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Europa erzittert

Dieser Artikel ist ein Feature für die Leser am Sonntagmorgen im Vereinigten Königreich. Wie wir bereits festgestellt haben, sieht Vlad entspannt, selbstbewusst und fröhlich aus. Und warum sollte er auch nicht? Sie würden an seiner Stelle auch lächeln.
Von Mark Wauck 9. Dezember 2023 - übernommen von meaninginhistory.substack.com
10. Dezember 2023

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Als Beispiel dafür, wie das Vereinigte Königreich versucht, die Situation zu bewältigen, ist der Artikel höchst amüsant   – ebenso wie seine Ansichten über die US-Politik. Besonders gut gefallen hat mir dieser Absatz, der beide Aspekte enthält   – Bewältigungsversuch und karikaturistische Ansichten über Amerika. Der Autor gibt offen zu, dass er fest damit gerechnet hatte, dass die Ukro-Nazis Russland von der Krim vertreiben würden, so dass man sich seine Bestürzung und Ablehnung vorstellen kann. Was die US-Politik angeht, so spiegelt der Autor im Grunde die angst (sic!) der Neocons vor einer Trump-Wiederkehr wider   – und Amerika ist für die Neocons weitgehend ein fremdes Land, ein Land, das sie nur zum Zwecke der Machtprojektion in anderen Teilen der Welt beachten:

Putin braucht nur noch 12 Monate durchzuhalten. Selbst wenn Donald Trump nicht gewählt wird   – der ehemalige Präsident macht keinen Hehl aus seiner Bewunderung für den russischen Tyrannen und ging einmal so weit zu erklären, dass er Putin mehr vertraue als den US-Sicherheitsdiensten   – haben sich republikanische Kongressabgeordnete gegen den Krieg gewandt. Letzte Woche blockierten sie Präsident Bidens 88 Milliarden Pfund schweres Hilfspaket für die Ukraine.

Ja, nun, Trump ist ein realistischer Realist.

Die Erkenntnis, dass das Ende naht, veranlasst die europäischen Hauptstädte zur Gewissensprüfung. In diesem Zusammenhang bin ich auch auf einen interessanten Artikel in einer polnischen Zeitschrift gestoßen, der eine differenziertere Sichtweise vertritt als der Telegraph. In dem Artikel Gotowi na pokój na Ukrainie? (Bereit für Frieden in der Ukraine?) wird über die Zukunft Europas, insbesondere Polens, nachgedacht, und zwar angesichts der klaren Signale aus den USA, dass das Ende der Unterstützung für die Ukraine   – bei allem Bewältigungsversuch, dem Weinen und der Rationalisierung der Niederlage   – nicht mehr weit entfernt ist.

Was diesen Artikel so interessant macht, ist die   – aus moderner polnischer Sicht   – untypische Perspektive des Autors. Der Autor ist Jan Engelgard, ein Historiker und ein in Polen recht bekannter politischer Denker. Der Schlüssel zum Verständnis seiner Sichtweise liegt meines Erachtens darin, dass er derzeit Direktor eines politischen Instituts ist, das nach Roman Dmowski benannt ist. Dmowski ist heute vor allem dafür bekannt, dass er die Vision für Polen vertrat, die in den Zwischenkriegsjahren am stärksten mit der von Józef Piłsudski kontrastierte. Ich habe häufig über Piłsudskis Vision eines wiederauferstandenen, multiethnischen, von Polen geführten "Intermariums" geschrieben, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckt. Dies war eine romantische Nachbildung eines idealisierten polnischen Commonwealth, das in der Vergangenheit nie wirklich existierte. Dmowski hingegen vertrat die Vision eines Polens, das auf dem modernen nationalistischen Modell der Nationalstaaten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg basierte.

