«Politisch-strategischer Fehler von historischem Ausmaß»
Nach der NATO-Osterweiterung ab 1999 mit jetzt 30 Mitgliedern.
(Red.) Am 15. April 2022 hat Globalbridge.ch eine eigene Recherche mit der Headline «Die Mitverantwortung der USA und der NATO – vor der Osterweiterung der NATO wurde mehrfach gewarnt» publiziert, in der neun prominente Politiker und Politologen zitiert wurden. Jetzt hat ein ehemaliger Schweizer Botschafter Globalbridge.ch darauf aufmerksam gemacht, dass in dieser Liste der Warner eine eminent wichtige – vielleicht sogar die wichtigste – Warnung fehlt, die von 50 Prominenten aus den USA unterschrieben war, darunter von historisch so gewichtigen Leuten wie etwa Robert S. McNamara, der zu Zeiten des Vietnamkrieges unter Präsident John F. Kennedy und anschliessend unter Präsident Lyndon B. Johnson Verteidigungsminister war. Nachdem die Osterweiterung der NATO eine sehr wichtige Ursache – wenn auch nicht die einzige – des jetzigen Krieges in der Ukraine ist, sei dieser Aufruf vom Sommer 1997 hier wörtlich nachgedruckt. (cm)
«26. Juni 1997
Sehr geehrter Herr Präsident (Bill Clinton, Red.)
«Wir Unterzeichner sind der Auffassung, daß die gegenwärtigen, von den USA angeführten Bemühungen, die NATO auszuweiten, wie sie im Brennpunkt der jüngsten Gipfeltreffen von Helsinki und Paris standen, einen politisch-strategischen Fehler von historischem Ausmaß darstellen. Wir glauben, daß die NATO-Erweiterung die Sicherheit der Alliierten verringern und die europäische Stabilität aus folgenden Gründen gefährden wird:
– In Rußland wird die nach wie vor quer durch das gesamte politische Spektrum abgelehnte NATO-Erweiterung die nicht-demokratische Opposition stärken und gleichzeitig die Bemühungen derer unterlaufen, die Reformen und eine Kooperation mit dem Westen anstreben. Ferner hat die NATO-Erweiterung zur Folge, daß die Russen die gesamte nach dem Kalten Krieg gefundene Einigung wieder in Frage stellen könnten, und sie könnte auch zu verstärktem Widerstand gegen die START II- und START III-Verträge in der Duma führen. – In Europa wird die NATO-Erweiterung eine neue Demarkationslinie zwischen denen, die dabei, und denen die nicht dabei sind, ziehen. Dies bewirkt wachsende Instabilität und wird das Sicherheitsgefühl jener Länder, die nicht mit eingeschlossen werden, vermindern.
– Was die NATO selbst angeht, so wird die Erweiterung, deren Ausmaß, wie die Allianz schon angedeutet hat, offen bleibt, unweigerlich die Fähigkeit verringern, ihren primären Auftrag zu erfüllen. Auch impliziert die NATO-Erweiterung US-Sicherheitsgarantien für Länder mit ernsten Grenz- und Minderheitsproblemen sowie mit Regierungssystemen unterschiedlicher Grade demokratischer Entwicklung.
– In den Vereinigten Staaten wird die NATO-Erweiterung eine breite Debatte über die zwar noch unbekannten, doch bestimmt sehr hohen Kosten auslösen und das US-Bekenntnis zur Allianz in Frage stellen, das traditionell und mit Recht als ein Herzstück der amerikanischen Außenpolitik gilt.
Aufgrund dieser ernsthaften Einwände und da es keinerlei Grund für eine rasche Entscheidung gibt, schlagen wir mit Nachdruck vor, daß der Prozeß der NATO-Erweiterung suspendiert wird, während man nach Alternativen sucht. Zum Beispiel:
– ökonomische und politische Öffnung der Europäischen Union für Mittel- und Osteuropa.
– Entwicklung eines Programms zur Stärkung der „Partnerschaft für den Frieden“.
– Unterstützung eines kooperativen Verhältnisses zwischen der NATO und Rußland.
– Fortschreiten auf dem Weg des Rüstungsabbaus und der Transparenz, vor allem im Hinblick auf nukleare Waffen und Materialien, die hauptsächliche Bedrohung der US-Sicherheit und im Hinblick auf die konventionellen Streitkräfte in Europa.
Rußland stellt gegenwärtig keine Bedrohung für seine westlichen Nachbarn dar, die mittel- und osteuropäischen Länder sind nicht in Gefahr. Deshalb und wegen der oben angeführten Gründe glauben wir, daß eine NATO-Erweiterung weder notwendig noch wünschenswert ist, und daß diese politische Fehlentwicklung aufgehalten werden kann und aufgehalten werden sollte.»
Unterschrieben wurde dieser Aufruf von den folgenden 50 namhaften US-Politikern, -Politologen und damals aktuellen oder ehemaligen Militär-Angehörigen:
George Bunn (Center for International Security and Arms Control, Stanford University)
Robert Bowie (ehem. Leiter des politischen Planungsstabs und Berater im US-Außenministerium; ehem. leitender Beamter bei der C.I.A.)
