Doctorow: Lädt Putins Anstand zu einem Weltkrieg ein?
Gilbert Doctorow
Vor vier Jahren habe ich einen Artikel veröffentlicht, in dem ich Wladimir Putin scharf kritisiert habe, weil er für seine und unsere Verhältnisse zu sanftmütig und zu zivilisiert sei, so dass sein Bemühen, eine Verschärfung des Konflikts zwischen Russland und den Vereinigten Staaten zu vermeiden, die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs perverserweise erhöhe.
Siehe https://original.antiwar.com/gilbert_doctorow/2019/02/01/vladimir-putin-to-the-west-we-will-bury-you/
Die Position, die ich in diesem Beitrag dargelegt hatte, widersprach dem "Gruppendenken" der Putin- und Russland-Befürworter einerseits und der Putin- und Russland-Gegner andererseits. Aber es war offensichtlich eine Position, die von dem konträr denkenden Paul Craig Roberts weitgehend geteilt wurde. In den Jahren seit 2019 hat Roberts seine große Internet-Leserschaft gelegentlich auf meine Artikel verwiesen, wofür ich ihm dankbar bin. Er hat auch seine eigenen Essays veröffentlicht, in denen er auf ähnliche Weise auf die Risiken hinweist, die damit verbunden sind, dass Putin Perlen vor die Säue wirft. Bei den Schweinen handelt es sich natürlich um die Führer der Vereinigten Staaten und ihrer europäischen Verbündeten.
Ich möchte heute einige Gedanken zu Roberts' jüngstem Aufsatz in dieser Richtung äußern, der vor zwei Tagen online veröffentlicht wurde:
Diejenigen, die Roberts nicht kennen, finden in seinem Wikipedia-Eintrag fast alles, was sie wissen müssen. Seine Universitätsabschlüsse erwarb er in Wirtschaftswissenschaften, und in diesem Bereich war er auch in der Regierung tätig. Unter Ronald Reagan war Roberts stellvertretender Finanzminister für Wirtschaftspolitik. Auch seine akademische Laufbahn vor und nach seiner Tätigkeit in der US Bundesregierung verlief in diesem Bereich.
Wie Sie sehen, ist Paul Craig Roberts kein professioneller Russland-Experte. Ich behaupte jedoch, dass sein Verständnis der russischen Gesellschaft tiefgreifender ist als das der meisten Akademiker und Journalisten, die als Experten gelten, einschließlich – wenn ich die politisch korrekten Kritiker der amerikanischen Russlandpolitik schockieren darf – meines einstigen Freundes und bewunderten Mitstreiters an der Friedensfront, Professor Steve Cohen (RIP).
Auf den letzten Punkt werde ich gleich noch näher eingehen, doch zunächst das Wichtigste.
Paul Craig Roberts wirft Putin vor, dass er heute viel zu vorsichtig sei, so wie in den acht Jahren, als die Minsker Vereinbarungen offenkundig ignoriert wurden, als 15.000 russischsprachige Zivilisten im Donbass durch wahllosen Artilleriebeschuss von ukrainischen Armeeeinheiten jenseits der Demarkationslinie ermordet wurden, als Kiew aufgerüstet und auf den NATO-Einsatz vorbereitet wurde. Seiner Meinung nach wurde Putin "an der Nase herumgeführt". Jetzt wiederholt sich die Situation. Putin sieht tatenlos zu, während der Krieg zwischen Israel und der Hamas jeden Moment einen regionalen Krieg auszulösen droht, der wiederum im Handumdrehen zu einem Weltkrieg werden könnte.
Ich teile Roberts' Enttäuschung darüber, dass Russland die ukrainischen Gräueltaten im Donbas so lange geduldet hat. Es gibt jedoch auch andere, die sich fragen, warum die Russen überhaupt das Minsker Abkommen eingegangen sind, und sagen, dass sie Kiew 2014 hätten angreifen sollen, als das ukrainische Militär noch in völliger Auflösung begriffen war. Damals hätten sie nicht nur den Donbass erobern, sondern auch das von den Vereinigten Staaten in Kiew installierte Neonazi-Regime stürzen sollen.
Bedauerlicherweise lassen all diese Kritiken an der russischen Zurückhaltung in den Jahren 2014 bis 2022 außer Acht, was Wladimir Putin glasklar gewesen sein muss: nämlich dass Russland bis 2022 nicht über die wirtschaftliche Stärke verfügte, um sich gegen die Art von "Sanktionen aus der Hölle" zu wehren, die Washington schließlich nach dem Beginn der militärischen Sonderoperation verhängt hat, die Washington aber genauso gut 2014 oder zu einem späteren Zeitpunkt seiner Wahl hätte verhängen können. Russland verfügte auch noch nicht über die strategische Überlegenheit, die es erst 2018 erreicht hat, als seine neuen, weltbesten Rüstungsgüter getestet und zur Serienreife gebracht worden waren. Mit einem Wort: Nicht nur die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer haben dank der Minsker Vereinbarungen Zeit gewonnen, sondern auch Putins Russland.
Zur gegenwärtigen Lage im Nahen Osten und zu der Frage, was Russland tun kann und sollte, um zu verhindern, dass sie außer Kontrolle gerät, stellt Paul Craig Roberts fest, dass in der indischen Presse berichtet werde, dass die russisch-iranischen Beziehungen in einer verstärkten, aber nicht näher spezifizierten militärischen Zusammenarbeit kodifiziert würden. Es gebe jedoch keine Erklärung über einen gegenseitigen Verteidigungspakt, der allein das weitere Abenteurertum der Vereinigten Staaten in der Region stoppen könnte.
