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Israelischer Politiker äußert sich zu Israels "Kriegsverbrechen" & "Faschismus"

Dr. Cassif: In den Vereinigten Staaten wurde ich interviewt. Ich wurde von CNN und Al Jazeera, BBC, Russia Today und einigen Podcasts und so weiter interviewt.Von den anderen Leitmedien wurde ich nicht interviewt. In Deutschland sind Sie der erste, der mich tatsächlich interviewt.
26.11.2023 Dr. Ofer Cassif im Interview mit Zain Raza, Leitender Redakteur & CEO von acTVism Munich
27. November 2023

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(Red.) Die klare Sprache von Dr. Ofer Cassif bedarf keines weiteren Kommentars. Weil auch die Deutsche Verantwortung angesprochen ist, wünschen wir diesem Video (51 Min.) eine weite Verbreitung, vor allem in Deutschland.(ww)

 Transkript

Zain Raza:

Vielen Dank, dass Sie heute eingeschaltet haben und willkommen zu einer weiteren Folge von die Quelle. Ich bin ihr Gastgeber, Zain Raza. Heute spreche ich mit dem israelischen Politiker und Mitglied des israelischen Parlaments Dr. Ofer Cassif. Dr. Ofer Cassif ist außerdem Dozent für Politik und Philosophie an der Hebrew University in Jerusalem. Er promovierte an der London School of Economics und erhielt seinen post-Doktoranten-Status an der Columbia University.

Dr. Ofer, vielen Dank, dass Sie heute bei uns sind. Bevor ich auf die jüngsten Entwicklungen eingehe, möchte ich mit Ihrer persönlichen Situation beginnen. Im Oktober wurden sie von einer Ethikkkommission des israelischen Parlaments für 45 Tage suspendiert, nachdem Sie den israelischen Angriff auf den Gazastreifen kritisiert hatten. Dies geschah zu einer Zeit als die israelische Regierung mehr als 100 israelische Bürger aufgrund von Posts in den sozialen Medien verhaftete, in denen die Palästinenser in Gaza unterstützt wurden. Berichten zufolge sind mindestens 70 israelische Universitätsstudenten von einer Suspendierung oder einer anderen Form von Disziplinarmaßnahmen bedroht, weil sie pro-palästinensische Inhalte im Internet veröffentlicht haben.

Können Sie uns einige Einzelheiten über ihre Situation mitteilen und können Sie auch etwas über das allgemeine harte Vorgehen in Israel sagen?

Dr. Ofer Cassif:

Ich befinde mich derzeit in Südamerika. Ein paar Tage vor dem Massaker der Hamas kam ich in Mexiko Stadt an, um an einem Seminar der sozialistischen, kommunistischen und Arbeiterparteien teilzunehmen. Als das Massaker stattfand war ich dort. Anschließend konnte ich nicht mehr zurückkehren, vor allem und unter anderem weil es keine Flüge nach Israel gab. Also bin ich nach Südamerika gegangen, wo die Familie meiner Frau lebt, und ich bin immer noch hier. Ich beabsichtige, nach Israel zurückzukehren, hoffentlich bald, aber als ich suspendiert wurde konnte ich ohnehin nicht mehr an den Aktivitäten der Knesset teilnehmen. Ich bin also hier geblieben, obwohl ich natürlich lieber wieder zu Hause wäre.

Aber das ist die Situation und das hat mit ihrer Frage zu tun, der politisch wichtigen Frage nach der Verfolgung von Oppositionellen Stimmen in Israel.

Zain Raza:

Und wie sieht es mit dem harten Durchgreifen aus? Sind die bürgerlichen Freiheiten im Moment in Gefahr und sehen sich Dissidenten und Aktivisten mit einer Art Razzia durch die Regierung konfrontiert?

Dr. Ofer Cassif:

Absolut richtig. Erlauben Sie mir, es in den richtigen Kontext zu stellen. Ich nehme an, dass ihre Zuhörer und diejenigen, die die Sendung verfolgen, wissen, dass die israelische Regierung, die   – wie ich sagen muss   – eine faschistische Regierung ist, kurz vor dem Massaker des 7. Oktober und den daraufolgenden Ereignissen versucht hat, einen Staatsstreich durchzuführen. Natürlich wurde dies unter dem Vorwand einer Justizreform beschönigt. Aber es handelte sich nicht um eine Justizreform. Das war ein Putsch der Regierung mit der Absicht, die wenigen demokratischen Elemente, die es dort noch gibt, zu beseitigen, und das sind nicht allzu viele. Sie wollen sie vollständig beseitigen.

Nun, sie sind gescheitert, vor allem aufgrund der Proteste. Also haben sie das schreckliche ungeheuerliche Gemetzel, das die Hamas begangen hat, als Vorwand benutzt, um eben die gleichen Ziele zu verfolgen, die sie hatten, als sie den Staatsstreich durchführen wollten, zusätzlich zu dem Massaker, das Israel in Gaza zu verantworten hat.

Und es gibt keine andere Möglichkeit, es zu beschreiben. Ich meine, wir müssen sehr vorsichtig sein. Und erlauben Sie mir, noch noch etwas hinzuzufügen: Es gibt keine Dichotomie in dem Sinne, dass wenn man gegen das schreckliche Gemetzel der Hamas ist   – und wir müssen uns selbstverständlich dem entgegenstellen   – man per Definition das Massaker befürwortet, dass Israel an den unschuldigen palästinensischen Zivilisten in Gaza verübt. Und ich betone: Unschuldige Zivilisten!

Umgekehrt bedeutet es nicht, dass man die Hamas oder deren Blutbad befürwortet, wenn man sich dem Massaker widersetzt, für das Israel verantwortlich ist, dem Angriff, den Israel gegen Gaza führt. In diesem Sinne, denke ich, dass zu viele Regierungen in der Welt   – auch die deutsche   – sich des Blutvergießens schuldig gemacht haben. Denn sie lassen es unter dem Vorwand der Selbstverteidigung Israels zu. Es handelt sich nicht um Selbstverteidigung.

