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Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu über die Bedrohung der russischen Sicherheit

Wird Russland durch die NATO-Mitgliedschaft Finnlands und die militärische Aufrüstung Polens wirklich bedroht?
Von Gilbert Doctorow 10.08.2023 - übernommen von gilbertdoctorow.com
10. August 2023

Selbst unabhängige westliche Experten, die es eigentlich besser wissen müssten, sprechen gerne von "russischer Desinformation", die zum "Nebel des Krieges" in und um die Ukraine beiträgt. Welche Art von russischer Desinformationskampagne es geben kann, wenn fast alle internationalen Kanäle Russlands von den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten blockiert werden, ist etwas, das diesen scheinbar aufgeklärten Russland-Verächtern offensichtlich nicht in den Sinn kommt.

In diesem Zusammenhang ist es höchst bemerkenswert, dass ein eklatanter Fall von echter russischer Desinformation gestern von den westlichen Medien völlig ignoriert wurde. Vielleicht liegt das daran, dass diese Desinformation in erster Linie für das russische Inland und nicht für die Weltöffentlichkeit bestimmt war.

Ich denke dabei an die Rede, die der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu vor dem Vorstand seines Ministeriums hielt. Teile dieser Rede wurden von den staatlichen russischen Nachrichtensendern ausgestrahlt. Die wichtigsten Ausschnitte waren wie folgt.

Zitat:

Die Bedrohung für die militärische Sicherheit Russlands in den westlichen und nordwestlichen strategischen Gebieten ist um ein Vielfaches gewachsen.

Ein schwerwiegender destabilisierender Faktor ist der NATO-Beitritt Finnlands und der voraussichtliche Beitritt Schwedens. Nach dem Beitritt Helsinkis zum Bündnis hat sich die Landgrenze Russlands zu den Ländern des Blocks fast verdoppelt.

Auf dem Territorium Finnlands kann die NATO Militärkontingente stationieren, die in der Lage sind, kritische Strukturen im Nordwesten Russlands zu zerstören.

In unmittelbarer Nähe der Grenzen Russlands und Weißrusslands sind rund 360.000 bewaffnete NATO-Soldaten, 8.000 Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge, 650 Flugzeuge und Hubschrauber stationiert.

Zitat Ende

Schoigu nahm auch Bezug auf die jüngste Ankündigung Polens, zusätzliche 2.000 Soldaten an der Grenze zu Weißrussland zu stationieren. Und er sagte, dass "Polen von den USA als Hauptinstrument der antirussischen Politik benutzt worden ist".

Die Erweiterung der NATO in diesem Jahr und ihre voraussichtliche weitere Ausdehnung in naher Zukunft sind unbestreitbare Fakten. Ob dies jedoch die tatsächliche Stärke der NATO in einer Auseinandersetzung mit Russland erhöht oder verringert, ist diskutabel, wie ich in diesem Aufsatz zeigen werde. Selbst wenn die von Schoigu angeführten Zahlen zu den Streitkräften und der Ausrüstung der NATO "in unmittelbarer Nähe zu den Grenzen Russlands" korrekt sind, ist die aggressive Absicht, die er ihnen zuschreibt, in meinen Augen eine verschärfte Desinformation.

Sicherlich geht Russland von genau denselben Sicherheitskalkülen aus, die die amerikanische Militärdoktrin seit den 1990er Jahren leiten, nämlich dass man nur auf die Fähigkeiten des Gegners achtet, nicht aber auf seine Absichten, die möglicherweise nicht bekannt sind und sich mit der Zeit ändern können. Im vorliegenden Fall sind die Absichten der USA und der NATO jedoch durchaus erkennbar, wie ihr Verhalten im Stellvertreterkrieg in der Ukraine zeigt: Die Vereinigten Staaten setzen alles daran, zu vermeiden, dass sie mit den Russen die Klingen kreuzen und einen Krieg zwischen Russland und der NATO auslösen, der leicht zu einem globalen Atomkrieg eskalieren könnte.

Ich glaube, dass Schoigus Rede in erster Linie ein Manöver war, um sicherzustellen, dass seine Mitarbeiter nicht an ihren Schreibtischen schlafen, wenn er ihnen den Rücken zuwendet. Sie werden mit der Ausarbeitung von Plänen für ein neues Streitkräftekommando beauftragt, das sich um die westlichen und nordwestlichen Gebiete kümmern soll.

