nicht überlastet, die gemalten Katastrophenszenarien waren offensichtlich falsch. Verantwortliche Experten und Regierung schweigen vornehm dazu, malen stattdessen das nächste Katastrophenszenarium einer zweiten Pandemiewelle an die Wand. Gibt es stichhaltige Gründe, den neuen Szenarien mehr zu vertrauen?
Handeln in Ungewissheit
Der Kampf gegen die neue Pandemie, deren Verlauf niemand kennt, erfordert Entscheide auf unsicherer Grundlage. Risikoaversion ist keine wünschenswerte Eigenschaft für Politiker in Krisenzeiten. Task-Forces dienen bestenfalls als Deckmäntelchen für die eigene Entscheidungsunfähigkeit. Zahlen wir den Preis für das zunehmende Fehlen mutiger und unabhängig denkender Persönlichkeiten in Regierung und Parlament?
Ich trotze den Notmassnahmen, verlasse mein quarantänekonformes Domizil, mache mich unmaskiert auf den Weg zur Bootshaab am See. Maskentragende Zombies, so weit das Auge reicht, ausweichend, abweisend, bonjour tristesse!
Wir sind sterblich. Weder die Notmassnahmen noch die Apparatschiks verhelfen uns zum ewigen Leben, die Epidemie wird weitere Opfer fordern. Der Verlauf der Epidemie in unserem Land ist gutartig. Aber steht die durch die Notmassnahmen möglicherweise erreichte Verlangsamung der Ansteckungen nicht in groteskem Missverhältnis zu den induzierten Schäden medizinischer, sozialer und gesellschaftlicher Natur? Und, übelstes aller Übel, die Massnahmen verlängern die Dauer der Pandemie.
Eine Alternative: Schweizerinnen und Schweizer, werft eure Handys zu den Munitionskisten in die Seen, lebt, liebt, lächelt, lernt. Mir bleibt die Gnade der frühen Geburt.
__________________________
*Der Kardiologe Urs Scherrer ist emeritierter Professor für Medizin an der Universität Lausanne und ist heute Forschungsgruppenleiter am Inselspital Bern.
Dieser hier leicht gekürzte Gastbeitrag erschien in der NZZ vom 15. Mai.
Quelle: https://www.infosperber.ch/Artikel/Gesundheit/Corona-Die-Katastrophenszenarien-waren-offensichtlich-falsch
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- „Friedensmacht Europa“! – Der Gegenentwurf zum brandgefährlichen Militarismus der Europäischen Union
- Rutger Bregman: "Moralische Ambition" Wie bringt man Menschen dazu, ihren Job zu wechseln, um mehr Gutes zu tun?
- Kriegsgefahr – Wollen London und Paris vor Trumps Amtsantritt mit einem Krieg vollendete Tatsachen schaffen?
- Patrick Baab: Offener Brief an Dr. Sahra Wagenknecht und Katja Wolf
- Meine Reise nach Kazan vom 22. bis 26. Oktober 2024
- «Du hast grosse Lust auf Krieg?»
- Frieden und Stabilität als Basis der weiteren globalen Entwicklung
- Daniele Ganser: CIA manipuliert Medien
- Pepe Escobar: Könnte Palästina der Katalysator für eine islamische Renaissance sein?
- Friedensnobelpreis 2024: Der Wille von Alfred Nobel als rechtliche Verpflichtung
- Ein deutsch-russisches Konzert für den Frieden – in Izmir, Türkei!
- Offener Brief an den Präsidenten der Vereinigten Staaten Joe Biden
- Vortrag von Ministerpräsident Viktor Orbán auf dem 33. Bálványos Sommercamp der Freien Universität und der Studenten
- Kurzmitteilung: Premierminister Ibrahim kündigt an, dass Malaysia offiziell den Beitritt zu BRICS beantragt
- Lawrow unterbreitet der Welt einen Vorschlag für eine gerechtere Weltordnung
- «Im Schatten eines Olivenbaums»
- Orban: «Es gibt keinen dritten Weg, nur einen dritten Weltkrieg»
- Eine überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist für Friedensverhandlungen, sowohl in Europa als auch in den USA
- Anti-Spiegel: Die gesamte Pressekonferenz von Putin nach dem Chinabesuch
- Pepe Escobar: Putins und Xis Umarmung warnt die USA eindringlich, während Irans Raisi die Szene verlässt
- An der Wahrheit festhalten
- PATRICK LAWRENCE: Ðiên Biên Phú zum 70.
- Chas Freeman: Iran zerschmettert US-Macht im Nahen Osten
- Dieter Hallervorden (88) fest auf der Seite der Unterdrückten: GAZA - GAZA