Bill Bradley (US-Senator 1979-1997)
Prof. David Calleo (Leiter der europäischen Studien der Nitze School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University)
Botschafter Richard T. Davies (ehem. Botschafter in Polen 1972-1978; leitende Funktionen in der NATO und im US-Außenministerium)
Jonathan Dean (Botschafter a.D.; Leiter der US-Delegation bei den MBFR-Verhandlungen; stellv. US-Unterhändler beim Vier-Mächte-Abkommen über Berlin; Berater der Union of Concerned Scientists)
Prof. Paul Doty (John F. Kennedy School of Government, Harvard University)
Susan Eisenhower (Vorsitzende des Center for Political and Strategic Studies)
David M. Evans (ehem. Leitender Berater der Helsinki Kommission 1990-1995; Präsident der Integrated Strategies International)
David Fischer (Präsident des World Affairs Council of Northern California)
Raymond Garthoff (ehem. Botschafter in Bulgarien 1977-1979; Senior Fellow an der Brookings Institution)
Dr. Morton H. Halperin (ehem. Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsrats)
Owen Harries (Herausgeber von „The National Interest“)
Senator Gary Hart (US-Senator 1975-1987)
Arthur Hartman (ehem. Botschafter in der Sowjetunion 1981-1987)
Senator Mark Hatfield (US-Senator 1967-1997)
Prof. John P. Holdren (National Academy of Sciences, Committee on International Security and Arms Control; Harvard University)
Townsend Hoopes (ehem. Undersecretary der US-Luftwaffe)
Gordon Humphrey (US-Senator 1979-1991)
Fred Ikle (ehem. Leiter der Arms Control and Disarmament Agency/ACDA, in Samedan in der Schweiz geboren und in St. Gallen aufgewachsen)
Bennett Johnston (US-Senator 1972-1996)
Prof. Carl Kaysen (Wirtschaftswissenschaftler, Harvard University)
Spurgeon Keeny (ehem. stellv. ACDA-Leiter; Präsident der Arms Control Association)
James Leonard (ehem. stellv. ACDA-Leiter, ehem. stellv. UNO-Botschafter)
Dr. Edward Luttwak, (Senior Fellow am Center for Strategic and International Studies)
Prof. Michael Mandelbaum (Nitze School of Advanced International Studies, Johns Hopkins University)
Jack Matlock Jr. (ehem. Botschafter in der Sowjetunion 1987-1991)
C. William Maynes (ehem. Herausgeber der „Foreign Policy“)
Richard McCormack (ehem. Undersecretary of State for Economic Affairs 1989-1991, mit einem Doktorat «Magna cum Laude» von der Universität Freiburg, Schweiz, 1966)
David McGiffert (Assistant Secretary for International Security Affairs 1977-1981)
Robert S. McNamara (US-Verteidigungsminister 1961-1968; Präsident der Weltbank 1968-1991)
Jack Mendelsohn (ehem. leitender Beamter im Auswärtigen Dienst; stellv. Leiter der Arms Control Association)
Philip Merrill (ehem. Stellvertretender NATO-Generalsekretär)
Paul H. Nitze (ehem. Rüstungskontrollberater von Präsident Reagan; ehem. stellv. Verteidigungsminister)
Senator Sam Nunn (US Senator 1972-1996)
Herbert S. Okun (Botschafter in der DDR 1980-1983; Botschafter bei den Vereinten Nationen 1985-1989)
Prof. W. K. H. Panofsky (em. Professor, Stanford University)
Generalmajor a.D. Christian Patte (Direktor für Logistik im NATO Hauptquartier)
Prof. Richard Pipes (Direktor für Osteuropa- und Sowjetfragen beim Nationalen Sicherheitsrat)
Generalleutnant a.D. Robert E. Pursley (US Luftwaffe)
Professor George Rathjens (Massachusetts Institute of Technologie)
Stanley Resor (ehem. Heeresminister; Botschafter bei den MBFR-Verhandlungen)
John B. Rhinelander (ehem. Berater der amerikanischen SALT I-Delegation)
Vizeadmiral a.D. John J. Shanahan (Center for Defense Information)
Marshall Shulman (Prof. em. der Columbia University)
Dr. John Steinbruner (Senior Fellow und ehem. Direktor für außenpolitische Studien an der Brookings Institution)
Admiral a.D. Stansfield Turner (ehem. Direktor des C.I.A.)
Richard Viets (ehem. Botschafter in Tansania und Jordanien).
Paul Warnke (ehem. Außenpolitischer Berater unter Robert McNamara)
James D. Watkiens (ehemaliger Admiral der US-Navy)
Damit sich die Leserinnen und Leser der Plattform Globalbridge.ch eine Vorstellung machen können, welches politische Gewicht dieser Aufruf an den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton hatte, hat die Globalbridge.ch-Redaktion alle 50 Namen mit der Bio oder dem Nachruf dieser Persönlichkeiten verlinkt. Man kann also alle Namen anklicken, um genauere Informationen über diese Persönlichkeiten zu erhalten.
Zum Original dieses Aufrufs auf armscontrol.org.
Dieser Aufruf wurde damals in der August-Nummer der «Blätter für deutsche und internationale Politik» in deutscher Sprache publiziert. In dieser Publikation fehlen aber zwei der Unterzeichner und die Namen mehrer Unterzeichner sind falsch geschrieben, so zum Beispiel „Jack Madock“ statt richtig „Jack Matlock“ oder auch „Richard T. David“ statt richtig „Richard T. Davies“.
Quelle: https://globalbridge.ch/politisch-strategischer-fehler-von-historischem-ausmass/
Mit freundlicher Genehmigung von globalbridge.ch
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