Angesichts der Aktivitäten der israelischen Regierung seit dem 7. Oktober, zusätzlich zu dem Massaker und den Kriegsverbrechen in Gaza selbst, wird dies natürlich als Vorwand („smoke screen“) benutzt, um die Palästinenser im Westjordanland ethnisch zu säubern, um einen Krieg gegen demokratische Juden und Linke sowie die palästinensischen Bürger in Israel zu führen.

Wenn wir die Zeit haben, kann ich es im Detail erklären. Ein Teil davon besteht natürlich darin, Israel in eine vollwertige faschistische Diktatur zu verwandeln und zwar zum Teil durch das, was Sie vorhin zitiert haben: Die Verfolgung von Menschen, die eine oppositionelle Stimme erheben, die einen Waffenstillstand, den Austausch von Gefangenen und die Freilassung von Geiseln, die Beendigung des Krieges und schließlich die Beendigung der Besatzung und das Erreichen eines gerechten Friedens fordern, was im Interesse aller Beteiligten liegt, im Interesse aller Betroffenen. Dies liegt in erster Linie im Interesse der Palästinenser aber auch im Interesse Israels.

Sicherheit für Israel   – und ich und meine Mitstreiter, Palästinenser und Juden gleichermaßen, wir unterstützen die Sicherheit Israels. Und wir werden als anti-israelisch dargestellt. Der einzige Faktor, der sich jetzt gegen Israel und die Israelis richtet oder eine solche Politik betreibt, ist die Regierung. Deshalb rufe ich die deutsche Regierung und die deutsche Gesellschaft auf: Wenn sie Israel wirklich unterstützen wollen, müssen sie gegen den Krieg und gegen die Regierung sein. Denn die Regierung, die faschistische Regierung von Netanyahu, Ben Gvir und den anderen Schurken, sind diejenigen, die sich gegen die israelische Gesellschaft stellen. Und sie stellen eine große Gefahr dar.

Zain Raza:

Sie sprachen von dem Versuch dieser Regierung die Unabhängigkeit der Justiz zu untergraben und die Exekutive an die Macht zu bringen. Aber ich würde diesen Konflikt gerne in einen größeren Zusammenhang stellen, was die Leitmedien in Deutschland versäumen. Können Sie uns etwas über die Zusammensetzung dieser Regierung sagen? Was für Persönlichkeiten gibt es? Und zweitens: Können Sie einen Überblick über den Umgang dieser Regierung mit der Situation in Gaza und im Westjordanland geben, nachdem sie 2022 an die Macht kam?

Dr. Ofer Cassif:

Jeder weiß dass Netanyahu drei sehr schwere Straftaten zur Last gelegt werden. Das Einzige, was Netanyahu antreibt, ist sein persönliches Interesse, nicht ins Gefängnis zu müssen. Das ist das Einzige   – nicht das Wichtigste   – das Einzige, was ihn antreibt. Ich muss sagen, dass Netanyahu als Person ein Psychopath ist. Selbst als Jitzchak Schamir Ministerpräsident der Likud war und ideologisch gesehen viel weiter rechts stand als Netanyahu, sagte er vor 35 Jahren, dass Netanyahu für Israel gefährlich sei, dass Netanyahu nur an seine eigenen Interessen denke. Das war viele Jahre vor den Strafanzeigen. Aber jetzt, wenn man die strafrechtlichen Vorwürfe zu diesem psychopathischen Charakter von Netanyahu hinzufügt, ist es noch gefährlicher.

Warum ist es also so wichtig, die persönlichen Probleme von Netanyahu anzusprechen? Weil er bei der Zusammenstellung der derzeitigen Regierung und Koalition die fanatischsten, messianistischsten und rassistischsten Persönlichkeiten der israelischen Politik aufgenommen hat, von denen einige als Unterstützer des jüdischen Terrorismus verurteilt werden, wie Ben Gvir, wie Smotrich, der aus seltsamen Gründen nicht angeklagt wurde, obwohl er angeklagt werden sollte und vom Schin Bet überführt wurde: Der Geheimdienst sagte, dass er während des Rückzugsplans vor etwa 20 Jahren mit einer großen Menge Treibstoff auf dem Weg zu einem Terroranschlag gefasst wurde. Das sind also die Personen, die die Regierung kontrollieren.

Warum hat Netanyahu eine Regierung mit diesen Fanatikern gebildet? Und warum, was noch wichtiger ist, hat Netanyahu die Likud-Partei umgewandelt, die eine sehr hoch angesehene Partei war? Natürlich stehe ich   – gelinde gesagt, das war noch nie der Fall   – nicht auf deren Seite. Aber die Likud-Partei war über all die Jahre eine ideologische Partei. Noch einmal: Ich bin gegen die Ideologie der Likud-Partei, gegen deren Politik. Immer. Aber dennoch war sie eine ideologische Partei und sie war eine überragende Partei in der israelischen Politik, selbst als sie in der Opposition war, bevor sie 1977 zum ersten Mal die Wahlen gewann.

Netanyahu hat die Likud-Partei in eine Bibisten-Partei verwandelt. Sie kennen den Begriff Bibiism oder Bibiist, der sich von dem Spitznamen Netanyahus ableitet. Er hat die Likud in eine bibistische Sekte verwandelt. Das sagen ehemalige Mitglieder des Likud. Viele Exminister und Mitglieder der Knesset, die jahrelang Mitglied des Likud waren, bestätigen dies. Den Likud gibt es nicht mehr. Nur der Titel besteht noch. Warum ist das so wichtig? Weil Netanyahu innerhalb des Likud die ernsthafteren oder fundierteren ideologischen Persönlichkeiten ausgeschlossen hat, und er den Weg zu wichtigen Positionen innerhalb des Likud für Leute gebilligt und geebnet hat, die sich nicht von Ben Gvir oder Smotrich unterscheiden.

Es ist also falsch, nur die sogenannte Partei des religiösen Zionismus als Faschisten und noch Schlimmeres zu bezeichnen. Es ist wahr, das sie das sind. Aber innerhalb des Likud gibt es jetzt eine Mehrheit in der Knesset, die ideologisch gesehen   – wenn sie eine Ideologie haben, denn einige von ihnen sind einfach Opportunisten, aber wenn wir uns auf jene Ideologischen beziehen   – ähneln sie heute viel mehr den Rassisten.