Zweitens richtete sich die Rede an die Staatsduma, um die russischen Abgeordneten für die sicherlich umfangreichen neuen Militärmittel zur Unterstützung des militärischen Aufbaus zu gewinnen. Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was das bedeutet, verweise ich auf die Bemerkungen, die Generalleutnant a.D. Andrej Guruljow, Duma-Mitglied der Partei "Einiges Russland", Mitglied der Duma-Kommission zur Überprüfung der Haushaltsmittel für die Verteidigung und Mitglied des Verteidigungsausschusses der Duma, gestern Abend in der Talkshow "Abend mit Wladimir Solowjow" machte. Guruljow teilte den Zuschauern mit, dass das neue Militärkommando 800 Mitarbeiter im Hauptquartier benötigen würde. Das deutet auf ein sehr großes und anspruchsvolles Kontingent von Männern an der Waffe hin.

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Russland wird also eine Einheit seiner Streitkräfte aufstellen, die die Grenze zu Finnland verteidigen soll. Ich glaube jedoch, dass der Beitritt Finnlands zum Bündnis eher zu einem negativen Sicherheitsergebnis für das Bündnis als für Russland geführt hat. Dieses ganze Unterfangen ist eine Wiederholung der Dummheit, die der Beitritt von Estland, Lettland und Litauen im Jahr 2004 bedeutete. Damals wusste jeder, dass die baltischen Staaten mit ihrer geringen Bevölkerungszahl und ihren Zinnsoldatenarmeen Russland nicht gewachsen waren, selbst als Russland sich noch nicht von seiner Schwäche erholt hatte, die aus der wirtschaftlichen und organisatorischen Implosion der 1990er Jahre resultierte.

In der Zeit nach 2010 war man sich im Westen bereits darüber im Klaren, dass Russland die baltischen Staaten innerhalb von ein oder zwei Tagen überrennen könnte, wenn in der NATO keine schnellen Eingreiftruppen bereitstünden und keine europäischen NATO-Truppen vor Ort wären, die als Stolperdraht dafür sorgen könnten, dass die Bestimmungen des Artikels 5 des Bündnisses sofort zum Tragen kämen. Es ist jedoch fraglich, ob eine dieser bisherigen Maßnahmen der NATO die Lebensfähigkeit der baltischen Staaten gewährleisten kann, wenn Russland mit aller Macht angreift.

Heute, da Russland in seinem Krieg mit der Ukraine bewiesen hat, dass es wahrscheinlich über die stärksten Bodentruppen auf dem Kontinent verfügt, ist die Vorstellung, dass Finnland mit seinen 5,5 Millionen Einwohnern seine Stellung halten kann, weit hergeholt. Und wie viele Soldaten wird die NATO zur Unterstützung der Verteidigung dorthin entsenden? Eintausend? Fünfzigtausend? Wo sollen diese Truppen untergebracht werden? Die Fragen häufen sich. Ich sehe keine eindeutigen Antworten.

Durch den Beitritt Finnlands hat sich die Landgrenze zu Russland um mehr als 1.000 km verlängert. Das entspricht in etwa der Länge der heutigen Frontlinie zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräften. Wie wir gesehen haben, war es für die ukrainischen Streitkräfte sehr schwierig, diese Linie zu überschreiten und im Laufe der letzten zwei Monate ihrer Gegenoffensive Gebietsgewinne gegen Russland zu erzielen, obwohl sie von der NATO massive Unterstützung in Form von moderner militärischer Ausrüstung und Ausbildung erhalten haben. Die ukrainischen Soldaten sind mutig und engagiert, und dennoch ist das Verhältnis der Gefallenen im Kampf derzeit 10:1 gegen die Ukrainer.

Erinnern wir uns daran, dass die Ukraine zu Beginn des Krieges etwa 40 Millionen Einwohner hatte, Russland dagegen 145 Millionen. Durch die Abwanderung von Flüchtlingen und Wehrdienstverweigerern könnte die ukrainische Bevölkerung auf 26 Millionen gesunken sein, was immer noch das Fünffache der Bevölkerung Finnlands ist.