Es gibt zwei Gründe, warum die gegensätzlichen Ansichten von Dmowski und Piłsudski wichtig bleiben. Natürlich bleiben ihre Ansichten für die Politik in Polen wichtig. Allerdings ist Piłsudskis Ansicht, die auch als Prometheismus bekannt ist, ein direkter Vorläufer der neokonservativen Ideen zur Schwächung Russlands. Im Gegensatz dazu sah Dmowski in Deutschland eine weitaus größere Bedrohung für die polnische nationale Identität als in Russland. Sollten sich polnische Politiker in dieser nationalen Krise an Dmowskis Ideen orientieren, könnte dies tiefgreifende Auswirkungen auf die europäische Sicherheitsarchitektur haben:

Roman Stanisław Dmowski (9. August 1864   – 2. Januar 1939) war ein polnischer Politiker, Staatsmann sowie Mitbegründer und Chefideologe der politischen Bewegung der Nationalen Demokratie (abgekürzt "ND": polnisch "Endecja"). Er sah in der Germanisierung der vom Deutschen Reich kontrollierten polnischen Gebiete die größte Bedrohung für die polnische Kultur und befürwortete daher ein gewisses Entgegenkommen gegenüber einer anderen Macht, die Polen geteilt hatte, dem Russischen Reich. ... Als er während des Ersten Weltkriegs in Paris weilte, war er durch sein Polnisches Nationalkomitee ein prominenter Sprecher der polnischen Bestrebungen gegenüber den Alliierten. Er war eine entscheidende Figur bei der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Polens nach dem Krieg. Die meiste Zeit seines Lebens war er der wichtigste ideologische Gegner des polnischen militärischen und politischen Führers Józef Piłsudski und von dessen Vision von Polen als multinationaler Föderation gegen den deutschen und russischen Imperialismus.

Mit Ausnahme einer kurzen Amtszeit als Außenminister im Jahr 1923 übte Dmowski nie nennenswerte politische Macht aus. Dennoch war er einer der einflussreichsten polnischen Ideologen und Politiker seiner Zeit. Die meiste Zeit seines Lebens war Dmowski eine umstrittene Persönlichkeit. Er strebte eine homogene, polnischsprachige und römisch-katholische Nation an, im Gegensatz zu Piłsudskis Vision des Prometheismus, die ein multiethnisches Polen anstrebte, das an das polnisch-litauische Commonwealth erinnerte. Infolgedessen marginalisierte sein Denken andere in Polen lebende ethnische Gruppen, insbesondere die in den Kresy (zu denen Juden, Litauer und Ukrainer gehörten), und er wurde als antisemitisch angesehen. Er bleibt eine Schlüsselfigur des polnischen Nationalismus und wird häufig als "Vater des polnischen Nationalismus" bezeichnet.

In typisch polnischer Manier gelang es Dmowski, die meisten Verbündeten in Versailles zu verprellen   – obwohl man fairerweise sagen muss, dass Dmowski mit einem Westen konfrontiert war, der sowohl in polnischen Angelegenheiten unwissend war als auch ein tiefes Desinteresse an Polen und den Polen zeigte, abgesehen von der Notwendigkeit, Europa aus eigenen Gründen und Interessen aufzuteilen. Wilson betrachtete die Polen im Grunde als ein Ärgernis, aber ein britischer Diplomat war in der Lage, die andere Seite zu sehen:

Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson berichtete: "Ich sah Herrn Dmowski und Herrn Paderewski in Washington und bat sie, mir Polen zu definieren, wie sie es verstanden, und sie legten mir eine Karte vor, auf der sie einen großen Teil der Erde beanspruchten."

Wilsons Einwände rührten zum Teil von seiner Abneigung gegenüber Dmowski persönlich her. Ein britischer Diplomat erklärte: "Er war ein kluger Mann, und klugen Männern misstraut man; er war logisch in seinen politischen Theorien, und wir hassen Logik; und er war hartnäckig mit einer Hartnäckigkeit, die jeden in den Wahnsinn treiben konnte."

Es sollte klar sein, dass die antirussische Strömung des Piłsudski-Denkens in Polen auch heute noch vorherrschend ist   – in praktisch allen polnischen politischen Parteien, wenn auch am lautesten in der Partei Recht und Gerechtigkeit. Das ist die Schwierigkeit, mit der Engelgard zu kämpfen hat, obwohl er sie nie beim Namen nennt. Wie Sie jedoch sehen werden, spiegeln sein Eintreten für ein Ende des Krieges gegen Russland und seine Offenheit, russische Sicherheitsbedenken anzuerkennen, Dmowskis Denken wider   – wenn auch in einem modernen Kontext. An einer Stelle fragt er, warum "keine politische Kraft in unserem Land es wagt, eine solche Forderung zu formulieren"   – nämlich die nach einem Ende des Krieges gegen Russland. Er weiß sicher, dass der Vorwurf der Anbiederung an Russland in Polen politischer Selbstmord bleibt.