Und ich spreche von einer echten Theorie des Rassenwahns, den Deutschland aus seiner Geschichte sehr gut kennt. Ich spreche von Personen, die wirklich an die jüdische Vorherrschaft glauben. Viele innerhalb des Likud denken so.

Die Gründe für Netanyahus Handeln liegen im Machterhalt. Er wollte niemanden wie z.B. Benny Begin, Michael Eitan oder Dan Meridor. Auch das sind Menschen, mit denen ich große Debatten und Meinungsverschiedenheiten habe. Aber ich kann nicht ignorieren, dass sie ehrliche und ernsthafte Menschen sind. Übrigens kann man mit ihnen tatsächlich diskutieren, was man von der großen Mehrheit der Likud-Leute heute nicht behaupten kann.

Warum haben sie sie dann vertrieben und den Weg für den Abschaum der Welt geebnet? Weil er auf diese Weise die Macht in seinen Händen behalten konnte. Er hat den Likud in eine persönliche Bibisten-Sekte verwandelt. Jetzt bildet er diese Regierung mit diesen Fanatikern, denn das Einzige, was ihn interessiert, ist das Amt des Ministerpräsidenten, um der Gefahr einer Inhaftierung zu entgehen. In diesem Sinne ist er also bereit, alles zu tun, was ihm einen Vorteil verschaffen könnte. Er ist der Nutzniesser   – nicht die israelische Gesellschaft. Er ist jetzt der Hauptfeind Israels   – er und seine Regierung, mit allem.

Sehen Sie sich das schreckliche Massaker an, das die Hamas begangen hat. Wer ist dafür verantwortlich? Nicht, wer der Schuldige ist. Sie Schuld liegt ganz bei der Hamas. Sie sind die Mörder, die es getan haben. Aber die Verantwortung für die Fahrlässigkeit und für die Schaffung der Umstände, die dieses schreckliche Gemetzel ermöglichten, liegt bei Netanyahu und seiner Regierung.

Ich werde Ihnen einige Beispiele nennen: Zunächst einmal hat der Geheimdienst der israelischen Armee Netanyahu bereits im März, also vor 9 Monaten, gewarnt, dass die Hamas wie auch andere   – die Hisbollah und andere   – aber in unserem Fall die Hamas, den Staatsstreich gegen Israel einsetzen würden, wenn er, wenn die Regierung, mit der sogenannten Justizreform fortfahre. Der Geheimdienst innerhalb der israelischen Armee hat Netanyahu gewarnt, dass die Fortsetzung dieses Staatsstreichs Israel in ein ernsthaftes Risiko und in Gefahr bringt. Er wollte nicht darauf hören.

Ich erinnere mich, dass ich am Abend der Abstimmung über die sogenannte Angemessenheitsklausel anwesend war, die eine massive Änderung des Justizsystems durch ein Gesetz darstellt, das die Unabhängigkeit und die Möglichkeit des Gerichts gegen Beschlüsse der Regierung zu entscheiden herabsetzt. Am Abend der Abstimmung über dieses Gesetz kam der Stabschef der israelischen Armee mit einigen anderen Generälen dringend in die Knesset   – was nicht sehr oft vorkommt, wenn überhaupt   – um persönlich mit Netanyahu zu sprechen und ihm zu sagen: „Stopp! Das wird Israel gefährden!“ Er weigerte sich, sie zu treffen. Er verweigerte ein Treffen mit ihnen.

Ich weiß nicht mehr genau, wie viel Zeit vor dem eigentlichen Massaker vergangen ist. Aber ich glaube, es befanden sich 34 oder 35 Bataillone der israelischen Armee an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Israel. Netanyahu verlegte… Netanyahu ist natürlich der Kopf der Schlange, aber die Regierung hat Einfluss… Netanyahu verlegte 32 Bataillone von dort in das Westjordanland. Er ließ nur zwei oder drei Bataillone an der Grenze zum Gazastreifen stationiert. Warum hat er das getan? Um die illegalen Siedlungen und die Pogrome der Siedler zu verteidigen, die Pogrome, die sie täglich gegen unschuldige Palästinenser, insbesondere gegen Hirten, begehen. Dies ist Teil der ethnischen Säuberung die im Westjordanland stattfindet.

Sogar Hamas-Terroristen, die während und nach dem Massaker gefasst wurden und nun verhört werden   – einiges davon wurde veröffentlicht   – sagten, sie seien schockiert gewesen. Sie waren überrascht, dass niemand auf sie wartete, als sie den Zaun durchschnitten und nach Israel eindrangen.

Übrigens gibt es in den Kibbutzim an der Grenze zum Gazastreifen, in jedem einzelnen Kibbutz, lokale Sicherheitskräfte, die bewaffnet sein sollen. Die Regierung, wiederum Netanyahu als Regierungschef, als Premierminister, nahm den meisten dieser Gruppen, die die Kibbutzim sichern sollten, die Waffen weg, um sie den Siedlern im Westjordanland zu geben. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Es geht nicht nur darum zu beweisen, dass die Regierung Israels und Netanyahu persönlich für das Massaker verantwortlich sind und bereits vor 5 Wochen verschwinden oder ins Gefängnis hätten gehen sollen, sondern auch darum zu erklären und zu beweisen, dass die Motivation Netanjahus sowie seitens seiner Regierung nichts mit dem Wohlergehen und der Sicherheit der Israelis oder des Staates Israel zu tun hat, sondern nur mit der Sicherheit und dem Wohlergehen von ihnen selbst und den ihnen nahestehenden Personen, das heißt den 5% der Bevölkerung, den Siedlern.

Das ist etwas, was die Welt wissen muss. Denn sobald sie und insbesondere die deutsche Regierung   – denn sie sprechen mit mir aus Deutschland   – verstehen, dass solange man die israelische Regierung unterstützt, den Israelis schadet. Sie handeln gegen die Interessen des Staates Israel. Wenn sie wirklich ein Freund der Israelis, des Staates Israel, sind, müssen sie sich gegen die israelische Regierung stellen. Denn diese gefährdet uns alle. Das wäre das Richtige.

