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Egon Krenz: Die Protestbewegung in der DDR von 1989 wollte keine deutsche Einheit

War die deutsche Einheit von den Widerstandskämpfern in der DDR wirklich gewollt? Egon Krenz sagt „Nein“. Ein Gastbeitrag.
Von Egon Krenz 7. Oktober 2023 - übernommen von berliner-zeitung.de
07. Oktober 2023

4. November 1989: Protest gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, vor dem Palast der Republik. 
 4. November 1989: Protest gegen Gewalt und für verfassungsmäßige Rechte, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, vor dem Palast der Republik.

Zum Tag der Deutschen Einheit wurde in Reden und Interviews viel vom Respekt vor DDR-Biografien gesprochen. Das ist lobenswert, und es ist zu hoffen, dass dies endlich in der praktischen Politik verwirklicht wird.

Geschichtsfälschung ist es aber, wenn gleichzeitig behauptet wird, die Leistungen der DDR-Bürger seien trotz des DDR-Regimes vollbracht worden. Richtig ist vielmehr, dass vieles, worin die DDR der Bundesrepublik überlegen war, wie beispielsweise die Gleichberechtigung der Frau, die Förderung der Jugend, das Bildungswesen, die Kinderbetreuung und manches mehr, überhaupt nur unter DDR-Bedingungen möglich war.

Geschichtsfälschung ist es auch, wenn die Herbst-Demonstrationen in Leipzig und anderen Städten der DDR mit der deutschen Einheit in Verbindung gebracht werden. Der Herbst 1989 war kein Vorspiel für den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik.

Dazu einige Fakten, die offensichtlich unterschlagen werden:

·     Der Aufruf der „Leipziger Sechs“ wird als Appell zu einer Freiheitsbewegung ausgelegt, die man am liebsten in der Tradition der Revolutionen von 1848 und 1918 sieht. Das gibt der Text aber nicht her.

Am 9. Oktober 1989 wurden keinerlei Forderungen nach Abschaffung der DDR oder der Vereinigung mit der Bundesrepublik erhoben. Nicht einmal der Rücktritt der Regierung wurde verlangt. Der Dirigent Kurt Masur, der Theologe Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meier, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel hatten die Bevölkerung zur Besonnenheit aufgerufen. Es ist nützlich, sich des Originaltextes zu erinnern:

Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird. Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“

·     Wolfgang Ullmann von der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt“ wurde gefragt: „In der Frage der Souveränität zieht die Opposition mit der SED an einem Strang?“ Der Kirchenhistoriker antwortete: „Ja, ich schäme mich nicht, das zu sagen … Im Übrigen gehöre ich zu den Leuten, die gar kein Hehl daraus machen, dass sie sich in Bezug auf die antifaschistische Grundentscheidung immer an der Seite der Kommunisten auch in unserem Land gewusst haben.“ (Quelle: Interview mit Wolfgang Ullmann, taz vom 18. November 1989.)

·     Am 24. Oktober 1989 schrieben die Pfarrer Schorlemmer und Eppelmann einen Brief an mich, in dem es heißt: „Uns geht es um die Entwicklung von Demokratie und Sozialismus in unserem Land.“

Auf der großen Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz forderte kein einziger Redner die deutsche Einheit. Der 4. November sei der Versuch gewesen, bemerkte Friedrich Schorlemmer, eine demokratisierte DDR zu schaffen. Es ging an diesem Tag um Pressefreiheit, um Reisefreiheit, um freie Wahlen   – nur um eines ging es nicht an diesem 4. November: um die deutsche Einheit. „Die stand überhaupt nicht auf der Agenda“, erinnert sich Schorlemmer. „Wir wollten ein anderes Land aufbauen. Wir wollten eine grundlegende Veränderung der DDR.“

·     Die deutsche Zweistaatlichkeit wollten selbst tonangebende Vertreter der DDR-Opposition nicht verändern. Bärbel Bohley zum Beispiel äußerte sich in einem Interview mit der französischen Zeitung Le Figaro über Wiedervereinigungsgedanken: „Nein. Das ist ein Thema für Wahlkampagnen in Westdeutschland. Nach vierzig Jahren gibt es zwei verschiedene Gesellschaften. Die westdeutsche Lebensweise ist uns ganz und gar fremd [...]. Was die BRD will, ist eine Vereinigung, bei der sie ihr Modell durchsetzt. Die Ostdeutschen wollen sich aber nicht 40 Jahre ihrer Geschichte entledigen.“

·     Die Vertrauensleute des Deutschen Theaters Berlin wandten sich in einem Brief an Bundeskanzler Kohl, in dem es hieß: „Mit zunehmender Verärgerung beobachten wir Ihren Einsatz für Demokratie in der DDR, hören Ihren Ruf nach freien Wahlen in unserem Land, von denen Sie die wirtschaftliche Zusammenarbeit abhängig machen wollen. Das Volk der DDR hat seine Reformen selbst erkämpft und wird es auch künftig tun. In dem hart geführten Dialog mit unserer Regierung und der SED benötigen wir keine politische Schützenhilfe Ihrer Regierung und Ihrer Partei. [...] Wir haben nichts dagegen, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, für freie Wahlen auf die Straße gehen, aber wir wollen Sie nicht unter den Trittbrettfahrern unserer Reformbewegung sehen. [...] Was sollen das außerdem für freie Wahlen sein, die mit dem Geld der Bundesrepublik erkauft werden?“ (Quelle: Neues Deutschland vom 24. November 1989.)