Schauen wir uns also Engelgards Artikel an, mit dem er versucht, die Polen dazu zu bewegen, sich zu überlegen, wo ihre Interessen liegen   – im Westen oder bei Russland. Dies ist im Grunde eine automatische Übersetzung, aber ich habe sie an einigen Stellen geändert:

Bereit für Frieden in der Ukraine?

Sind Polen und sein Establishment bereit für einen Frieden in der Ukraine, aber ohne einen Sieg der maximalistischen Art, wie er 2022 als Dogma für den endgültigen Sieg der Ukraine und ihre Rückeroberung nicht nur des Donbas, sondern auch der Krim und vielleicht auch der Eroberung Russlands angenommen wurde?

Dafür gibt es keine Anzeichen. Während im Westen immer mehr Stimmen laut werden, dass der Krieg beendet werden muss und die Ukraine sich mit ihren territorialen Verlusten abfinden muss, wagt es in Polen niemand, dieses Thema auch nur anzusprechen.

Wir sehen hier, dass Engelgard möchte, dass sich die Polen mit der Lähmung in ihrer Politik auseinandersetzen. In einer so grundlegenden Frage für Polens Zukunft   – aber, wie wir in dem obigen Telegraph-Artikel sehen können, ist dies auch ein Problem für Europa im Allgemeinen. Die amerikanischen Neocons Haass und Kupchan ringen mit diesem Problem   – dem Problem, einen drohenden und "verheerenden" russischen Sieg irgendwie zu verarbeiten. Für die Amerikaner ist dies nach wie vor eher ein PR-Problem, ein Problem der Tarnung, auch wenn sich das ändern könnte. Für die Polen ist dies eine existenzielle Angelegenheit   – die Polen können es sich nicht leisten zu schweigen.

Inzwischen mehren sich die "Friedenssignale", von der "Bild"-Zeitung bis hin zu seriösen Publikationen wie der "Washington Post" oder "Foreign Affairs". In letzterer schlugen Richard Haass (langjähriger Präsident der renommierten Denkfabrik Council on Foreign Relations) und Charles Kupchan (Professor für Politikwissenschaft an der Georgetown University) vor, den von Präsident Biden formulierten Grundsatz beizubehalten, dass die Hilfe für die Ukraine "so lange wie nötig" andauern wird, doch sollte diese Regel zeitlich präzisiert werden. Sie sollte nämlich bis zum Ende dieses Jahres gültig sein. Dann wird der Zeitpunkt kommen, an dem die Vereinigten Staaten und Europa 'guten Grund' haben werden, die Politik aufzugeben, die durch die Formulierung 'so lange wie nötig' symbolisiert wird. Was bedeutet das? "Die Aufrechterhaltung der Existenz der Ukraine als souveräne und sichere Demokratie ist eine Priorität, aber dieses Ziel erfordert nicht, dass das Land die vollständige Kontrolle über die Krim und den Donbas wiedererlangt. Um es ganz klar zu sagen: Wir müssen den Frieden (Waffenstillstand) schließen und dabei die russischen Errungenschaften anerkennen.

Im vorangegangenen Absatz versucht Engelgard, seine Leser davon zu überzeugen, dass Polen es sich nicht leisten kann, zurückzubleiben und einfach zu akzeptieren, welche Zukunft die Neocons Polen nach dem Abzug der USA zugestehen. Polen muss seine Zukunft selbst in die Hand nehmen, und das bedeutet, zu erkennen, dass das Zhou-Regime [Anm. des Übersetzers: diese Bezeichnung verwendet der Autor regelmässig für die Biden-Administration] versucht, die Polen zu täuschen.

Was sagt Warschau dazu? Was sagen andere Länder in der Region dazu? Einer der estnischen Militäroffiziere formulierte die folgende These: "Es gibt nur zwei Lösungen: Entweder die Ukraine gewinnt, oder es gibt einen Dritten Weltkrieg." Diese verrückte Position wird wahrscheinlich von einem großen Teil der Anhänger der Ukraine in unserem Land geteilt, auch wenn solche Äußerungen offiziell nicht gemacht werden. Der so genannte offizielle Optimismus ist nach wie vor vorherrschend, ebenso wie [das Bemühen], die öffentliche Meinung davon zu überzeugen, dass eine Niederlage der Ukraine bedeutet, dass wir auf jeden Fall von Russland angegriffen werden, was ein raffinierter Propagandaschachzug Kiews ist, um die westliche Politik der bedingungslosen militärischen und finanziellen Unterstützung aufrechtzuerhalten. Solche demagogischen Äußerungen werden von ukrainischen Politikern auf verschiedenen Ebenen oft als Erpressung eingesetzt (z.B. beim Protest polnischer Fluggesellschaften). Dieser Trick wird auch von der gescheiterten Regierung von Joe Biden angewandt, die die Länder an der Ostflanke der NATO mit der Androhung eines russischen Angriffs in Angst und Schrecken versetzt.