Zain Raza:

Können Sie auch über die Politik der Netanyahu-Regierung sprechen, nachdem sie 2022 wieder an die Macht kam, und zwar in Bezug auf den Gazastreifen und das Westjordanland?

Dr. Ofer Cassif:

Zunächst einmal geht es nicht nur um diese Regierung. Netanyahu war, wie sie leider wissen, in den letzten 28 Jahren die meiste Zeit Premierminister. Es gab nur hier und da ein paar Wechsel, Scharon, Olmert, Barak aber für eine kurze Zeit. Relativ gesehen war Netanyahu die meiste Zeit Premierminister oder ein Minister z.B. für Finanzen unter Scharon. Und warum sage ich das? Weil Netanyahu seit er Premierminister ist, seit 2007   – glaube ich, aber vielleicht erinnere ich mich nicht mehr an das genaue Jahr   – eine Politik der Stärkung der Hamas im Gazastreifen und der Schwächung der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland verfolgte.

Und warum? Er hat das ausdrücklich gesagt. Das ist keine Interpretation von mir. Im Jahr 2019 sagte er auf einem Parteitag der Likud-Partei ausdrücklich und ich zitiere ihn mehr oder weniger, er sagte: „Diejenigen, die gegen die Gründung eines palästinensischen Staates sind, müssen die Hamas unterstützen und stärken und die Palästinensische Autonomiebehörde schwächen.“ Was ist der Grund dafür? Ganz einfach: Zunächst einmal spalten und herrschen. Wenn man die Palästinenser spaltet, gewinnt man das Westjordanland, das natürlich besetzt ist, aber zumindest zum Teil die Palästinensische Autonomiebehörde und die Hamas in Gaza. Und vergessen wir nicht, dass die Hamas tatsächlich einen Putsch gegen die Palästinensische Autonomiebehörde unternommen hat, um durch eine Art Staatsstreich die Kontrolle in Gaza zu erlangen. Israel wünschte dies aus demselben Grund, den Netanyahu nannte. Und warum? Weil, sobald es im Westjordanland und im Gazastreifen zwei unterschiedliche und sogar gegensätzliche Behörden gibt, man der Welt weißmachen kann, dass es niemanden gibt, mit dem man über einen palästinensischen Staat sprechen kann. Nehmen wir an, wir würden mit der palästinensischen Autonomiebehörde reden: Die Hamas in Gaza würde das niemals akzeptieren und umgekehrt. Deshalb wollten sie dieses Spalten und Herrschen.

Zweitens, und das führt uns zu den eigentlichen Taten von Netanyahu   – nicht nur zu seinen Aussagen, die Hamas sei als fanatische Organisation bekannt. Wenn man sie also stärkt, kann man feststellen, dass es niemanden gibt, mit dem man verhandeln kann: Schauen Sie sich die Hamas an. Schauen Sie sich die Situation an. Sie sind Fanatiker. Es gibt niemanden, mit dem man verhandeln kann, niemanden mit dem man reden kann.

Netanyahu hat also als Premierminister über viele Jahre hinweg kontinuierlich riesige Geldbeträge, Dollar, aus Qatar an die Hamas überwiesen. Jeder weiß das. Niemand leugnet es. Netanyahu streitet es nicht ab. Das war die Politik. Sie wollten eine starke Hamas und jetzt büßen wir dafür.

Übrigens: Vor 30 Jahren und mehr, als Rabin Premierminister oder Verteidigungsminister unter Scharmir war   – ich weiß es nicht mehr genau   – warnte Daniel Kurtzer, der später Botschafter der Vereinigten Staaten in Ägypten und danach in Israel war, Israel vor 30 Jahren und mehr. Er sagte: „Weil Israel damals die Hamas unterstützt, Israel kämpfte. Es kämpfte wie jede kolonialistische Macht, dass sie die Besatzung fortsetzen und verwalten werden, wenn sie die Alternative zur nationalen Organisation, die PLO, stärken.“ Das ist ein Schlüsselbegriff: Die Besatzung zu verwalten, anstatt sie zu bewältigen oder zu beenden, was die meisten Israelis und die Welt in die Irre geführt hat, wie wir kürzlich gesehen haben.

Schon vor 30 Jahren hat Daniel Kurtzer die israelische Regierung gewarnt, dass sie einen schrecklichen Fehler begeht, und dass alle einen hohen Preis dafür zahlen werden. Leider hatte er Recht, auch wenn ich sagen muss, dass die Vereinigten Staaten einen großen Teil der Verantwortung dafür tragen, auch wenn er es als amerikanische Offizieller ausgesprochen hat.

Wie auch immer: Das ist die Politik dieser Regierung und der anderen Regierungen von Netanyahu: Die Stärkung der Hamas in Gaza, die Schwächung der palästinensischen Autonomiebehörde im Westjordanland, die Verwaltung der Besatzung und die Verschärfung der Besatzung.

Wenn ich noch einen Satz hinzufügen darf: Unter dieser Regierung   – auch wenn es bereits in der vorherigen Regierung begonnen hat   – aber unter dieser Regierung gibt es eine andauernde   – vor dem Massaker, jetzt ist es schlimmer   – ethnische Säuberung der Palästinenser im Westjordanland. Ich meine, wer führt diese ethnische Säuberung praktisch durch? Die Siedler. Sie dürfen tun, was sie wollen. Sie sind bewaffnet.

Nach internationalem Recht leben sie in illegalen Siedlungen und viele von ihnen, die schlimmsten von ihnen, leben in sogenannten illegalen Außenposten, die sogar nach israelischem Recht illegal sind. Aber diese Regierung hat dem Militär befohlen, diese Außenposten nicht anzugreifen. Tatsächlich verstößt die israelische Regierung also täglich gegen das Gesetz.

