Eric Gujer hat recht: Der Westen kann die Welt nicht retten, so lange er die zwei grossen Schatten ausblendet, die er mit seiner Weltwirtschaftsordnung und dem energetisch-technologischen Machtapparat geschaffen hat. Der eine wurde bereits benannt: die gewaltige Ungleichentwicklung zwischen reichen und armen Staaten. Der zweite Schatten, eng mit dem ersten verbunden, ist noch gewaltiger und verheerender: Denn wir leben nicht im Anthropozän, sondern im Kapitalozän! Klimaerwärmung, sinkende Biodiversität, Umweltzerstörung, riesige Migrationsströme sind einer Weltwirtschaft geschuldet, die vom eingangs erwähnten Dreifaltigkeitsphantasma angetrieben wird: grenzenlose Freiheit, grenzenloses Wachstum, grenzenlose Ressourcen!
Ich will zum Schluss den Chefredaktor der NZZ ein wenig in Schutz nehmen: Die Liberalen sitzen nicht allein auf dem Karren, der in Richtung Abgrund rollt. Sämtliche Parteien - die Rechte, die Mitte samt der SP und den Grünen – alle hocken sie auf diesem Gefährt. Und unentwegt wird weiter in Richtung des grenzenlosen Weiterwachsens gesteuert, auch wenn dieser Wahnwitz parteispezifische Schattierungen annimmt. Wahnwitz, weil wir alle zusammen in einen Teufelskreis verstrickt sind. Aber vielleicht bringt uns ja der Versuch, einige der folgenden Fragen zu beantworten, zurück zur Raison?
Abschliessend jedoch zwei Fragen, für die ich die Antwort nur zu skizzieren kann. Um mehr handelt es sich nicht.
Angeregt von der Lektüre „Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome, 1972) beschäftigt mich als Altlinke seit Dekaden die Frage, ob der Kapitalismus letztlich Ausdruck einer Grenzenlosigkeit ist, die in allem Leben steckt. In der hellen Variante als Ewigkeitssehnsucht, in der dunklen als jene grenzenlose Gefrässigkeit, die, aufgerüstet mit unserem energetisch-technologische Machtapparat, zu vielfältigen Formen eines ökologischen und sozialen Kollaps führt.
Verständlich, wenn viele Menschen dem Nationalstaat misstrauen und jenem Nationalismus, der so viel Unheil anrichtete, weil er die eigenen Interessen über alles stellte, und dessen Überlegenheitsanspruch direkt zum Rassismus führt. Aber weil soziale und ökologische Nachhaltigkeit zusammengehören, können wir den behutsamen und achtsamen Umgang mit der menschlichen und mit der nicht-menschlichen Natur vermutlich n u r im Rahmen eines konkreten und begrenzten Territoriums lernen. Im Licht einer Verantwortung, welche die Voraussetzungen und Folgen von Produktion und Konsum in einem heimatlichen Territorium, an dessen Ressourcen und seinen Menschen, beobachten kann und verstehbar macht, so dass man daran lernen kann und die nötigen Anpassungen möglich werden. Werner Vontobel hat dazu, zusammen mit einem Autor aus dem Bolo-Bolo-Kreis, das kleine, aber kluge Buch Eine Ökonomie der kurzen Wege geschrieben.[1]
Im Kapitel zur Weltwirtschaftsordnung habe ich etwas ausgespart, das zum zweiten Schatten gehört: Neben den sozialen Schäden, welche die Exportproduktion in armen Ländern anrichtet, sind mit der „Vertikalen Integration“ auch Landraub, Monokulturen und massive ökologische Schädigungen verbunden. So konnten in den letzten 50 Jahren die Menschen, die in den globalen Kapitalzentren residierten, denjenigen in weit entfernten armen, aber friedlichen Regionen schier alles wegfressen. Oder aber sich z. B. sogar von einem Sozialamt einen Ferienflug nach Thailand finanzieren lassen. Nicht Neid steckt hinter dieser kritischen Bemerkung - im Gegenteil: Solidarität und Fürsorge sind unverzichtbar, aber nicht grenzenlos und phantasmagorisch, sondern machen Sinn im konkreten Nahraum. Gleichzeitig ist aber auch weltweite Solidarität wichtig und unverzichtbar. Am besten würde sie aber wohl so operationalisiert: Kein Mensch hat das Recht auf einen ökologischen Fussabdruck, der die biologisch produktive Fläche übersteigt, die ihm auf diesem Planeten für seinen Lebensstil und Lebensstandard zusteht.[2]
Zwar wird für manche Güter auch künftig der Welthandel nötig sein. Die entscheidenden Fragen aber lauten: Für welche Produkte ist das nötig? Und wie werden Produktion und Handel organisiert, damit sowohl in den Herkunftsländern als auch in den abnehmenden Gesellschaften das gewährleistet ist, was ich als „Horizontale Integration“ bezeichne. Vor Ort ist das unter drei Bedingungen erreichbar:
Grenzenlose Kapitalakkumulation und die grenzenlose Gefrässigkeit der Individuen: die beiden gehören zusammen! Sind es diese beiden Blinden Flecken, die wir uns mit der Weltwirtschaftsordnung und dem liberalen Wertekanon eingehandelt haben, die uns derzeit zum grenzenlosen Moralisieren verleiten?