Betrachten wir auch die Topographie und andere relevante Fakten über das finnische Gebiet, das an dieser langen Grenze an Russland grenzt. Ich weiß etwas darüber, weil ich vor drei Jahren persönlich in Karelien unterwegs war. Wir sprechen hier von dichten Kiefernwäldern und Sümpfen, von einer sehr geringen Bevölkerungsdichte, die wahrscheinlich mit der Dichte mitten im Nirgendwo in Sibirien vergleichbar ist. Es gibt dort lokale Asphaltstraßen, aber keine großen Fernstraßen. Im Gegensatz dazu steht auf russischer Seite der Ausbau der vierspurigen Schnellstraße von Wyborg bis zur finnischen Grenze kurz vor der Fertigstellung. Die Russen haben ihre zweitgrößte Stadt, Petersburg, mit 4,5 Millionen Einwohnern und einer sehr fortschrittlichen Logistikinfrastruktur, die weniger als 200 km von der Grenze entfernt ist. Daher stelle ich die Frage, wer wen bedrohen wird, wenn sowohl die Finnen als auch die Russen ihre Verteidigung vorbereiten.

Was Polen betrifft, so liegt die potenzielle Sicherheitsbedrohung für Russland auf einer anderen Ebene. Polen hat eine Bevölkerung von 40 Millionen Menschen und die Möglichkeit, seine Streitkräfte, die derzeit etwa 120.000 Mann stark sind, erheblich auszubauen. Die laufende Beschaffung moderner gepanzerter Fahrzeuge, Artillerie und Kampfflugzeuge aus verschiedenen Quellen, einschließlich Südkorea und den Vereinigten Staaten, bedeutet, dass das Land in ein paar Jahren zu einer regionalen Macht werden könnte, mit der man rechnen muss. Aber bis dahin werden die russischen Streitkräfte auf 1,5 Millionen angewachsen sein, und sie werden viel besser ausgerüstet sein mit den Waffentypen, die sich auf dem Schlachtfeld bewährt haben und die alle im Inland produziert werden, was bedeutet, dass sie leicht nachzuliefern und bei Bedarf zu reparieren sind.

Ich stimme nicht mit Schoigus Behauptung überein, dass Polen von den Vereinigten Staaten als die nächste vorrangige Kraft gegen Russland instrumentalisiert wird. Die polnische Regierung unter ihrem früheren Vorsitzenden der Bürgerplattform, Donald Tusk, brauchte ebenso wie die derzeitige Regierung der von den zutiefst antirussischen Brüdern Kaczynski gegründeten Partei Recht und Gerechtigkeit keine Ermutigung aus Washington, um sich als Europas Schutzschild gegen die Barbaren im Osten zu positionieren, d.h. die Standards des Polens des 18. Jahrhunderts zu übernehmen, bis das Land von der europäischen Landkarte verschwand.

Dennoch ist das polnische politische System wirklich demokratisch, anders als das durch einen Putsch installierte Regime in der Ukraine mit seinen fanatischen Neonazi-Anhängern. Es hat keine selbstmörderischen Tendenzen, die mit Zelensky und seinem Team zu vergleichen wären. Es wird es kaum wagen, aus eigener Kraft in den Krieg gegen Russland zu ziehen. Und es wird unmöglich sein, einen Konsens in der NATO zu finden, um sich an einem von ihm angezettelten Krieg gegen Russland zu beteiligen.

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In den vergangenen Monaten vor und während des Beitrittsverfahrens, durch das Finnland in die NATO aufgenommen wurde, hat ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg wiederholt betont, dass der Krieg zwischen Russland und der Ukraine die NATO-Mitgliedstaaten wie nie zuvor zusammengeführt und dem Bündnis neuen Schwung verliehen habe, während er gleichzeitig sein ursprüngliches Ziel bekräftigt hat, der sowjetischen/russischen Macht auf dem Kontinent standhaft entgegenzutreten. Das jüngste skandinavische Mitglied hat schließlich seinen siebzig Jahre langen neutralen Status und seine freundschaftlichen, wenn auch untergeordneten Beziehungen zu Russland aufgegeben, um sich dem gesamteuropäischen Verteidigungssystem anzuschließen. Die Aussicht auf eine baldige Aufnahme Schwedens wäre ein weiterer Sieg. Und schließlich würde die Ukraine zum Beitritt eingeladen werden, was die militärische Kapazität des Bündnisses erheblich steigern würde.