Ich habe persönlich zwei Hirtengemeinschaften im Westjordanland und im Jordantal nur eine Woche vor dem Massaker besucht und ich traf dort gute Menschen, hart arbeitende Menschen, die nie jemandem etwas zu Leide getan haben, die an einem normalen Leben ohne Besatzung, ohne Verfolgung, ohne Belästigung durch die Siedler oder die Besatzungstruppen interessiert sind, unter deren Schirmherrschaft die Siedler agieren und ihre Verbrechen begehen. Und ich habe Gemeinden gesehen… Vier Gemeinden wurden damals wegen dieser Pogrome und Schikanen der Siedler von ihrem Land vertrieben. Bösartige, rassistische, bewaffnete Siedler unter der Schirmherrschaft der Besatzungstruppen. Und jetzt sind es bereits, wenn ich mich richtig erinnere, 14 oder 16 Gemeinden, die vertrieben wurden. Wir sprechen hier von einem Gebiet, das doppelt so groß ist wie Tel Aviv und das ethnisch gesäubert wurde.

Wo ist die Welt? Wo ist Deutschland? Deutschland trägt Schuld und zwar zu Recht für das, was es vor 90 Jahren den Juden einschließlich meiner Familie angetan hat. Aber sie werden in 90 Jahren bereuen, dass sie das Gleiche… Nicht das Gleiche getan, aber zugelassen haben. Sie haben Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Palästinensern zugelassen. Dann wird es zu spät sein. Sie haben die Verantwortung, das jetzt zu stoppen! Sie können es!

Zain Raza:

Werfen wir einen Blick auf einige der jüngsten Entwicklungen in diesem Konflikt. Am 7. Oktober, dem Tag an dem die Hamas und der Islamische Dschihad einen Überraschungsangriff auf Israel verübten, nahmen sie rund 239 Geiseln, darunter Militärangehörige, Zivilisten und ausländische Staatsangehörige. Nachdem die israelische Regierung zunächst einen Waffenstillstand für ein Geiselabkommen abgelehnt hatte, stimmte sie gestern einem Abkommen mit der Hamas zu. Die Hamas erklärte sich bereit, 50 Frauen und Kinder für einen viertägigen Waffenstillstand freizulassen, während Israel ankündigte, 150 palästinensische Frauen und Kinder aus israelischen Gefängnissen freizulassen, die manche nicht als Gefangene, sondern als Geiseln bezeichnen, und außerdem Hunderte von Lastwagen mit humanitärer Hilfe, Medikamenten, Treibstoff und vielen anderen Güter in den Gasastreifen zuzulassen. Auch die Hisbollah kündigte an, sich dem Waffenstillstand anzuschließen, der heute in Kraft getreten ist.

Dies ist eine zweiteilige Frage. Erstens: Welche Bedeutung hat diese Entwicklung? Und zweitens: Warum hat es so lange gedauert, bis Israel eine Vereinbarung mit der Hamas getroffen hat?

Dr. Ofer Cassif:

Ich beginne mit der zweiten Frage. Zunächst ist es ganz natürlich, dass Verhandlungen   – egal mit wem   – normalerweise ihre Zeit brauchen. Aber es gibt noch einen anderen Punkt, den ich ansprechen möchte. Nämlich, und das geht auf meine Aussage am Anfang unseres Gesprächs zurück, dass Netanyahu nur seinem eigenen Wohlergehen interessiert ist und nicht mehr. Netanyahu war gegen diese Art von Deal. Ich mag den Begriff Deal nicht, aber ich benutze ihn, weil ich im Moment keinen besseren finden kann. Der Grund, warum ich den Begriff Deal nicht mag ist, dass ich denke, dass Menschen, menschliche Wesen, nicht als Ware bezeichnet oder betrachtet werden sollten und wenn wir über Deals sprechen, scheint es, als würden wir sie als Ware bezeichnen, was ich wirklich verabscheue. Aber ich werde ihn unseres Gesprächs zuliebe verwenden. Es war mir jedoch wichtig, diese Vorbehalte zu äußern.

Netanyahu war anfangs jedenfalls nicht interessiert und lehnte das Abkommen ab, weil ihm das Wohlergehen und das Leben der Geiseln gleichgültig sind. Es ist ihm egal. Solange er der Ansicht war, dass die israelische Öffentlichkeit ein solches Abkommen nicht unterstützt, wollte er es auch nicht umsetzen. Als er zu begreifen begann, infolge der Umfragen, der Demonstrationen, der Treffen, die nicht nur hilfreich, sondern abstoßend waren   – abstoßende Treffen mit den Familien der Geiseln und ich sage abstoßend aufgrund der Haltung von Netanyahu und einigen anderen Ministern, die sich den armen Familien der Geiseln gegenüber so erniedrigend und unmenschlich verhielten. Sie gehen durch die Hölle und Netanyahu und seine Handlanger haben noch mehr Feuer in dieses Inferno gebracht.

Sobald Netanyahu also dachte oder zu verstehen begann, dass die Mehrheit in Israel ein solches Abkommen unterstützt, änderte er seine Meinung wieder, da er nur an seinem eigenen Wohl interessiert ist. Aber das brauchte Zeit. Dies ist ein Aspekt dessen, warum es so lange gedauert hat bis dieses Abkommen zustande kam.

Es gibt viele Faktoren hinter den Kulissen, die wir nicht kennen. Ich schätze, das ist ein Grund für die lange Verzögerung. Wie ich bereits sagte, sind die Verhandlungen, von denen es überall zahlreiche gibt, implizit. Das heißt, wir wissen nicht was genau hinter den Kulissen vor sich geht. Ich bin sicher, dass die Hamas einen großen Teil der Verantwortung für die Dauer der Verhandlungen trägt ohne die Geiseln freizulassen. Aber, wie ich schon sagte, in Bezug auf Israel, die israelische Regierung, ist die Dauer vor allem auf die Interessen der Beteiligten zurückzuführen, in erster Linie Netanyahu. Aber nicht ausschließlich. Die alte Bande, die sich Regierung Israels nennt, hat ihre eigenen engstirnigen Interessen, die wiederum nicht die Sicherheit und nicht das Wohlergehen der Israelis im Allgemeinen und der Geiseln im Besonderen sind.

Das ist der Grund, warum es meiner Meinung nach so lange gedauert hat.

