Der imaginäre Krieg
(Bild zvg)
Jetzt haben wir eine. Nimmt man die von der Regierung beaufsichtigte «New York Times» als Leitfaden, ist das Ergebnis eine Variante dessen, was wir gesehen haben, als das Russiagate-Fiasko aus den Fugen geriet: Diejenigen, die sowohl Vorurteile als auch Zustimmung produzieren, schleichen durch die Seitentür hinaus.
Ich könnte Ihnen sagen, dass ich nicht beabsichtige, die «Times» bei dieser wilden Schikane herauszugreifen, aber ich tue es doch. Die einstmals, aber mittlerweile nicht mehr angesehene Zeitung ist nach wie vor einzigartig bösartig in ihren Täuschungen und Betrügereien, wenn sie den ahnungslosen Lesern die offizielle, aber imaginäre Version des Krieges aufzwingt.
1945 und 2022: Demilitarisierung und Denazifizierung
Wie sich die aufmerksamen Leser von Consortium News erinnern werden, sprach Wladimir Putin eindeutig, als er der Welt die Absichten Russlands bei Beginn seiner Intervention mitteilte. Diese waren zwei: Die russischen Streitkräfte gingen in die Ukraine, um sie zu «entmilitarisieren und zu entnazifizieren» – zwei begrenzte, definierte Ziele.
Ein aufmerksamer Leser dieser Kommentare wies kürzlich in einem Kommentar-Thread darauf hin, dass der russische Präsident einmal mehr bewiesen hat, dass er, was immer man auch von ihm halten mag, ein fokussierter Staatsmann mit einem ausgezeichneten Verständnis der Geschichte ist: Auf der Potsdamer Konferenz im Juli/August 1945 erklärten die Siegermächte UdSSR, USA und Grossbritannien ihre Nachkriegsziele in Deutschland als «die vier D’s». Diese waren Denazifizierung, Demilitarisierung, Demokratisierung und Dezentralisierung.
David Thompson, der mich auf diesen historischen Hinweis aufmerksam gemacht hat, verdient hier, erwähnt zu werden: «Putins Wiederholung der auf der Potsdamer Konferenz festgelegten Grundsätze der Denazifizierung und Demilitarisierung ist nicht nur eine altmodische Verbeugung vor der Geschichte. Er hat den Vereinigten Staaten und Grossbritannien ein Zeichen gesetzt, dass die 1945 in Potsdam getroffene Vereinbarung immer noch relevant und gültig ist …»
Eine gerechte und stabile Ordnung muss Sicherheitsinteressen aller Seiten dienen
Der russische Präsident, dessen Argumentation gegenüber dem Westen darin besteht, dass eine gerechte und stabile Ordnung in Europa den Sicherheitsinteressen aller Seiten dienen muss, hat lediglich die Ziele wiederholt, zu deren Verwirklichung sich das transatlantische Bündnis einst verpflichtet hatte. Mit anderen Worten, er wies auf die grobe Heuchelei dieses Bündnisses hin, das die ideologischen Nachfahren der deutschen Nazis aufrüstet.
Ich verweile bei diesem Thema, weil der imaginäre Krieg mit der völlig unverantwortlichen Falschdarstellung der Ziele der Russischen Föderation in der Ukraine durch das Biden-Regime und die Presse begann. Alles andere hat sich daraus ergeben.
Sie erinnern sich: Die russischen Streitkräfte wollten das ganze Land «erobern», das Kiewer Regime auslöschen, eine Marionettenregierung einsetzen und dann nach Polen, in die baltischen Staaten, nach Transnistrien und in die restliche Republik Moldau vorstossen, und wer weiss, was noch alles. Die Entnazifizierung, so können wir jetzt lesen, ist ein fauler Trick des Kremls.
Die nächste Ausgabe des Comics kam auf den Markt, nachdem sie in diesem Punkt glatt gelogen hatte. Russland scheitert an seinen vermeintlichen Zielen. Niedrige Moral, hohe Desertionsraten, schlecht ausgebildete Truppen, die nicht genug zu essen haben, logistische Fehler, miserable Artillerie, unzureichende Geschütze, inkompetente Offiziere: Die Russen waren auf eine Niederlage auf ukrainischem Boden gefasst.
Die Kehrseite der Medaille waren das Heldentum, der Mut und der Kampfeswille der ukrainischen Truppen, nicht zuletzt des Asow-Bataillons, die keine Neo-Nazis mehr waren. Die «Times», der «Guardian», die BBC und verschiedene andere Mainstream-Publikationen und -Sender hatten uns zuvor über diese ideologischen Fanatiker informiert. Das war damals, das ist heute.
