«Israel ist für Juden das unsicherste Pflaster der Welt»
Ilan Pappe ist unter Israels Historikern wohl der umstrittenste. Jetzt nimmt er eine Auszeit in England. Zuvor hat er sich noch mit der Friedensbewegung angelegt.
von Marlène Schnieper, Haifa
Ilan Pappe? Der erste Student, der uns auf dem Parkplatz der Universität Haifa begegnet, strahlt, als er den Namen hört. «Kennen Sie den Mann?» fragt er. Er sei ein Palästinenser aus Akko, ein Araber mit israelischem Pass, stellt er sich vor.
«Für mich ist der Professor der Grösste. Ein Jammer, dass er uns verlässt, auch wenn es bloss vorübergehend ist.»
In seinem jüngsten Buch, «The Ethnic Cleansing of Palestine», verdeutlicht der Historiker, warum Israels Unabhängigkeitskrieg 1948 für die Palästinenser zur Katastrophe wurde. Nach Pappes Darstellung ging die israelische Staatsgründung einher mit einer «ethnischen Säuberung». Die Vertreibung der ansässigen arabischen Bevölkerung hatte System, den Plan dazu fassten zionistische Führer am 10. März 1948 in Tel Aviv. Neun Monate später waren 531 palästinensische Dörfer zerstört und 11 Stadtteile von ihren arabischen Bewohnern «befreit».
Pappe geisselt auch den Umstand, dass Israel selbst jener arabischen Minderheit, die im Land geblieben ist, das Recht auf Rückkehr an ihre alten Orte verweigert. Unter der arabischen Jugend Galiläas, dem traditionellen Lebensraum der Araber, hat dieser Forscher darum Kultstatus. Für die Verfechter von «Eretz Israel» hingegen, dem biblischen Israel, ist er ein Verräter. Pappe selber ist froh, nun eine Weile andere Luft zu atmen. In diesen Tagen zieht er mit Frau und Kindern in den Südwesten Englands. An der Universität Exeter wird er ein Forschungsjahr einlegen. Das Angebot dazu nahm er nach dem Libanonkrieg des letzten Sommers an: «So klar wie die Niederlage der israelischen Armee war für mich damals der Hinweis, wie dumm Israels Führung ist und wie schwach seine Linke.»
Vor dem Urlaub legte sich Pappe noch mit potenziellen Verbündeten an, wie der Friedensaktivist Uri Avnery beklagte. Im Mai trafen sich die beiden zu einem Streitgespräch in Tel Aviv. Leidenschaftlich verteidigte der 83-jährige Avnery das Prinzip «Zwei Staaten, zwei Völker». Pappe, drei Jahrzehnte jünger, konterte kühl, mit polemischen Spitzen. Der Zionismus sei «aus zwei logischen Impulsen geboren worden». Zum einen wollte man für die Juden Ost- und Mitteleuropas nach Jahrzehnten der antisemitischen Verfolgung einen sicheren Hafen finden. Zum andern sollte das Judentum als Nation gefestigt werden. In Palästina, wo schon ein ganzes Volk lebte, wurde dieses Vorhaben zum kolonialistischen Projekt, gemessen am eigenen Anspruch, freilich mit bescheidenem Erfolg. Gegen Ende der britischen Mandatszeit hatten die zionistischen Siedler lediglich sechs Prozent des historischen Palästina erobert, sie stellten nur ein Drittel der Bevölkerung.
Im März 1948 dann beschlossen elf zionistische Führer, die demographischen Verhältnisse in ihrem Sinn zu ändern. Dabei kombinierten sie kolonialistische und demokratische Ziele in einer Weise, die sich für die bisherige palästinensische Mehrheit verheerend auswirkte, wie Pappe erklärt: «Die Demokratie, die Ben Gurion und seine Berater einrichteten, war und ist eine Herrenvolkdemokratie. Den Staatsgründern schien jedes Mittel recht, um der jüdischen Bevölkerung ein Maximum an Land mit einem Minimum an arabischen Bewohnern zu sichern. Dieser Grundsatz gilt in Israel bis heute.» Nie seien die damals begangenen Verbrechen geahndet worden, die internationale Gemeinschaft habe sie «rückwirkend sogar gebilligt», sagt der Historiker. «Die Schaffung einer Demokratie nur für die Juden und der Erhalt der jüdischen Mehrheit heiligten jeden Zweck und lieferten die Basis für die Zweistaatenlösung.»
Diese Lösung hätte sich vielleicht in den ersten Jahren nach dem Sechstagekrieg von 1967 noch verwirklichen lassen. Seither aber seien in den besetzten Gebieten vor allem durch den Siedlungs- und Mauerbau so viele neue Tatsachen geschaffen worden, dass das Versprechen vom «lebensfähigen palästinensischen Staat» neben dem israelischen illusorisch sei. Wer dieses Mantra immer noch beschwöre, betreibe Augenwischerei, hält Pappe Vertretern der Friedensbewegung entgegen. «Wenn Gerechtigkeit das Anliegen jener ist, die heute noch für die Teilung des Landes eintreten, so gibt es keine zynischere Formel als diese: 80 Prozent des historischen Palästina für die Besetzer, 20 Prozent für die Besetzten, und auch das nur im besten Fall. Wenn aber die Machtbalance das Territorium bestimmt, warum sollte Israel dann nicht gleich 100 Prozent verlangen?»