Zain Raza:

Am 19. November erklärte der israelische Finanzminister Bezalel Smotric und ich zitiere ihn hier: „Ich begrüße die Initiative der freiwilligen Migration von Arabern aus dem Gazastreifen in Länder in aller Welt. Dies ist die richtige humanitäre Lösung für die Bewohner des Gazastreifens und der gesamten Region nach 75 Jahren der Flüchtlinge, der Armut und der Gefahr. Der Staat Israel wird die Existenz einer unabhängigen Entität im Gazastreifen nicht länger akzeptieren können.“

Was meinen Sie, was Israel angesichts dieser Aussage vorhat? Wohin werden 2,2 Millionen palästinensische Zivilisten übersiedeln?

Dr. Ofer Cassif:

Zu Beginn unserer Unterhaltung sprachen wir über meine Suspendierung. Übrigens wurde in der Zwischenzeit ein anderes Mitglied meiner Partei, der Kommunistischen Partei und Mitglied der Knesset, Aida Touma-Suleiman, meine Freundin, ebenfalls für zwei Monate suspendiert, wie ich, weil sie zu einer Feuerpause aufgerufen hatte, weil sie die israelische Regierung der Kriegsverbrechen und der Massaker beschuldigt hatte. Das zeigt, dass die Verfolgung viele sozusagen gewöhnliche Menschen, aber auch Mitglieder der Knesset betrifft. Dies ist ein Teil des diktatorischen Prozesses, den Israel durchläuft, ich erwähnte es, aber weil es in Israel völlig legitim ist, die Beseitigung der Palästinenser zu fordern. Minister und Mitglieder der Knesset und Rabbiner und natürlich wieder „das einfache Volk“ fordern die Beseitigung der Palästinenser in Gaza. Der stellvertretende Sprecher der Knesset hat sogar vor ein paar Tagen getwittert, er rufe dazu auf, Gaza niederzubrennen.

Das ist Nazi-Vokabular. Sie können tun, was sie wollen. Sie machen einfach weiter. Im öffentlichen Diskurs in Israel ist das legitim. Der Geheimdienst, auf den sie sich beziehen, hat ein Dokument veröffentlicht   – es ist deklassifiziert, wir können frei darüber sprechen   –, das vor ein paar Wochen um die Welt ging und einen detaillierten Plan zur Vertreibung, zum Transfer, zur ethnischen Säuberung des Gazastreifens von der einheimischen palästinensischen Bevölkerung enthält.

Und es geht weiter. Die Welt sagt dazu nichts. Erst vor ein paar Wochen rief ein Minister dazu auf, eine Atombombe auf Gaza abzuwerfen. Solche Äußerungen hört man von Ministern und Mitgliedern der Knesset, von Persönlichkeiten aus der Gesellschaft und von Prominenten sozusagen ununterbrochen. Ich habe also wirklich Angst, dass so etwas wahr werden könnte, wenn die internationale Gemeinschaft nicht eingreift und diesem Wahnsinn Einhalt gebietet. Es könnte passieren.

Schauen Sie sich das Geschehen an. Das Massaker in Gaza geht weiter. Nach den Informationen, die ich habe   – und ich möchte hier sehr vorsichtig sein, weil sie vielleicht nicht exakt sind, aber ich denke, das allgemeine Bild ist mehr oder weniger ähnlich   – gibt es derzeit etwa 14.000 Tote im Gazastreifen, die große Mehrheit, mehr als 70%, sind unschuldige Zivilisten. Mehr als 5000 Kinder. Den Menschen, die noch am Leben sind, geht das Wasser aus, wenn es überhaupt welches gibt, ebenso wie Lebensmittel und Medikamente. Nach dem, was vor ein paar Tagen veröffentlicht wurde, ist derzeit kein Krankenhaus in Betrieb. Alle Krankenhäuser im Gazastreifen wurden entweder vollständig bombardiert oder sind einfach außer Betrieb und können keine Behandlungen durchführen.

Bereits vor einigen Wochen hörten und lasen wir von Operationen, die im Schein von Mobiltelefonen stattfanden. Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wenn Israel also solche Verbrechen begehen kann, warum kann es dann nicht mit dem Plan der ethnischen Säuberung fortfahren?

Ich appelliere daher an die internationale Gemeinschaft und insbesondere an die deutsche Regierung, etwas dagegen zu unternehmen. Und ich muss betonen, dass es sich dabei in erster Linie um ein humanistisches Recht handelt. Ich betrachte mich als Humanist in dem Sinne, dass ich das Leben und das Wohlergehen aller Menschen als vorrangigen Wert betrachte. Ich interessiere mich nicht für die Herkunft eines Menschen, weder für sein Geschlecht noch für seine politischen Überzeugungen, seine Religion oder was auch immer oder seine Nationalität. Für mich ist der Mensch der entscheidende Wert, der höchste Wert.

Mein Appell ist also in erster Linie humanistisch und in erster Linie Ausdruck einer humanistischen Gesinnung. Aber es ist auch ein israelischer Appell und ein jüdischer Appell. Denn meiner Meinung nach liegt dies auch im Interesse der Israelis und Israels. Natürlich liegt dies auch im Interesse der Palästinenser und, wie ich eingangs sagte, ist es im Interesse aller, die sich als Humanisten verstehen.

Aber es ist auch im Interesse Israels. Jeder, der Israel vor der israelischen Regierung bewahren will, sollte alle Anstrengungen unternehmen, um nicht nur dieses schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Umsiedlung, zu verhindern, sondern auch um einen echten Waffenstillstand zu erreichen. Nicht nur eine Pause. Ein vollständiger Waffenstillstand. Ein Rückzug aller israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen und zum Wohle beider Völker die Einleitung eines echten Prozesses zur Beendigung der Besatzung und zum Erreichen eines gerechten Friedens.

Dies liegt im Interesse aller Beteiligten, der Palästinenser und der Israelis, der Araber und der Juden, aller! Unternehmen Sie etwas!

Zain Raza:

Wie schätzen Sie die langfristigen Auswirkungen auf Israel ein, sollte dieser Krieg fortgesetzt werden, denn laut Benjamin Netanyahu könnte dieser Krieg Jahre dauern. Was werden die Auswirkungen auf Israel sein   – innenpolitisch und international   – und wird der Staat Israel in der Lage sein, all die Schwierigkeiten zu überwinden, die damit verbunden sind?