Lauter erfundene Erzählungen
Das Problem war, dass es zu diesem Zeitpunkt keine Erfolge auf dem Schlachtfeld zu vermelden gab. Die Niederlagen hatten in der Tat begonnen. Etwa im Mai, als das Asow-Bataillon, so heldenhaft und demokratisch es auch sein mag, in Mariupol zur Kapitulation gezwungen wurde, war es Zeit für – das musste einfach sein – russische Greueltaten.
Wir hatten das Theater und die Entbindungsklinik in Mariupol, wir hatten das berüchtigte Gemetzel in Butscha, einem Vorort von Kiew; verschiedene andere sind gefolgt. Was genau in diesen Fällen geschah, wurde nie von glaubwürdigen, unparteiischen Ermittlern festgestellt; zahlreiche Beweise dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte die Verantwortung tragen, werden von vornherein abgetan. Aber wer braucht schon Untersuchungen und Beweise, wenn die brutalen, kriminellen, wahllos rücksichtslosen Rrrrussen schuldig sein müssen, wenn der imaginäre Krieg weitergehen soll?
Meine unangefochtenen Favoriten in dieser Reihe stammen von CNN, das in diesem Frühjahr ausführlich über Behauptungen – natürlich ukrainische Behauptungen – berichtete, dass russische Soldaten junge Mädchen und Jungen bis hin zu Säuglingen im Alter von wenigen Monaten vergewaltigen würden.1
Der Sender liess diese Untersuchung abrupt fallen, nachdem die hochrangige ukrainische Beamtin, die diese Anschuldigungen verbreitete, ihres Amtes enthoben wurde, weil die Anschuldigungen erfunden sind.2 Ein kluger Schachzug von CNN, denke ich: Propaganda muss nicht sehr subtil sein, wie die Geschichte zeigt, aber sie hat ihre Grenzen.
Kurz nachdem die Erzählung von den Greueltaten gereift war, begann das Thema «Die Russen stehlen ukrainisches Getreide». Die BBC hat dazu eine besonders schöne Darstellung geliefert. Schauen Sie sich diese Video- und Textpräsentation an und sagen Sie mir, ob es nicht das Niedlichste ist, was Sie je gesehen haben, mit so vielen Löchern wie die Spitzengardinen meiner irischen Grossmutter.3
Aber zu diesem Zeitpunkt gab es Probleme. Die russischen Streitkräfte mit ihren Desertionen, veralteten Waffen und dummen Generälen nahmen in der Ostukraine eine Stadt nach der anderen ein. Das waren – und das ist das Haar in der Suppe – keine imaginären Siege.
Raus mit dem «Krieg läuft gut»-Thema und rein mit dem wahllosen Einsatz von Artillerie durch die brutalen Russen. Das war eine «primitive Strategie», wollte uns die «Times» wissen lassen. In der Schrecklichkeit des Krieges beschiesst man eine feindliche Stellung nicht, bevor man sie einnimmt. Mittelalterlich.
In letzter Zeit gibt es ein weiteres Problem für die Beschwörer des imaginären Krieges. Das ist die Anzahl der Toten. Die Menschenrechtsbeobachtungsmission der Vereinten Nationen meldete, dass die Anzahl der zivilen Todesopfer Anfang Mai bei über 3380 lag und sich im Juni auf 4509 erhöht hat, während 3680 Zivilisten verletzt wurden. (Und in einem Krieg schiessen und töten beide Seiten.)
Verflucht noch mal, riefen sie auf der Eighth Avenue. Das ist in diesem imaginären Krieg bei weitem nicht genug. In ihrem verzweifelten Bemühen um eine grausam hohe Anzahl von Toten veröffentlichte die «Times» am 18. Juni «Tod in der Ukraine: Ein Sonderbericht»4. Was für eine Lektüre. Der Bericht enthält nichts als Andeutungen und bedeutungslose Mutmassungen. Aber der imaginäre Krieg muss weitergehen.
Der «Sonderbericht» der «Times» – dum-da-da-dum – stützt sich auf Phrasen wie «Zeugenaussagen und andere Beweise» und «Tausende von mutmasslichen Toten». Die Beweise stammen übrigens fast ausschliesslich von ukrainischen Offiziellen – wie auch ein übermässiger Teil der von der «Times» veröffentlichten Informationen.
Es gibt ein schönes Zitat: «Menschen werden wahllos oder plötzlich oder ohne ersichtlichen Grund getötet.» Wow! Ist das verdammenswert oder nicht?
Aber ein anderes Problem. Diese Beobachtung stammt von einem Richard Kohn, der an der Universität von North Carolina emeritiert ist. Ich hoffe, der Professor hat einen schönen Sommer in Chapel Hill.