Das wäre tragisch und, wie uns das Afghanistan zeigt, nicht nur desaströs, sondern sogar monströs!
1. In unserer Strukturverwöhnung messen wir die fremden Anderen nicht nur laufend und arrogant an unseren De-Luxe-Standards, sondern wir konstruieren sie vermessen als „Die Bösen“.
„Minderwertig“ ist nicht besser: Denn wo wäre da denn der Unterschied zum Rassismus, mit dem die Kolonialisten einst die vormonetäre Lebensweise erklärten und ihre zivilisatorische Mission rechtfertigten?
2. Strukturblind, ja strukturverleugnend versuchen wir den Menschen „vor Ort“ unsere Staats- und Rechtsverfassung aufzuzwingen, obwohl dort - für die Bevölkerungsmehrheit! - jede wirtschaftliche und soziale Basis fehlt.
3. Wir schicken im Namen der Frauen- und Menschenrechte unsere Armeen und Soldaten hin, um jene, die ausserhalb oder am Rande der Kapitalzirkulation überleben, zu disziplinieren und ihnen unsere Regeln zu verpassen: Regeln, mit denen die dortige Bevölkerungsmehrheit derzeit nicht überleben kann.
4. Aufgrund des hoch überlegenen Waffenarsenals entsteht ein ungleicher und äusserst unfairer Krieg!
5. Wer mit Bomben, Helikoptern, Fernleitsystemen, Drohnen gegen Männer kämpft, die barfuss gehen oder Flip-Flops tragen, die mit Gewehren und selbstgebastelten Bomben ausgerüstet sind, sät Terror.
6. So machen wir aus Tribalisten schliesslich Terroristen: Suizid-Attentäter, die nicht nur weit entfernt „vor Ort“ zuschlagen, sondern die diesen ungleichen Krieg auch nach Europa und in die USA tragen.
Kurz: So krumm, wie die Dinge derzeit laufen, machen wir uns mit unseren neokolonialen und imperialen Anstrengungen den organisierten und engagierten Teil der Menschen an den weltwirtschaftlichen Rändern – von Afghanistan über Mali und Kamerun bis nach Mozambik und Somalia – zum Feind: Sie werden uns, aus strukturellen Gründen, zu unguter Letzt bekämpfen. Nicht, weil unser De-Luxe-Lebensstandard für sie nicht begehrenswert wäre, sondern mit gutem Grund: Weil man mit westlichen Werten „vor Ort“ nicht überleben kann, so lange dort das energetisch-technologischen Instrumentarium, die wirtschaftlichen Strukturen für monetär finanzierte soziale Institutionen und eine ausreichende Zahl an Erwerbsarbeitsplätzen und Berufsrollen fehlen – all das, worüber wir in Zentren der liberalen Weltwirtschaftsordnung so reichlich und selbstherrlich verfügen.
Nein, weder die liberale Weltwirtschaft noch die liberale Wertordnung kann die Welt retten!
Die Frage aber, ob der Westen mit Blick auf die arme Welt überhaupt lernfähig wird, beschäftigt mich seit langem. Strukturorientiertes Denken ist eine Kunst: eine doppelte Herausforderung und eine zwiefache Zumutung!
Eine Aufklärung, die endlich die Schatten erkennt und benennt, welche die ungeheuerliche Entwicklung in Europa samt seiner Aufklärung für die restliche Welt gebracht hat? Eine Aufklärung, die fragt, wie die expandierende und weltweit immer ungleichere Kapitalakkumulation, die uns dank unserem energetisch-technologischen Machtapparat möglich wurde, gezähmt und umgestaltet werden kann? Und zwar so, dass das Leben auf diesem Planeten bewahrt werden kann und die Menschen sich weltweit miteinander – nämlich qua Teilhabe und Teilnahme und ohne die unsinnige Einwegmigration in die globalen Zentren - versöhnen können?
Die wichtigste Voraussetzung für die neue Aufklärung wär’s wohl, zu erkennen, dass zwar Moral unverzichtbar, aber so nötig wie schrötig ist. Denn die fremden Anderen haben nur selten „keine Moral“, sondern i. d. R. nur eine „andere Moral“. Und das aus guten Gründen – das haben mich die Paschtunen gelehrt. Doch um zu dieser Erkenntnis zu kommen, müssten wir lernen, mit der schlichten Tatsache umzugehen: Wir Menschen halten - weltweit und seit eh und je - sowohl die Moralität der jeweils eigenen Gesellschaft, sofern diese denn internalisiert wurde, als auch unsere höchst persönliche Moral narzisstisch und aggressiv besetzt .
Und grad das macht sie so unglaublich nett, all diese Menschen, Männer und Frauen, und gleichzeitig oft so anmassend arrogant und strukturblind!
[1] Frohofer, F., Vontobel, W.: Eine Ökonomie der kurzen Wege. Von der Marktwirtschaft zur Bedarfswirtschaft. Zürich 2021.
[2] Walter Schiesser, langjähriger Inlandredaktor der NZZ, hat als Umweltpionier bereits vor Dekaden in diese Richtung gedacht.
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