Dr. Ofer Cassif:

Wir alle erinnern uns an die Ereignisse von 1982, als Israel in den Libanon einmarschierte und dort fast 20 Jahre lang blieb. Die Zahl der Todesopfer war entsetzlich   – natürlich unter den Libanesen, aber auch unter den israelischen Soldaten, die dort während der 20 Jahre fast täglich ums Leben kamen. Und schließlich musste sich Israel aus dem Libanon zurückziehen. Es spielt im Moment keine Rolle, ob es zu spät oder nicht genug war. Darauf beziehe ich mich nicht. Aber ich fürchte, dass dies ein ähnliches Szenario sein könnte.

Wir könnten in Gaza in ein ähnliches schreckliches Szenario geraten, denn es gibt dieses Klischee, wonach man zwar weiß, wie man in einen Krieg eintritt, aber nie weiß, wie man ihn wieder beendet. Vielleicht ist es ein Klischee, aber das macht es nicht zu einer unzutreffenden Aussage. Selbst wenn ich also aus der Sicht der israelischen Armee und der israelischen Regierung denke   – und natürlich bin ich Israeli und interessiere mich für das Wohlergehen meiner Landsleute, meines Staates und meines Landes   – so ist es abgesehen von den Verbrechen, die damit verbunden sind, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegenüber den Palästinensern im Gazastreifen, auch furchtbar gefährlich für Israel und die Israelis, jetzt auch wirtschaftlich.

Wir sehen bereits die Risse und sehen bereits die Krise, die Wirtschaftskrise, die auf uns zukommt und vor allem, wenn wir uns auf die wirtschaftliche Meinung dieser Regierung beziehen, die ebenfalls extrem rechtslastig ist. Diese Regierung ist nicht nur, wie ich schon sagte, eine faschistische Regierung, eine rechte Regierung gegenüber den Palästinensern oder den Bürgerrechten und so weiter oder in ihren antidemokratischen Aktivitäten. Sie ist auch extrem rechts, was die sozialen und wirtschaftlichen Fragen betrifft. Sie können sehen, dass insbesondere Smotrich als Finanzminister nichts von Wirtschaft versteht. Das sagen sogar die Fachleute im Ministerium. Aber lassen wir das mal beiseite.

Natürlich wird die Investition wirtschaftlich gesehen, die Investition in diesen Krieg, in die Rüstung und so weiter, ihren Preis haben. Es ist bereits der Fall. Wer bezahlt als erster? Wer wird den Preis dafür zahlen? Die schwächsten Klassen: Frauen, arabische Bürger, die sogenannte Peripherie, orientalische Juden, Arbeiter, die Arbeiterklasse, kleine Unternehmen. Sie werden den größten Preis dafür zahlen. Das wird den Siedlern nicht schaden. Es wird den Ultramillionären, Netanyahu und seiner Familie oder einigen seiner Minister, die unermesslich reich sind, nicht schaden. Es wird den Bedürftigsten großen Schaden zufügen.

Und dazu gehört, soweit ich mich erinnere, eine Million Flüchtlinge in Israel. Vergessen wir nicht, dass neben der schrecklichen Frage der Flüchtlinge im Gazastreifen und im Westjordanland angesichts des Massakers der Hamas und dessen Folgen etwa 200.000 Israelis jetzt Flüchtlinge sind, weil sie nicht in ihre Häuser und Heimatstädte oder Dörfer im Süden Israels zurückkehren können. Und auch im Norden gibt es Tausende und aber Tausende von Flüchtlingen, die von dort vertrieben wurden. Sie mussten aufgrund der Konfrontation mit der Hisbollah aus ihren Häusern fliehen. Wer wird dafür bezahlen?

Im Moment ist der Staat übrigens verschwunden. Der Staat ist regungslos. Der Haushalt und das Verhalten der Regierung kommen den Siedlern und den Ultraorthodoxen zugute. Aber diejenigen, die auf die Unterstützung des Staates angewiesen sind, insbesondere die Flüchtlinge, von denen ich spreche, bekommen nichts oder fast nichts. Solange der Krieg andauert werden sie zusätzlich zu den bereits angeführten Punkten keine Unterstützung vom Staat erhalten. Das wird zu einem totalen Zusammenbruch der israelischen Gesellschaft führen und ich möchte nicht, dass das passiert.

Ich werde sehr oft von den Rechten in Israel beschuldigt, anti-israelisch zu sein. Ich bin nicht anti-israelisch. Meines Erachtens hat sich unsere Meinung, die wir seit langem vertreten, als richtig erwiesen. Das ist die eine Sache. Und zweitens: Alles, was wir ablehnen oder unterstützen geschieht zum Wohle der Israelis und das ist Bestandteil der gegenwärtigen Situation. Die Regierung ist ein Feind des israelischen Staates und des israelischen Volkes, weil sie alles tut, um ihnen zu schaden, um die große Mehrheit der Israelis auf dem Altar des Fanatismus, des Messianismus und der Bigotterie zu opfern.

Zain Raza:

Zu meiner letzten Frage: Wir haben beobachtet, dass westliche Medien, vor allem in Deutschland, wenn sie Experten einladen, um über Gaza und Israel zu berichten, meist Stimmen zu Wort kommen lassen, die Israels Angriff auf Gaza unterstützen. Egal, ob es sich um Analysten, Politiker oder Angehörige der israelischen Armee handelt. Welche Erfahrungen haben sie erstens mit den Medien in Israel gemacht? Und zweitens: hat sie bisher irgendeine führende Medieninstitution aus Deutschland, den USA oder dem Vereinigten Königreich eingeladen, um ihre Sichtweise darzulegen?

Dr. Ofer Cassif:

Was die zweite Frage betrifft, so hat mich niemand von den sogenannten konventionellen Leitmedien eingeladen, in Europa meine ich. In den Vereinigten Staaten wurde ich interviewt. Ich wurde von CNN und Al Jazeera, BBC, Russia Today und einigen Podcasts und so weiter interviewt. Von anderen Leitmedien wurde ich nicht interviewt.