Ende Juni fiel – oder stieg auf, je nach Sichtweise – Sievierodonetsk und kurz darauf auch Lyssytschansk und die gesamte Provinz Luhansk. Jetzt kommen hier und da die Beichtgeschichten. Die ukrainischen Streitkräfte sind so verwirrt, dass sie sich gegenseitig beschiessen, lesen wir. Sie können ihre Funkgeräte nicht bedienen, und – eine geschickte Kehrtwendung – ihnen gehen Nahrung, Munition und Moral aus. Unausgebildete Soldaten, die sich zum Patrouillieren in ihren Vierteln gemeldet haben, verlassen die Frontlinien.
Realitätsverweigerer
Es gibt die Verweigerer. Die «Times» berichtete letzte Woche, dass die Ukrainer, die in Luhansk am Ende sind, eine Gegenoffensive im Süden planen, um verlorenes Gebiet zurückzuerobern. Wir alle brauchen unsere Träume, nehme ich an.
Zur Überraschung vieler veröffentlichte Patrick Lang, der normalerweise ein scharfsinniger Beobachter militärischer Angelegenheiten ist, am vergangenen Freitag auf seinem Turcopolier den Artikel «Unfähig, sogar seine eigenen Panzer zu reparieren, ist Russlands Demütigung nun komplett».5 Der pensionierte Oberst prophezeit den Russen «eine plötzliche Wende des Schicksals». Nein, ich halte nicht den Atem an.
Haben Sie genug von diesem imaginären Krieg? Ich schon. Ich lese diesen Schrott täglich als berufliche Verpflichtung. Einiges davon finde ich amüsant, aber im grossen und ganzen macht es mich krank, wenn ich daran denke, was die amerikanische Presse sich selbst und ihren Lesern antut.
Für das Protokoll: Es ist schwer zu sagen, was genau auf den tragischen Kriegsschauplätzen der Ukraine passiert. Wie schon früher an dieser Stelle erwähnt, gibt es nur sehr wenige Berichte von professionellen, wirklich neutralen Korrespondenten.6 Aber ich stelle hier meine Vermutung an, und mehr ist es nicht.
Dieser Krieg hat sich mehr oder weniger unaufhaltsam in eine Richtung entwickelt: Im wirklichen Krieg sind die Ukrainer von Anfang an auf einem langsamen Marsch in die Niederlage gewesen. Sie sind zu korrupt, zu sehr in ihrer fanatischen Russophobie gefangen, um eine wirksame Truppe zu organisieren oder auch nur den Überblick zu behalten.
Es handelt sich nicht um einen gnadenlosen Zermürbungskrieg, wie man uns glauben machen will. Er geht langsam voran, weil die russischen Streitkräfte darauf bedacht zu sein scheinen, die Anzahl der Opfer zu begrenzen – ihre eigenen und die der ukrainischen Zivilisten. Ich habe mehr Vertrauen in die Zahlen der Uno als in diesen dümmlichen, nichtssagenden «Sonderbericht», den die «Times» gerade veröffentlicht hat.
Ich weiss nicht, warum sich die russischen Streitkräfte zu Beginn des Konflikts von Norden her den Aussenbezirken Kiews näherten und sich dann zurückzogen, aber es gibt keinen Hinweis darauf, dass sie die Hauptstadt einnehmen wollten. Es gab zwar Gefechte, aber sie wurden sicher nicht «geschlagen». Das ist blanker Unsinn.
Ich erwarte eine gründliche Untersuchung – die jedoch unwahrscheinlich ist – der Greueltaten, die mit Sicherheit stattgefunden haben, ohne dass es bisher einen schlüssigen Beleg dafür gibt, wer die Schuldigen sind.
Avril Haines, die Direktorin des nationalen Nachrichtendienstes, bemerkte kürzlich, dass Russland nach wie vor das Ziel verfolgt, den grössten Teil der Ukraine einzunehmen.7 In einer Rede Ende Juni in Aschgabat, der Hauptstadt Turkmenistans, wirkte Putin auffallend entspannt und versicherte: «Alles läuft nach Plan. Es hat sich nichts geändert.» Das Ziel sei nach wie vor, «den Donbass zu befreien, diese Menschen zu schützen und Bedingungen zu schaffen, die die Sicherheit Russlands selbst garantieren. Das ist alles.»8
Wenn man diese beiden Aussagen nebeneinanderstellt, gibt es weitaus mehr Beweise für Putin als für Haines.
Am Ende steht die Niederlage
Ob absichtlich oder nicht – und ich habe oft den Eindruck, dass die «Times» die Tragweite ihrer Veröffentlichungen nicht begreift –, die Zeitung veröffentlichte am Sonntag einen Artikel mit der Überschrift «Die Ukraine und der Wettstreit des globalen Durchhaltevermögens»9. Der Ausgang dieses Konflikts hänge nun davon ab, «ob die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten ihr militärisches, politisches und finanzielles Engagement aufrechterhalten können, um Russland zu stoppen».
