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Putin, Prigoschin und das Managementprinzip: "Man muss mit den Steinen mauern, die man hat"

In den letzten Tagen wurde viel über die Enthüllung gesprochen, dass Wladimir Putin am 29. Juni, weniger als eine Woche nach der bewaffneten Meuterei der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin und 35 seiner hochrangigen Militärkommandeure zu einem dreistündigen Gespräch im Kreml empfangen hat.
Von Gilbert Doctorow 12.07.2023 - übernommen von gilbertdoctorow.com
12. Juli 2023

Wie kann das sein? Welchen Sinn hat das? Warum sollte Putin mit dem Mann sprechen, den er wenige Tage zuvor noch als Verräter bezeichnet hatte?

Wer sich diese Fragen stellt, hat in den letzten dreiundzwanzig Jahren nicht viel von Wladimir Putins "Menschenführung" mitbekommen. Alles folgt dem Prinzip, das in vielen großen Institutionen, sowohl in der Privatwirtschaft als auch im öffentlichen Dienst, praktiziert wird: Man mauert mit den Steinen, das man hat, und geht davon aus, dass die meisten Menschen, die für einen arbeiten, für etwas gut sind. Dieses Arbeitsprinzip habe ich während meiner vierjährigen Tätigkeit bei United Parcel Service um mich herum erlebt. Es ist sicherlich auch das vorherrschende Prinzip in den Streitkräften der Vereinigten Staaten.

Als Putin im Jahr 2000 an die Macht kam, hatte er ein großes Kontingent raffgieriger Oligarchen vor sich, die er zähmte, insbesondere indem er Michail Chodorkowskis anmaßende politische Ambitionen unterbrach und den Unruhestifter zu einem langen Aufenthalt hinter Gittern schickte. Nach ihrer Zähmung hielten sich die Raubritter aus der Politik heraus und verbrachten ihre Zeit damit, die von ihnen kontrollierten Wirtschaftsbereiche weiterzuentwickeln, auch wenn sie dabei ungebührliche Gewinne für sich selbst abschöpften.

Damals, im Jahr 2000, erbte Putin auch liberale Funktionäre von zweifelhafter Loyalität ihm gegenüber und gegenüber dem Land. Sie waren Genies in organisatorischen Fragen oder in der Finanzverwaltung, hatten aber oft diebische Neigungen. Ich denke dabei an Anatoli Tschubais. Er hatte die Kampagne zur Wiederwahl Boris Jelzins 1996 geleitet, die mit allen fairen und unfairen Mitteln gewonnen wurde. Später leitete er mehrere Staatsunternehmen, insbesondere im Bereich der Nanotechnologie, von wo er mit beiden Händen stahl. Aber die gleiche Untreue könnte man auch von Alexander Kudrin behaupten, der lange Zeit als russischer Finanzminister diente und von seinen westeuropäischen Kollegen über mehrere Jahre hinweg zum besten Finanzminister gewählt wurde. Kudrin war auch der sichtbarste politische Führer, der auf den kremlfeindlichen Straßendemonstrationen von Bolotnoje im Jahr 2011 sprach, die den Putin-Hasser Alexej Nawalny bekannt gemacht haben.

Sowohl Tschubais als auch Kudrin befinden sich jetzt im selbstgewählten Exil im Ausland, ebenso wie viele niedrigrangigere Liberale, die bis zum Beginn der militärischen Sonderoperation in der russischen Regierung oder in staatlichen Unternehmen tätig waren. Und eine Anklage wegen zweifelhafter Loyalität könnte sogar gegen German Gref erhoben werden, der in den letzten Jahren die vollständige Umwandlung der größten russischen Bank, Sber, in ein kundenorientiertes, hocheffizientes und technologisch fortschrittliches Institut beaufsichtigt hat. Gref bleibt auf seinem Posten, obwohl er einige Federn verloren hat, was die Sendezeit im staatlichen Fernsehen angeht. Bei seiner Entscheidung, weiterzumachen, könnte er sich mit der Gouverneurin der Zentralbank, Elvira Nabiullina, zusammentun, die ebenfalls eine entschiedene Verfechterin der liberalen, marktorientierten Wirtschaft ist, und das in einer Zeit, in der Russland die zentrale Kontrolle weiter ausbauen musste, um das Land für den Krieg fit zu machen.