In Deutschland sind Sie der erste, der mich tatsächlich interviewt.

Und was die erste Frage betrifft, so habe ich schon einmal gesagt, dass ich dies vor allem für antidemokratisch halte. Denn eine wirklich demokratische Gesellschaft   – ich möchte nicht einmal Staat sagen. Ein Staat ist ein spezifischer Apparat. Die Gesellschaft ist etwas umfassenderes. Sie schließt den Staat als Apparat der Institutionen ein, aber sie schließt die Öffentlichkeit und mehr, sowie zivilgesellschaftliche Organisationen und so weiter ein. Eine demokratische Gesellschaft ist nicht nur eine Gesellschaft, in der der Staat, in dem es Wahlen gibt und natürlich Grundfreiheiten und so weiter. Aber es muss Pluralismus geben. Und Pluralismus bedeutet, dass es Debatten geben muss. Das ist meiner Meinung nach natürlich eine wichtige Angelegenheit und natürlich gibt es Spielräume oder Grenzen. Ich denke z.B., dass Rassisten oder Chauvinisten nicht die Möglichkeit haben sollten, ihre bösartigen kranken Ansichten zu äußern. Aber abgesehen davon denke ich, dass jeder das Recht auf freie Meinungsäußerung hat, aber auch das Recht, mit Alternativen in Berührung zu kommen. Wie können wir uns sonst wirklich ernsthaft und vernünftig eine eigene Meinung bilden? Wir sollen uns als rationale Wesen unsere Meinung auf der Grundlage von Wissen oder Informationen bilden und wenn ein Teil der Informationen blockiert wird, vor allem wenn sie vom Markt oder Staatsapparat blockiert werden, dann erreichen wir etwas, das eine deutsche Wissenschaftlerin mit dem Titel „Die Spirale des Schweigens“ veröffentlicht hat, Elisabeth Nölle Neumann. Ich glaube, es war in den frühen 70ern, als sie diesen Text veröffentlichte, in dem sie ausführlich erklärte, wie die Medien die öffentliche Meinung nicht nur widerspiegeln, sondern auch formen.

Es ist also antidemokratisch, was sie vorhin erwähnten und ich bin mir dessen bewusst. Ich bemängelte, dass sogar die Linken und die Linke z.B. für ein Verbot der BDS stimmten. Es spielt keine Rolle, was ich über BDS denke. Ich mag ihr zustimmen, ich mag sie ablehnen. Aber sie haben das Recht, sich zu äußern. Jetzt ist es illegal und die Linke hat das sogar unterstützt. Das ist eine Schande… Keine Schande, sondern viel mehr antidemokratisch und ungeheuerlich. Stimmen wie meine   – und es gibt Tausende solcher Stimmen in Israel und auch Tausende von Juden, nicht nur arabische Bürger   – und diese Stimmen sollten gehört werden. Sie müssen gehört werden.

Wir haben mit der Verfolgung von Menschen wie mir in Israel begonnen und wir enden mit der Verfolgung von Menschen wie wie mir in Deutschland. Und ich möchte das noch einmal sagen: Die deutsche Gesellschaft, insbesondere die deutsche Regierung, trägt eine große Schuld an dem Blutbad, den verbrecherischen Greueltaten und den Massakern, die während des Holocausts begangen wurden. Und sie sollten Schuldgefühle haben. Sie müssen dafür bezahlen. Aber das kann nicht auf Kosten anderer Menschen geschehen. Sie unterstützen nicht und sie drücken ihre Schuld nicht aus und sie büßen nicht dafür, diese Personen, indem sie ihren Opfern erlauben, andere zu Opfern zu machen. Das werden sie in der Zukunft ebenfalls bereuen. Sie haben jetzt die Chance, damit aufzuhören und das zu ändern.

Und ich betone das auch im Interesse der Israelis. Denn es ist kein Nullsummenspiel, bei dem Israel gewinnt und die Palästinenser verlieren oder umgekehrt. Nein! Es ist entweder eine Win-Win- oder eine Lose-Lose-Situation. Entweder gewinnen beide, Palästinenser und Israelis, oder beide verlieren. Und das ist es, was ich von der deutschen Regierung erwarte, unabhängig davon, wer in der Regierung sitzt, das sie das versteht und entsprechend handelt.

Zain Raza:

Dr. Ofer Cassif, israelischer Politiker und Mitglied der Knesset, vielen Dank für Ihre Zeit heute.

Dr. Ofer Cassif:

Vielen Dank und alles Gute.

Quelle: https://www.youtube.com/@acTVismMunich

Anhang

Nachtrag zu Israel-Hamas, die deutsche Verantwortung

Ich habe die Knesset vor zwei Stunden verlassen und werde zwei Monate lang nicht in der Lage sein, meine Gefühle, meine Meinung im Plenum oder in den Ausschüssen zu äußern, weil die Ethik-Kommission der Knesset beschlossen hat, mich daran zu hindern. In der einzigen Demokratie im Nahen Osten darf ein Parlamentarier, der fast 20 % der Bürger Israels vertritt, nicht das Wort ergreifen. Und warum ist das so? Weil ich Fragen über den Krieg aufgeworfen habe. Weil ich in erster Linie gegen den Krieg und die Verletzung von Zivilisten auf beiden Seiten bin. Wenn Sie sich erinnern: Als ich vor zwei Wochen protestierte und über die Kinder auf beiden Seiten der Grenze hier in Israel und in Gaza sprach, wurde mir im selben Parlament gesagt, dass es keine Gleichheit, keine Symmetrie zwischen den Kindern gibt und dass die Kinder in Gaza sich das selbst zuzuschreiben haben. Es sieht also so aus, als hätte diese Ethik-Kommission beschlossen, dass ich entweder genau das sage, was sie von mir hören wollen, oder dass ich schweige. Die Stimme, die Anti-Kriegs-Stimme, wird jetzt für zwei Monate zum Schweigen gebracht. Ich verspreche Ihnen, dass meine Werte und meine Meinung Gehör finden werden. Niemand kann mich zum Schweigen bringen, und ich werde weiter für den Frieden kämpfen.

 

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