Kein Land in Europa sollte mehr an einer Beendigung des Krieges interessiert sein als Polen, das als erstes die Konsequenzen zu spüren bekommen wird, wenn die militärische Situation eskaliert. Polen sollte eines der ersten Länder sein, das ein Ende des Krieges fordert, so wie es die Ungarn tun. Doch keine politische Kraft in unserem Land wird es wagen, eine solche Forderung zu formulieren, obwohl sie im Interesse Polens liegt. Warum? Weil das Dogma des "Kämpfens bis zum Ende" immer noch gilt   – die Tatsache, dass es "bis zum letzten Ukrainer" bedeutet, kümmert in Polen niemanden. Schlimmer noch: Wenn die 'letzten Ukrainer' sterben, dann, so argumentiert Jacek Siewiera, der Leiter des Nationalen Sicherheitsbüros, in einem Interview für 'Nasz Dziennik', wird Polen innerhalb von drei Jahren einen Krieg mit Russland haben. Wenn wir einen Krieg vermeiden wollen, sollten die NATO-Länder an der Ostflanke einen kürzeren Zeithorizont von drei Jahren wählen, um sich auf eine Konfrontation vorzubereiten. In dieser Zeit muss an der Ostflanke ein Potenzial geschaffen werden, das ein deutliches Signal zur Abschreckung von Aggressionen darstellt. Übrigens sagt General Leon Komornicki, der unter den pensionierten Generälen als Realist gilt, dasselbe.

Um es also ganz offen zu sagen: Niemand in Polen spricht von einer grundlegenden Änderung der westlichen Politik gegenüber Russland hin zu einem Dialog und der Schaffung eines Sicherheitssystems, in dem sich alle Parteien (Russland und der Westen) sicher fühlen. Um dies zu erreichen, müssen wir zuallererst den Marsch der NATO nach Osten beenden, klar erklären, dass die Ukraine ein neutrales Land sein wird, die Politik der endlosen Sanktionen beenden und alle Institutionen wiederbeleben, die eine Plattform für den Dialog zwischen Russland und Europa sein könnten (z.B. die OSZE). Jemand wird sagen: Aber das ist doch unmöglich? Dann wird er zugeben, dass der bereits zitierte estnische Offizier Recht hat   – die Alternative ist der Dritte Weltkrieg.

Die eigentliche Frage, die sich den Polen stellt, bleibt unausgesprochen. Wenn der Westen, auf den sich Polen törichterweise verlassen hat, einen Abzug in Erwägung zieht, bei dem Polen, ungeachtet der schönen Rhetorik, auf dem Trockenen sitzen bleibt, sollte Polen dann nicht eine Art separaten Frieden mit Russland in Betracht ziehen? Je länger Polen wartet, desto wahrscheinlicher wird es, dass seine Zukunft von anderen entschieden wird. Das ist keine glückliche Situation, denn niemand   – und schon gar nicht die Neocons   – kümmert sich um Polen. Ungarn und die Slowakei haben den Weg gewiesen. Wird Polen zur Vernunft kommen? Welchen Weg Polen einschlägt, bleibt entscheidend, denn es ist immer noch der Dreh- und Angelpunkt der NATO-Politik gegenüber Russland   – vielleicht sogar für den Fortbestand der NATO in ihrer jetzigen Form.

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Mark Wauck

@MEANINGINHISTORY

FBI-Agent im Ruhestand, Ehemann, Vater, unverbesserlicher Amateur.

Quelle: https://meaninginhistory.substack.com/p/europe-trembles?utm_source=post-email-title&publication_id=473679&post_id=139650937&utm_campaign=email-post-title&isFreemail=true&r=1y536l&utm_medium=email

Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

 

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