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Letter to the Children of Gaza - Brief an die Kinder von Gaza

Von Chris Hedges, 8.11.2023 - übernommen von chrishedges.substack.com
10. November 2023

Kinder von Gaza - von Mr. Fish

(Red.)Hier ist unsere Übersetzung. Hedges verwendet beide Begriffe: Freiluftgefängnis und Konzentrationslager. Wir haben beide Begriffe wörtlich übersetzt. Diese ergreifende Schilderung muss man nicht kommentieren. Sie spricht für sich selbst. Seltsamerweise ist in Deutschland eine Diskussion darüber entstanden, ob das in dem Brief von Hedges verwendete Wort "Konzentrationslager" in Deutschland verwendet werden darf. Natürlich: in Deutschland ist es gesetzlich verboten, den Holocaust zu leugnen. Abgesehen davon, dass dieses Gesetz ein verfassungswidriger Eingriff in die Meinungsfreiheit ist, wird kein vernünftiger Mensch den Holocaust leugnen, der geschichtliche Tatsache ist (was man auch immer darunter verstehen will). Aber das Wort "Konzentrationslager" ist ein Begriff, der einen bestimmten Bedeutungsgehalt hat. Zuerst ist er für die Lager verwendet worden, die die Engländer im südlichen Afrika errichtet hatten. Niemand wird das bestreiten. Die Tatsache, dass die USA im Zweiten Weltkrieg die immigrierten Japaner in entsprechende Lager gesteckt hat, darf man inzwischen sogar in den USA benennen. Aber in Deutschland soll das "K"-Wort nicht zulässig sein? Das, was sich in Gaza abspielt, verstösst gegen jedes Menschen- und Völkerrecht. Wer das zutreffend bezeichnet, leugnet die Zustände in Auschwitz nicht. Und überhaupt: Wer sich zu Recht darüber empört, was das nationalsozialistische Deutschland mit dem Ghetto in Warschau gemacht hat, sollte sich genauso darüber empören, was das rassistisch-zionistische Israel in Gaza tut.(am)

 
Chris Hedges*

Liebes Kind. Es ist nach Mitternacht. Ich fliege mit Hunderten von Meilen pro Stunde in der Dunkelheit, Tausende von Metern über dem Atlantischen Ozean. Ich bin auf dem Weg nach Ägypten. Ich werde zur Grenze von Gaza in Rafah gehen. Ich fliege deinetwegen.

Du bist noch nie in einem Flugzeug gesessen. Du hast Gaza noch nie verlassen. Du kennst nur die dicht gedrängten Straßen und Gassen. Die Betonhütten. Du kennst nur die Sicherheitsbarrieren und die von Soldaten bewachten Zäune, die Gaza umgeben. Flugzeuge sind für dich furchterregend. Kampfjets. Angriffs-Hubschrauber. Drohnen. Sie kreisen über dir. Sie werfen Raketen und Bomben ab. Ohrenbetäubende Explosionen. Der Boden wackelt. Gebäude stürzen ein. Die Toten. Die Schreie. Die gedämpften Hilferufe unter den Trümmern. Es hört nicht auf. Tag und Nacht. Eingesperrt unter den Trümmerhaufen. Deine Spielkameraden. Deine Schulkameraden. Deine Nachbarn. Verschwunden in Sekunden. Man sieht die kreidebleichen Gesichter und die schlaffen Körper, wenn man sie ausgräbt. Ich bin ein Reporter. Es ist mein Job, das zu sehen. Du bist ein Kind. Du solltest das nie sehen.

Der Gestank des Todes. Verrottende Leichen unter zerbrochenem Beton. Du hältst den Atem an. Du bedeckst deinen Mund mit einem Tuch. Du gehst schneller. Deine Nachbarschaft ist ein Friedhof geworden. Alles, was dir vertraut war, ist verschwunden. Du starrst verblüfft. Du fragst dich, wo du bist.

Du hast Angst. Eine Explosion nach der anderen. Du weinst. Du klammerst dich an deine Mutter oder deinen Vater. Du hältst dir die Ohren zu. Du siehst das weiße Licht der Rakete und wartest auf die Explosion. Warum töten sie Kinder? Was hast du getan? Warum kann dich niemand beschützen? Wirst du verwundet werden? Wirst du ein Bein oder einen Arm verlieren? Wirst du blind werden oder im Rollstuhl sitzen? Warum wurdest du geboren? War es für etwas Gutes? Oder war es für das hier? Wirst du erwachsen werden? Wirst du glücklich sein? Wie wird es ohne deine Freunde sein? Wer wird als nächstes sterben? Deine Mutter? Dein Vater? Deine Brüder und Schwestern? Jemand, den du kennst, wird verletzt sein. Und zwar bald. Jemand, den du kennst, wird sterben. Bald.

Nachts liegst du im Dunkeln auf dem kalten Zementboden. Die Telefone sind abgeschaltet. Das Internet ist abgeschaltet. Du weißt nicht, was vor sich geht. Es gibt Lichtblitze. Es gibt Wellen von Erschütterungen. Es gibt Schreie. Es hört nicht auf.

Wenn dein Vater oder deine Mutter nach Nahrung oder Wasser suchen, wartest du. Dieses schreckliche Gefühl im Magen. Werden sie zurückkommen? Wirst du sie wiedersehen? Wird dein kleines Haus das nächste sein? Werden die Bomben dich finden? Sind dies deine letzten Momente auf Erden?