Für die Auflösung des Staates Israel
Für die 100 Prozent wüsste Pappe eine bessere Verwendung. In Palästina sollte seiner Meinung nach ein einziger Staat wiedererstehen, säkular und demokratisch, in dem Juden und Araber gleiche Rechte und Pflichten hätten. «Eine Republik, die vom Mittelmeer bis zum Jordan reichte, setzte die Auflösung des Staates Israel voraus», entgegnet Avnery. «Das mag ein schöner Traum sein, seine Verwirklichung liefe jedoch auf die Vernichtung all dessen hinaus, was wir in fünf Generationen hier aufgebaut haben. 99,9 Prozent der jüdischen Israeli wollen das nicht. Auch ich will es nicht.» Ihm bedeute es viel, dass Israel existiere, gerade darum kämpfe er für die Verständigung mit den Palästinensern, gesteht Avnery.
Inzwischen wollen George W. Bush, Ehud Olmert und Mahmoud Abbas den Friedensprozess wiederbeleben. «Zwei Staaten für zwei Völker» lautet der Kanon. «Fauler Zauber», sagt Pappe. «Israels Premier offeriert den Palästinensern vorläufig nicht mehr als eine zerstückelte und ummauerte Westbank, die mit dem Gazastreifen durch einen Tunnel verbunden würde. Selbst wenn der Palästinenserpräsident und die ihm ergebenen Beamten in Ramallah ein solches Bantustan akzeptierten, wäre damit wenig gelöst.» Die Zukunft des ganzen Landes stehe auf dem Spiel, die palästinensische Bevölkerung solle daran ebenso beteiligt werden wie die jüdische. «Auch das Flüchtlingsproblem lässt sich einigermassen gerecht nur im Rahmen eines einzigen Staates lösen, das sieht die Mehrzahl der Palästinenser ähnlich», behauptet der Historiker.
Die Gilde neuer Historiker
Ilan Pappe kam im November 1954 in Haifa zur Welt. Seine Eltern stammten aus Deutschland und lernten sich in Haifa kennen. Der Holocaust war zu Hause kein Thema, «die Eltern wollten Deutschland vergessen», führten am Karmelberg aber ein sehr deutsches Leben. An der Mittelschule lernte der junge Ilan Arabisch. Trotzdem habe er vorerst alle zionistischen Mythen übernommen, entsinnt sich Pappe. «Ich glaubte, dass die Juden in Palästina ein leeres Land vorgefunden hatten.» Der Horizont weitete sich erst mit dem Geschichtsstudium an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Hier besuchte er in den 70er-Jahren Vorlesungen über die arabische Welt, lernte auch palästinensische Studenten kennen.
Das grosse Erwachen kam 1980, als er nach Oxford zog und sich entschloss, über das Jahr 1948 zu doktorieren. Namhafte Orientalisten wie Albert Hourani und Roger Owen förderten ihn, palästinensische Intellektuelle wie Edward Said und Walid Khalidi vermittelten ihm ihre Sicht der Dinge. Dokumente der israelischen Armee, Grossbritanniens, der USA, der Uno und des IKRK, die zu jener Zeit erst zugänglich wurden, ergänzten das Bild. «Ich erkannte, dass die britische Mandatsmacht – im Gegensatz zur bisherigen Lehre – die Gründung des jüdischen Staates stark unterstützt hatte. Auch sonst war einiges anders, als wir es in der Schule gehört hatten. Die meisten arabischen Bewohner Palästinas waren nicht einfach weggegangen, weil ihre Führer es empfohlen hatten. Mehr als eine Million Menschen wurden mit vorgehaltener Waffe aus ihren Häusern gedrängt. Jüdische Truppen zogen brandschatzend und vergewaltigend durch ein Land, das zuvor voller Leben und Kultur gewesen war.»
Seine Dissertation, «Britain and the Arab-Israeli Conflict», erschien 1988 in Buchform. Wie Benny Morris und Meron Benvenisti reihte sich Pappe damit unter die neuen Historiker ein, die Israels Gründungsgeschichte auf der Basis neuer Quellen revidierten. Morris nutzte dafür hauptsächlich Militärarchive, Pappe berücksichtigt auch Material, das Erfahrungen der Opfer und in der zuletzt publizierten Untersuchung auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit belegt.
Das historische Unrecht, das Israel den Palästinensern antat, zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk dieses Autors. Dass er darob zum Rufer in der Wüste wurde, ist ihm bewusst. Eine Botschaft mag er seinen Landsleuten dennoch nicht ersparen. «Israel ist für Juden heute das unsicherste Pflaster der Welt. Das wird sich erst ändern, wenn wir das Zusammenleben mit unsern Nachbarn von Grund auf neu organisieren.»
Quelle: © Tages-Anzeiger; 03.09.2007
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