Kann es sein, dass sie unten in der Eighth Avenue nicht merken, dass sie die Ukraine gerade als einen «hoffnungslosen Fall» bezeichnet haben? Wissen sie, dass sie gerade verkündet haben, dass der imaginäre Krieg, den sie in den letzten vier Monaten geführt haben, in einer Niederlage endet, weil es in der Ukraine niemanden gibt, der ihn gewinnen kann? •
Quelle: https://consortiumnews.com/2022/07/13/patrick-lawrence-the-imaginary-war/ vom 13.7.2022
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein jüngstes Buch ist «Time No Longer: Amerikaner nach dem amerikanischen Jahrhundert». Auf Twitter findet man ihn bei @thefloutist. Seine Webseite lautet Patrick Lawrence.com.
** Marvel Comics (eigentlich Marvel Entertainment, LLC) ist ein US-amerikanischer Comicverlag mit Sitz in New York. Er zählt neben DC Comics zu den weltweit grössten Verlagen dieses Genres.
1 Drei solche Muster finden Sie hier: https://www.cnn.com/2022/04/22/europe/ukraine-sexual-violence-allegations-russia-cmd-intl/index.html; https://www.cnn.com/2022/04/27/europe/ukraine-kherson-russia-rape-intl/index.html; https://www.cnn.com/2022/05/09/europe/ukraine-russian-soldiers-brovary-rape-victims/index.html
2 https://www.newsweek.com/lyudmila-denisova-ukraine-commissioner-human-rights-removed-russian-sexual-assault-claims-1711680
3 https://www.bbc.com/news/61790625
4 https://www.nytimes.com/live/2022/06/18/world/ukraine-russia-news-deaths
5 https://turcopolier.com/unable-to-even-fix-its-own-tanks-russias-humiliation-is-now-complete/#comment-207445
6 https://consortiumnews.com/2022/04/05/patrick-lawrence-the-us-bubble-of-pretend/
7 https://www.bbc.com/news/world-europe-61990495
8 https://www.rt.com/russia/558109-putin-ukraine-nato-goals/
9 https://www.nytimes.com/2022/07/09/us/politics/ukraine-strategy-biden.html
Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-16-26-juli-2022/der-imaginaere-krieg
Mit freundlicher Genehmigung von Zeit-Fragen
Weitere Beiträge in dieser Kategorie
- Karin Leukefeld: Syrien in Trümmern – und was die Medien verschweigen
- Pepe Escobar: Syriens post-mortem: Terror, Besatzung und Palästina
- Doctorow: Entwarnung - „No Nuclear War“: 7. Dezember im National Press Club
- Peter Hänseler: Trump droht BRICS – grundlos. Diplomatie geht anders.
- Pepe Escobar: Die Syrien-Tragödie und der neue Omni-Krieg
- Sergei Ryabkov mit Fred Pleidgen auf CNN
- Erdogans Idlib-Schock wirft Schatten auf „Kursk“
- Glenn Diesen, Alastair Crooke, Alexander Mercouris: Verzweifelte Eskalationen im Nahen Osten und in der Ukraine
- Pepe Escobar: Das Syrien-Rätsel: Wie es zum ersten BRICS-Krieg werden könnte
- Russland lädt deutsche Fachkräfte ein
- Tulsi Gabbard wagt die Auseinandersetzung mit dem „Deep State“
- Das Europäische Parlament dreht durch
- Alastair Crooke: Der lange Krieg zur Bestätigung der Vorherrschaft des Westens und Israels verändert seine Form
- Doctorow: Hände hoch! Schwarzer Humor dominiert die neueste Folge von „Sonntagabend mit Wladimir Solowjow“
- Die freundliche Seite der Oreschnik: Das Ende der Atomwaffen?
- Trump könnte in der Ukraine noch vor China in die Oreschnik-Falle tappen
- Wir können alle aufatmen: Die Russen werden Kiew oder ein NATO-Land vorerst nicht angreifen
- Trumpwahl: Alarmstufe rot
- Bhadrakumar: Ein entscheidender Moment im Ukraine-Krieg
- Die Botschaft der "Haselnuss" an die Ukraine und NATO
- Putin setzt die NATO schachmatt – Grund zur Hoffnung?
- Wladimir Putins Dekret über die neue Nuklearwaffendoktrin der Russischen Föderation, 19. November 2024
- Rede im O-Ton: Putin kündigt Angriffe auf Länder an, die Kiew mit ihren Waffen auf Ziele in Russland erlauben
- Key European NATO Bases in Reach of Russia's Oreshnik Hypersonic Missile