Ich erinnere mich: 2001 forderten Feministinnen über eine Mail-Kampagne den US-Präsidenten G. W. Bush dazu auf, Truppen nach Afghanistan zu schicken, um im weit entfernten Hindukusch die Frauen zu befreien. Machtpolitische Interessen, die es zweifellos ebenfalls gab, bei Seite gestellt: Mit einer Demokratie westlicher Prägung und den Frauenrechten hatten die Westmächte ihren Interventionskarren gewaltig überladen. Nicht etwa, weil beides nicht wünschbar wäre. Aber es war ein Projekt, das – aus strukturellen Gründen und aufgrund der zahlreichen Flecken im liberalen Wertekanon – zum Scheitern verurteilt war.
Warum sich die Idee der Demokratie zerschlagen hat, ist rasch erklärt: Die drei wichtigen Voraussetzungen dafür wurden bereits benannt – in Afghanistan war und ist bis heute keine einzige davon erfüllt. Zwar gab’s auch im traditionalen Setting demokratische Formen der Entscheidungsfindung und Beschlussfassung. Aber Frauen waren von der Loya Jirga[i] ausgeschlossen. In modernen Demokratien hingegen sind die Frauen den Männern gleichgestellt.
Unsere modernen Frauenrechte sowie die Geschlechtergleichstellung stellen jedoch auf beides ab: Zum einen auf die eingangs genannte Voraussetzung, die dem Westen seine Vormachtstellung in der Weltwirtschaftsordnung eingebracht hat: der energetisch-technologische Machtapparat, den er nach aussen zum Einsatz bringen konnte. Zum andern setzt die moderne Geschlechtergleichstellung aber gleichzeitig voraus, dass die energetisch-technologischen Hochleistungsinstrumente auch nach innen, also im eigenen Land, zum Einsatz kommen.
Am Beispiel Afghanistans kann ich zeigen, wie wirtschaftliche, soziale und politisch-rechtliche Faktoren zusammenhängen und damit gleichzeitig die blinden Flecken im liberalen Wertekanon illustrieren.
Als Kernaufgaben bezeichne ich jene vier Aufgabenbereiche, die in allen Gesellschaften verbindlich geregelt sind: Produktion und Konsum, Schutz und Sicherheit, Solidarität und Umverteilung,[ii] Erziehung und Ausbildung. Diese Kernaufgaben sind zwar weltweit verbindlich, aber kontextspezifisch organisiert. Im Kontrast zum westlichen Wohlfahrtsstaat, wo diese Kernaufgaben - bis auf die Hausfrauenarbeit - auf monetärer Basis organisiert sind, waren sie im traditional orientierten Afghanistan vormonetär organisiert und sind das grossteils bis heute geblieben.
Zuerst zu den Spezifika einer Gesellschaft mit modern bzw. monetär organisierten Kernaufgaben
In einem Land, das im Zentrum der liberalen Weltwirtschaftsordnung situiert ist, heisst das konkret:
1. In der Produktion ist Schwerarbeit entweder verschwunden oder sie wird - wie im Strassenbau, in der Bauwirtschaft oder Kehrichtabfuhr, auf Ozeanschiffen und in Container-Hafen - nach wie vor von starken Männern ausgeführt.
2. Schutz- und Sicherheitsaufgaben sind dank grossflächiger staatlicher Präsenz relativ ungefährlich: Mit effizienten Waffen ausgerüstet, zu zweit oder zu dritt unterwegs, stellen auch Polizistinnen ihren Mann. In extrem gefährlichen und kraftheischenden Situationen werden jedoch bis heute selten Frauen vorgeschickt. Das gilt nicht nur im Krieg, sondern auch in Gefängnissen, wenn dort ein gefährlicher Straftäter rebelliert.
3. Neben den alt bekannten Frauenberufen wie Sekretärin, Buchhalterin, Verkäuferin ist eine wachsende Zahl von Erwerbsarbeitsplätzen zu haben, die keine Spitzenmuskelkraft erfordern: im Ausbildungs-, Gesundheits-, Dienstleistungssektor und Sozialbereich. Es kommen unzählige Erwerbsmöglichkeiten dazu, die sich uns Frauen im Therapie-, Freizeit-, Reise-, Kunst- und Kultursektor bieten – ob staatlich oder privat finanziert, ist egal.