Keiner dieser sehr fähigen, wenn auch zweifelhaften politischen und wirtschaftlichen Akteure der Putin-Jahre wurde ausgequetscht. Es wurde ihnen erlaubt, in kleinen Dosen Zwietracht zu säen und/oder zu stehlen, während sie eine Menge "Saft" zum Cocktail des wirtschaftlichen Erfolgs Russlands während der Putin-Jahre beitrugen.

Darüber hinaus gibt es viele prominente Mitglieder des russischen politischen Establishments, die auf die eine oder andere Weise schwerwiegende Mängel aufwiesen, die jedoch beibehalten und, soweit es gerechtfertigt war, zu immer größeren Verantwortlichsbereichen befördert wurden. Die Sprecherin des Föderationsrates, des Oberhauses der russischen Zweikammer-Legislative, Walentina Matwijenko, ist ein Paradebeispiel dafür. Man sieht sie oft im russischen Fernsehen, wenn sie ihre öffentlichen Funktionen wahrnimmt. Gestern war sie in Peking, wo sie vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu Gesprächen empfangen wurde. In der offiziellen Rangfolge ist Matwijenko nach Putin die zweitwichtigste politische Figur in der russischen Staatshierarchie.

Aber woher kommt Matwijenko?

Als ich 1994 und später in St. Petersburg lebte und arbeitete, sahen wir viel von Matwijenko. Sie war eine bekannte Trinkerin, die gelegentlich "unter Einfluss" in der Öffentlichkeit auftrat, und ihr Sohn war weithin für seine korrupten Praktiken bekannt, mit denen er ein Vermögen mit spekulativen Immobiliengeschäften machte, die durch die Position seiner Mutter ermöglicht wurden. Ich erinnere mich, dass Mutter und Sohn auf Parkbänken in Petersburg angeprangert wurden.

Nachdem ihre Kandidatur zur Wiederwahl als Bürgermeisterin der Stadt zurückgezogen und sie durch einen relativ unbekannten, vom Kreml favorisierten Kandidaten, einen gewissen Jakowlew, ersetzt worden war, kehrte sie nach Moskau zurück. Dort wurde sie ausgenüchtert und erhielt eine neue Chance auf Erfolg, die sie mit Elan wahrgenommen hat.

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Vor einigen Wochen habe ich in meinem ersten Kommentar zur Rebellion der Wagner-Gruppe darauf hingewiesen, dass es in der russischen Geschichte im Laufe der Jahrhunderte eine Reihe von Rebellionen gegeben hat, die der Wagner-Affäre ähnlicher waren als die "Revolution" vom Februar 1917, die Wladimir Putin in seiner ersten Fernsehansprache nach der Wiederherstellung der Ordnung beschworen hat. Eine dieser früheren Episoden war der Verrat, den der Hetman der Saporoger Kosaken, Iwan Mazepa, 1708-09 beging. Er war der Mann Peters des Großen vor Ort im Gebiet der heutigen Ukraine, wandte sich aber gegen den Zaren und schloss sich den Truppen des schwedischen Königs Karl XII. an, der sich damals in einem Kampf auf Leben und Tod mit Russland befand. Wie Prigoschin gehörte Mazepa zu den reichsten Menschen des Landes mit großem Grundbesitz, und wie Prigoschin rebellierte er, als er erkannte, dass die neuen Militärreformen, die Peter einführte, ihm als Freibeuter viel von seiner Macht nehmen würden. Mazepa war ein seltenes Beispiel dafür, dass sich Peter der Große in seinem Vertrauen in seine Untergebenen getäuscht hat. Ansonsten beförderte Peter im Laufe seiner Herrschaft viele ehrgeizige Männer aus sehr bescheidenen Verhältnissen in hohe und verantwortungsvolle Positionen. Einige waren Schurken, die ihre Macht missbrauchten, andere weniger, aber fast alle trugen mit ihrer überragenden Intelligenz und ihren Talenten zur Größe Russlands bei.

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Wir haben sehr wenig darüber gehört, was Wladimir Putin mit den Führern der Wagner-Gruppe bei ihrem Treffen im Kreml besprochen haben könnte. Seinem Pressesprecher Peskow zufolge haben diese Kommandeure alle dem Staat und Putin die Treue geschworen, und er hat Grundregeln für ihre Rückkehr in den aktiven Kampf im Rahmen der militärischen Sonderoperation festgelegt.

In den kommenden Wochen werden wir wohl mehr erfahren.

Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

 

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