Du trinkst salziges, schmutziges Wasser. Es macht dich sehr krank. Dein Magen schmerzt. Du bist hungrig. Die Bäckereien sind zerstört. Es gibt kein Brot. Du isst eine Mahlzeit am Tag. Nudeln. Eine Salatgurke. Bald wird dir das wie ein Festmahl vorkommen.

Du spielst nicht mit deinem Fußball aus Lumpen. Du lässt nicht deinen Drachen aus alten Zeitungen steigen.

Du hast ausländische Reporter gesehen. Wir tragen kugelsichere Westen, auf denen das Wort PRESSE steht. Wir haben Helme. Wir haben Kameras. Wir fahren Jeeps. Wir erscheinen nach einem Bombenanschlag oder einer Schießerei. Wir sitzen lange beim Kaffee und reden mit den Erwachsenen. Dann verschwinden wir. Normalerweise interviewen wir keine Kinder. Aber ich habe schon Interviews gemacht, wenn Gruppen von euch um uns herumstanden. Sie haben gelacht und auf uns gezeigt. Sie baten uns, ein Foto von euch zu machen.

Ich bin in Gaza von Jets bombardiert worden. Ich wurde in anderen Kriegen bombardiert, in Kriegen, die stattfanden, bevor Du geboren worden bist. Auch ich hatte sehr, sehr viel Angst. Ich habe immer noch Träume davon. Wenn ich die Bilder von Gaza sehe, kommen diese Kriege mit der Kraft von Blitz und Donner zu mir zurück. Ich denke an dich.

Wir alle, die wir im Krieg waren, hassen den Krieg vor allem wegen dem, was er den Kindern antut.

Ich habe versucht, deine Geschichte zu erzählen. Ich habe versucht, der Welt zu sagen, dass Menschen sehr wütend werden, wenn man sie Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt grausam behandelt, wenn man ihnen Freiheit und Würde verweigert, wenn man sie demütigt und in einem Gefängnis unter freiem Himmel gefangen hält, wenn man sie tötet, als wären sie Bestien. Sie tun anderen an, was ihnen angetan wurde. Ich habe es immer und immer wieder gesagt. Ich habe es sieben Jahre lang gesagt. Nur wenige haben zugehört. Und jetzt das.

Es gibt sehr tapfere palästinensische Journalisten. Neununddreißig von ihnen wurden seit Beginn dieser Bombardierung getötet. Sie sind Helden. Genauso wie die Ärzte und Krankenschwestern in deinen Krankenhäusern. Genauso wie die Mitarbeiter der Vereinten Nationen. Neunundachtzig von ihnen sind gestorben. Das Gleiche gilt für die Fahrer der Krankenwagen und die Sanitäter. Ebenso wie die Rettungskräfte, die die Betonplatten mit ihren Händen anheben. Ebenso wie die Mütter und Väter, die euch vor den Bomben schützen.

Aber wir sind nicht dabei. Diesmal nicht. Wir kommen nicht rein. Wir sind ausgesperrt.

Reporter aus der ganzen Welt fahren zum Grenzübergang Rafah. Wir gehen dorthin, weil wir diesem Gemetzel nicht tatenlos zusehen können. Wir gehen dorthin, weil jeden Tag Hunderte von Menschen sterben, darunter 160 Kinder. Wir gehen, weil dieser Völkermord aufhören muss. Wir gehen, weil wir Kinder haben. Wie ihr. Kostbar. Unschuldig. Geliebt. Wir gehen, weil wir wollen, dass ihr lebt.

Ich hoffe, dass wir uns eines Tages treffen werden. Du wirst ein Erwachsener sein. Ich werde ein alter Mann sein, obwohl ich für dich schon sehr alt bin. In meinem Traum für dich werde ich dich frei, sicher und glücklich finden. Keiner wird versuchen, dich zu töten. Du wirst in Flugzeugen fliegen, die mit Menschen gefüllt sind, nicht mit Bomben. Du wirst nicht in einem Konzentrationslager gefangen sein. Du wirst die Welt sehen. Du wirst erwachsen werden und Kinder haben. Du wirst alt werden. Du wirst dich an dieses Leiden erinnern, aber du wirst wissen, dass es bedeutet, dass du anderen helfen musst, die leiden. Das ist meine Hoffnung. Mein Gebet.

Wir haben dich enttäuscht. Das ist die schreckliche Schuld, die wir tragen. Wir haben es versucht. Aber wir haben uns nicht genug Mühe gegeben. Wir werden nach Rafah gehen. Viele von uns. Reporter. Wir werden vor der Grenze nach Gaza stehen und protestieren. Wir werden schreiben und filmen. Das ist es, was wir tun. Es ist nicht viel. Aber es ist etwas. Wir werden deine Geschichte noch einmal erzählen.

Vielleicht reicht das aus, um uns das Recht zu verdienen, dich um Vergebung zu bitten.

Quelle: https://chrishedges.substack.com/p/letter-to-the-children-of-gaza?publication_id=778851&post_id=138698489&isFreemail=true&r=12utvo
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

https://api.substack.com/api/v1/audio/upload/a1741202-ea58-409e-b4a4-c7fe8353124c/src?download=true

*CHRIS HEDGES ist ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Autor und Journalist, der fünfzehn Jahre lang als Auslandskorrespondent für die New York Times tätig war. 

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