4. Die einst für Europa typische Hausfrauenrolle ist obsolet geworden. Schweizer Wohnungen und Häuser sind mit Elektrizität, fliessendem Wasser, Heizungen und unzähligen Haushaltgeräte ausgestattet: Kochherde, Waschmaschinen, Staubsauger, Geschirrspüler; Fertigmenüs und Büchsen sparen Arbeit und Zeit. Und last but not least ist: Was in Europa einst Hausfrau war, ist längst mit medizinischer Technologie wie Pillen, Tampons oder Binden ausgerüstet. D.h.: soziale Rollen sind weitestgehend nicht mehr biologisch vorgegeben! Aber erst wenn und wo Frauen die Mittel haben, ihre Biologie zu kontrollieren, können sie sich problemlos und verlässlich an den von ihnen gewünschten Arbeiten beteiligen.
Bravo, für „all das“ haben unsere Frauenbewegungen gekämpft! Dennoch einige kritische Fragen dazu:
Im Kontrast dazu die vormonetär organisierten Kernaufgaben am Beispiel von Afghanistan
Was mich aber irritiert? Dass so viele der modern ausgerüsteten Frauen kaum mehr erkennen, was es heisst, wenn die moderne Medizintechnologie fehlt, um die biologischen Prärogativen zu kontrollieren. Das Frauenleben v o r der Pille sah früher auch bei uns oft so aus: Im gebärfähigen Alter war frau entweder schwanger oder hatte einen Säugling oder ein Kleinkind zu stillen. Die Stillzeit nahm mindestens 2, oft 3, ja 4 Jahre in Anspruch – bis frau erneut schwanger wurde und der Zyklus von neuem begann: eine Art Dauerbeschäftigung![v] Für viele Frauen an den weltwirtschaftlichen Rändern ist das bis heute der Fall.
Ich bin sicher, Heinrich Popitz würde mir rechtgeben: Es gibt soziale Rollen, zu denen der Zugang beliebig war oder ist. Aber ohne dass bestimmte soziale Rollen verbindlich sind und entsprechend gelernt werden, gibt es keine Gesellschaft. Die sozialen Rollen, über die dafür gesorgt wird, dass die vier Kernaufgaben optimal erfüllt werden, heissen bei mir „Kernrollen“: Sie sorgen in allen Gesellschaften dafür, dass die einzelnen Gesellschaftsmitglieder ihre unelastischen Grundbedürfnisse verlässlich stillen können. Kernrollen sind deshalb in traditionalen und in modernen Gesellschaften verbindlich und für ihre jeweiligen InhaberInnen obligatorisch. Deshalb nun zum Kontrast:
In Afghanistan sind die Geschlechts-, Generationen- und Verwandtschaftsrollen verbindlich,
Konkret - die Primärrollen sind jene Kernrollen, die den Gesellschaftsmitgliedern formell vorgegeben sind. Formell meint: eindeutig, klar und rechtsverbindlich vorgeschrieben. Mit Ausnahmen gilt sogar die Pflicht zur Ehe und zur Elternschaft. Denn wer am Rande der Weltwirtschaft lebt und deshalb ohne AHV ist, wird im Alter von seinen Kindern versorgt. Nota bene ein wichtiger Grund dafür, das Homosexualität in manchen armen Staaten verpönt, ja sogar formell verboten ist.[vi] Und obwohl die Genderrollen - ohne die energetisch-technologische Apparatur, wie sie uns in den Kapitalzentren zur Verfügung steht - entsprechend dem weiblichen und männlichen biologischen Vermögen und Unvermögen ausgestaltet sind, gibt es bedeutsame Ausnahmen. In Albanien und im Irak z. B. gab’s die Institution der eidgebundenen Jungfrau. In Familien ohne männlichen Nachkommen bzw. Schutz konnte eine Frau die Männerrolle ausüben:[vii] Aufgaben ausser Haus übernehmen, sich in Männerkleidern mit den Männern versammeln und ein Gewehr tragen. Um das Rollengefüge nicht durcheinander zu bringen, war sie aber gezwungen, ein zölibatäres Leben zu führen. Auch in einer afghanischen Grenzregion habe ich, mitten unter den Männern, eine grosse Frau mit einem Gewehr entdeckt: „Yes this may happen among us“, wurde mir lakonisch erklärt.