Nur sehr wenige im Westen haben die Logik in Frage gestellt, dass die Erweiterung ein Plus und nur ein Plus ist. Einer von ihnen war Professor Stephen Cohen, als er vor fast zwanzig Jahren darauf hinwies, dass die NATO keine Burschenschaft ist. Sie wird angeblich von den nationalen Sicherheitsinteressen ihrer Mitgliedstaaten geleitet, und die Aufnahme der baltischen Staaten war für das Bündnis unter dem Strich negativ. Ich habe diese Kritik mit den heutigen Ausführungen darüber aktualisiert, dass der Beitritt Finnlands zum Bündnis ein weiteres "Eigentor" des NATO-Teams ist.

Fahren wir mit dieser Entlarvung der US-Sicherheitserwägungen fort, indem wir einen Blick auf den oft zitierten Autor von Washingtons Ukraine-Strategie von der Regierung Barack Obamas bis heute werfen, Zbigniew Brzezinski. Viele Befürworter der Unterstützung der Ukraine durch die USA und ihre Verbündeten in ihren Kriegsanstrengungen berufen sich heute auf Brzezinskis "vorausschauende" Bemerkungen in seinem viel verkauften und gelesenen Buch von 1997, The Grand Chessboard (deutscher Titel: Die einzige Weltmacht). Dieses Buch wurde zu einer Zeit geschrieben, als die Amerikaner noch nach einer neuen globalen Strategie suchten, da sie, wie sie glaubten, den Kalten Krieg gewonnen hatten und ihnen ein neues nationales Ziel zu fehlen schien.

Brzezinski bestand darauf, dass, wenn die Ukraine aus ihren engen industriellen und politischen Beziehungen zu Russland herausgelöst werden könnte, Russland aufhören würde, eine imperiale Macht zu sein, und als ein weiterer nicht bedrohlicher europäischer Staat eingestuft werden könnte.

Wir alle wissen heute, wohin uns die Verfolgung von Brzezinskis Fahrplan geführt hat. Russland ist heute wohl stärker denn je, da seine Gesellschaft hinter einer patriotischen Mission steht, da seine Streitkräfte die Kunst des Hightech-Bodenkriegs beherrschen und seine Militärindustrie ihre Produktion um ein Vielfaches gesteigert hat. In diesem Zusammenhang kann man sagen, dass Brzezinskis Ratschlag an seine Landsleute und deren Führung hirnrissig war. Wer sich eingehender mit dieser Frage befassen möchte, dem empfehle ich die Lektüre meiner verschiedenen Kapitel, in denen ich Brzezinskis Schriften in den 90er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends kritisiere, in meiner Aufsatzsammlung Great Post-Cold War American Thinkers on International Relations (2010).

Brzezinskis Bemühungen um die Eindämmung Russlands gingen über seine Schriften hinaus und reichten bis zur aktiven Beteiligung an den Plänen seines ehemaligen Schützlings Madeleine Albright, die Außenministerin wurde, einen "Pipeline-Krieg" gegen Russland zu führen. Dabei handelte es sich um ein zweigleisiges Vorgehen: Russlands geplante Gaspipelines nach Europa wie South Stream sollten gestoppt und alternative Pipelines von Gasproduzenten aus Zentralasien und dem Kaukasus gefördert werden, die außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation verlaufen und somit frei von Einmischungen des Kremls wären. Die verschiedenen Akteure und Entwicklungen in den mehrjährigen "Pipeline-Kriegen" werden in meinem 2013 erschienenen Sammelband Stepping Out of Line behandelt.

Das Endergebnis dieser Politik war die Verhängung eines Einfuhrverbots für russische Kohlenwasserstoffe nach Europa als Strafe für den russischen Einmarsch in der Ukraine und die Zerstörung der Nord Stream 1-Pipeline im vergangenen Jahr. Wie wir heute wissen, führt dies zur Deindustrialisierung Deutschlands, Europas führender Wirtschaft und Exporteur, zu einer hohen Inflation auf dem gesamten Kontinent und zu einem allgemeinen Rückgang des Lebensstandards in Europa.

Die Moral von der Geschicht: Pass auf, was du dir wünschst.

Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

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