Bundespräsident Steinmeier sagte vor einiger Zeit, die Geschichte wäre anders verlaufen, hätte nicht Gorbatschow die SED-Führung zur Zurückhaltung gemahnt. Eine solche Aussage unterstellt, dass die DDR-Führung entschlossen gewesen wäre, Gewalt einzusetzen. Die Wahrheit lautet: Gorbatschow hat weder explizit noch implizit die SED-Führung zur Zurückhaltung ermahnt. Dies war auch nicht nötig. Die Entscheidung zur Gewaltlosigkeit im Herbst 1989 wurde allein in Berlin, also von der DDR-Führung, im vollen Bewusstsein ihrer Verantwortung getroffen. Es geht hier nicht um Wortklauberei, sondern um geschichtliche Vorgänge und deren Deutung. Im Weiteren natürlich auch um das Urteil, welches nachfolgende Generationen über historische Prozesse in der DDR fällen werden. Wir haben den Waffeneinsatz im Herbst 1989 verboten, weil politische Differenzen mit Gewalt nicht gelöst werden können. Umso bestürzter sehe ich, wie sich Deutschland Stück für Stück in eine akute Kriegsgefahr hineinziehen lässt.

·     Die deutsche Einheit wäre ohne die Sowjetunion nie zustande gekommen. Dass wir den 33. Jahrestag mit einem Verhältnis zu Russland begehen, wie es schlechter nicht sein kann, empfinde ich als Tragödie. Die deutsche Außenministerin hat verantwortungslos davon gesprochen, dass der Westen Krieg gegen Russland führe und das Ziel darin bestünde, „Russland zu ruinieren.“ Für Deutschland ist von Russland noch nie eine Gefahr ausgegangen. Deutschland hat 1941 die Sowjetunion überfallen mit der Absicht, den Staat zu zerschlagen und einen Teil der Bevölkerung auszurotten. Die Mauer in Berlin ist weg. Sie wurde nach Osten verschoben. Sie steht nicht mehr zwischen Nato und Warschauer Vertrag, sondern zwischen der Nato und Russland. Sie ist dort, wo sie im Prinzip an jenem 22. Juni 1941 verlief, als Deutschland die Sowjetunion überfallen hat. Diese Grenzverschiebung ist das Gegenteil von dem, was 1989 auf den Straßen und Plätzen der DDR gefordert wurde.

·     Die Kraft, das Geld und die Ressourcen, die man einsetzt, um die DDR zu denunzieren   – eine ganze „Aufarbeitungsindustrie“ ist damit beschäftigt   –, wären sinnvoller angelegt für eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass. Nazis, Neonazis und die geistigen Brandstifter in der AfD sind eine Gefahr für Deutschland   – nicht aber das Erbe der DDR.

Als ich Anfang der Neunzigerjahre Gorbatschow traf, um ihn zu informieren, dass die bundesdeutsche Justiz über 100.000 Ermittlungsverfahren gegen DDR-Bürger eingeleitet hatte, erzählte er mir von einem Gespräch mit Bundeskanzler Kohl. Der habe ihm gesagt, wirtschaftlich werde man die deutsche Einheit schnell meistern, aber „Michail Sergejewitsch, wir sind da drüben im Osten einem fremden Volk begegnet. Die sind ganz anders als wir.“

Abgesehen von den unrealistischen wirtschaftspolitischen Vorstellungen Kohls, offenbart seine späte „Erkenntnis“ über das Volk der DDR, dass die politische Elite der alten Bundesrepublik nie wusste, was das DDR-Volk im Innersten bewegt. Das ist bis heute so geblieben. Seit 1949 wurde der Bevölkerung versprochen: „Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“ (Quelle: Artikel 146 Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.) Das blieb unerfüllt.
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Egon Krenz
Egon Krenz wurde im März 1937 in Kolberg, Pommern, geboren. Krenz war vom 18. Oktober bis zum 6. Dezember 1989 als Nachfolger Erich Honeckers Generalsekretär des ZKs der SED sowie ab 24. Oktober bis zum selben Enddatum Staatsratsvorsitzender und Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates der DDR.

Quelle: https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/egon-krenz-die-protestbewegung-in-der-ddr-von-1989-wollte-keine-deutsche-einheit-li.1405566

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