Hierzulande sind die Sekundärrollen verbindlich und formell - eindeutig, klar und rechtsverbindlich – vorgegeben und jeweils für jene vorgeschrieben, die sie grad praktizieren. Mit Erwerbsarbeit und AHV „gesegnet“, sind die Individuen bei uns auch nicht mehr gezwungen, zu heiraten oder eigene Kinder haben. Zwar können wir unsere Berufsrolle mehr oder weniger frei wählen, müssen aber den Beruf oft über viele Jahre erlernen und eine staatlich anerkannte Prüfung ablegen. Nachher sind wir, wann immer wir beruflich tätig sind, auf die erworbenen Kenntnisse angewiesen und an Berufsregeln und Berufsethos gebunden. Jedoch nicht die westlichen Werte haben uns diese Freiheiten gebracht, sondern das Geld bzw. die Kapitalzirkulation, die energetisch-technologischen Apparaturen und, eng damit verbunden, die grossflächig vernetzte Sozialstruktur und hoch ausdifferenzierte Arbeitsteilung.
Mit Ausnahme von wenigen Völkern, in denen gejagt und gesammelt wird, haben alle Gesellschaften, wenn auch mehr oder weniger, ein hierarchisches Kernrollengefüge – denn das stabilisiert!
Männer haben i. d. R. (!) mehr Gewicht und mehr Energie und werden deshalb zur Übernahme jener Kernaufgaben verpflichtet, die gefährlich sind und Spitzenmuskelkraft erfordern. Die Welt ist in das Draussen und das Drinnen aufgeteilt: deshalb haben Männer im Aussenraum mehr zu sagen als Frauen. Auch die Generationenrollen sind hierarchisch organisiert: Die dortigen Alten haben i. d. R. mehr Wissen in Form von Erfahrung und deshalb auch mehr zu sagen als die Jungen und geniessen sogar den Respekt der Letzteren. Frauen haben als Mütter von zahlreichen Kindern eine relativ gute Position. Als Hauswirtschafterinnen haben sie das Sagen und üben, wenn sie älter sind, als Hausherrinnen Macht über die Grossfamilie und über all ihre Schwiegertöchter aus. Obwohl Afghanistan effektiv patriarchal ist und Frauen den Männern nach- und untergeordnet werden, üben sie als Mütter von Söhnen einen beachtlichen Einfluss auf die gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten der Männer im Grossverband und im Grossraum aus.[viii]
Unsere Berufsrollen sind sogar extrem hierarchisiert: Kopfarbeit und AkademikerInnen werden viel besser entlohnt und höher geachtet als Putzfrauen und Coiffeusen oder die banale männliche Hand- oder Muskelarbeit. Fragt sich allerdings, ob ein Professor der Altphilologie und die Professorin an der Kunstakademie systemrelevanter sind als ein Kehricht- oder Strassenarbeiter, eine Krankenschwester oder Volksschullehrerin. Dass wir während der Pandemie die Krankenschwestern beklatschen, war rührend. Aber ich bin überzeugt: Die Strukturverwöhnung, die wir hierzulande den Gebildeten und Hochausgebildeten - und zwar inzwischen unabhängig von deren Geschlecht - angedeihen lassen, hat nur noch wenig mit Systemrelevanz zu tun. Unsere Bildungshierarchie ist nur zu einem kleinen Teil funktional i. S. von überlebenswichtigen Kenntnissen und Praktiken. Weit mehr dient sie dazu, das Herrschaftssystem zu stabilisieren. From muscles to brains – von daher weht uns Frauen der Duft der grossen neuen Freiheiten und erwirken wir uns das Recht auf ein Platzhirschposition.
Das Kernrollen-Drama in Kürze: Während im armen Teil der Welt die Primärrollen noch verbindlich und obligatorisch sind, wurden im reichen Teil die monetär organisierten Berufs- und Erwerbsrollen zu den Kernrollen gemacht. Indes konnten hierzulande die Geschlechtsrollen aufgelöst werden. Zuerst von den Damen mit Brain – nota bene dank Hort und Krippe oder „notfalls“ einem Kindermädchen, später unterstützt von Schwulen, Lesben und all den Regenbogen-Queers. Aber auch für die Schweiz gilt, dass vorab jene sozialen Schichten an den traditionalen Geschlechtsrollen festhalten, die für den gewichtigen Teil ihres Einkommens nach wie vor auf die Muskelenergie und den Mut der Männer angewiesen sind. An den weltwirtschaftlichen Rändern aber habe auch ich gelernt: Sollte eines Tages unsere „Schöne neue Welt“, basierend auf der Kapitalzirkulation und einer Vielzahl an energetisch-technologischen Apparaten, zusammenbrechen, such’ ich mir rasch einen starken Tarzan.
[i] Das sind traditionelle Grossversammlungen der Stämme, die der Streitschlichtung und Konsensfindung dienten.
[ii] Die ersten drei Kernaufgaben sind darauf gerichtet, dass die Gesellschaftsmitglieder ihre unelastischen Grundbedürfnisse befriedigen können, bei der letzten Kernaufgabe handelt es sich um die Reproduktion - sowohl eine biologische als auch soziale Notwendigkeit.
[iii] Vgl. dazu: Morris, I.: Beute, Ernte, Öl. Wie Energiequellen Gesellschaften formen, München 2020. Der Titel zeigt jedoch, was durcheinandergerät: An die Stelle der Form, in der sich die Menschen die überlebenswichtige Energie zuführen, als Beute bei Jägern und Sammlern oder als Ernte bei den sesshaften Bauern, zaubert Morris plötzlich die Energie, die wir modernen Menschen dafür einsetzen, um zu Nahrungsmitteln zu kommen. Ein Bruch, für den er - als Liberaler - blind ist. Denn Beute und Ernte stellen nur oder primär auf menschliche Muskelkraft an, die Moderne hingegen primär auf Maschinen, die von künstlicher Energie angetrieben werden: Dampf, Elektrizität, Erdöl. Es wäre interessant zu fragen, welche Bedeutung jeweils der Männernmuskeln zukam, die i. d. R. zur grösseren Spitzenenergieleistungen fähig sind als wir Frauen.
[iv] Die westliche Geschichtsvergessenheit irritiert. Denn bevor Europas Staaten monetär basierte Solidarinstitutionen organisieren konnten, sorgten die Religion und Kirchen qua Barmherzigkeit für überfamiliale Solidarität. Interessant, dass mit Luther die Umorientierung hin zum Staat begann und das z.Z. der Bauernkriege und als für den im zunehmenden Fern- und Grosshandel notwendigen Geldbedarf in Silber- und Kupferminen geschürft wurde. So hat Luther nicht das Kapital und den Staat, aber die Bauern verraten.
[v] Ausnahmen waren manchmal Oberschichtsfrauen, die sich eine Amme leisten konnten.
[vi] Bei den Paschtunen sind aber Homosexuelle nicht verpönt, sondern als Barbiere oder Musiker oder verkleidet als Tänzerinnen tätig. Aber auch sie geniessen den Schutz der bewaffneten Männer.
[vii] Tobler Linder, V.: Wenn Frauen in Männerrollen steigen: Von der Geschlechter- zur Berufsrollenhierachie. In: Brander, S. u.a. (Hg.): Geschlechterdifferenz und Macht. Reflexion gesellschaftlicher. Reflexion gesellschaftlicher Prozesse. Freiburg Schweiz 2001: 187 –207.
[viii] Bei den traditional orientierten Paschtunen hatten Frauen wichtige Ausgleichsfunktionen: Sie konnten nämlich einen Krieg erzwingen oder aber Frieden stiften und organisieren. Während es den Männer in spezifischen Situationen vorgeschrieben war, ihrem Erzfeind zu verzeihen und ihn zu schonen, lag’s dann in der Macht einer Frau, ihn trotzdem, mit dem Gewehr ihres Gatten, zu töten.
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