Hier stimme ich Paul Craig Roberts vollkommen zu. Ich erinnere die Leser daran, dass Podiumsteilnehmer und der Moderator der führenden russischen Talkshow Abend mit Wladimir Solowjow seit einigen Wochen darauf bestehen, dass ein gegenseitiger Verteidigungspakt zwischen Russland, Iran, Nordkorea und China hier und jetzt geschlossen werden sollte, um weitere Aggressionen der USA und des Westens in den verschiedenen globalen Krisenherden zu stoppen. Zwar ist Xi mindestens ebenso zögerlich wie Putin, die USA direkt mit Drohungen zu konfrontieren, aber das ist für den Iran und Nordkorea kein Problem, so dass die drei mit der Erklärung "einer für alle und alle für einen" nicht länger warten sollten.
Roberts weist auch auf andere aktuelle Widersprüche in Russlands Politik hin, die für westliche Offizielle wie Schwäche aussehen. Er erwähnt Russlands Verweigerung, Syrien gegen israelische Luft- und Raketenangriffe zu schützen.
Ja, diese Versäumnisse sind schwer nachzuvollziehen und deuten auf eine übermäßige Vorsicht Putins und seines unmittelbaren Umfelds hin, auch und gerade im Außenministerium. Sergej Lawrow mag ein Gelehrter und ein Gentleman sein, aber er ist kein Straßenkämpfer, und das ist die Eigenschaft, die Russland im Moment am meisten braucht. Sein Ministerium ist selbst voller Widersprüche. Lawrows Pressesprecherin Maria Sacharowa verkörpert genau den von Roberts kritisierten Ansatz "sanft, sanft". Nach jeder Demütigung, die Washington Russland zugefügt hat, jammert Sacharowa nur und fragt rhetorisch: "Können Sie sich vorstellen...?"
Im Monat vor Trumps Amtsantritt 2016 wurde russisches Konsulatseigentum in den USA vom FBI beschlagnahmt, und alles, was wir von Zakharova hörten, war: "Können Sie sich das vorstellen?" Im Frühjahr 2022 hat Belgien, das mit den USA unter einer Decke steckt, 285 Milliarden Dollar an russischen Staatsgeldern eingefroren, die dort angelegt waren. Alles, was wir seither von russischen Beamten gehört haben, war: "Können Sie sich das vorstellen?"
Ja, wir können uns vorstellen, dass die Bastarde sich treu geblieben sind, und wir fragen, wo die russische Antwort bleibt, vorzugsweise die symmetrische, das alte "Auge um Auge".
Gleichzeitig gibt es im russischen Außenministerium harte Burschen wie den stellvertretenden Minister Sergej Rjabkow, der im Dezember 2021 auf sich aufmerksam gemacht hat, als er der NATO im Wesentlichen sagte: Entweder ihr zieht euch auf eure Grenzen von 1996 zurück oder wir werden euch dorthin zurückdrängen. Wie wir wissen, folgte die militärische Sonderoperation weniger als einen Monat später. Das ist der Mann, den Russland an der Spitze seiner Außenpolitik braucht, wenn nicht sogar als Putins Nachfolger. Ich sage das nicht für Russland, sondern für uns; nur diese Art von Schocktherapie kann die Seifenblase in Washington zum Platzen bringen und die amerikanischen politischen Eliten zur Vernunft bringen, damit wir nicht in ein nukleares Armageddon stolpern.
Natürlich wird unter Kreml-Insidern nun eine harte und realistische Linie gegenüber dem Westen vom ehemaligen Präsidenten und derzeitigen stellvertretenden Vorsitzenden des russischen Sicherheitsrates, Dmitri Medwedew, vertreten. Doch im Westen hat sich Medwedew während seiner Präsidentschaft einen Namen als Sündenbock gemacht. Heute gilt er nur noch als unberechenbare Kanone an Deck und wird von niemandem mehr ernst genommen.
*****
Paul Craig Roberts
Paul Craig Roberts hat in der Mitte seines Aufsatzes den folgenden Absatz eingefügt, der hier wiederholt werden sollte:
Aus meiner Erfahrung mit der liberalen russischen Intelligenz würde ich sagen, dass ihr Programm die Kapitulation vor Washington ist. Sie würden lieber als Gastprofessoren nach Harvard, Yale und Stanford eingeladen werden und als Berater für amerikanische Unternehmen arbeiten, als mit dem Westen in Konflikt zu geraten. Da Putin zu glauben scheint, dass die Duldung von Subversion ein Zeichen von Demokratie ist, könnte er wohl von den erforderlichen Druck-Maßnahmen abgehalten worden sein, um zu beweisen, dass er nicht, wie der gesamte Westen behauptet, ein Diktator sei. Putin hätte viele Leben retten können, wenn er die Propaganda seiner Feinde ignoriert und Russland energischer verteidigt hätte.
Bei den Leben, die hätten gerettet werden können, handelt es sich nicht nur um die 400.000 Ukrainer, denen gegenüber Putin keine Verantwortung trägt, sondern auch um die 50.000 Russen, die Schätzungen zufolge seit Februar 2022 ihr Leben im Einsatz verloren haben. Das sind viele Witwen, und das kann man nicht dadurch kompensieren, dass man im Staatsfernsehen zeigt, wie der Präsident sein Neujahrsessen mit Witwen und Waisen einnimmt.
Ich möchte die Leser daran erinnern, dass Paul Craig Roberts ein in der Wolle gefärbter Konservativer ist. Sein Verständnis des schädlichen Einflusses der "liberalen russischen Intelligenz" ist meiner Erfahrung nach völlig korrekt. Ihr Einfluss auf Putin reicht weit zurück, bis in seine ersten Jahre in der Regierung, als er als Stellvertreter des Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak, für die Anwerbung ausländischer Investitionen in der Stadt verantwortlich war. Diese Liberalen waren in Putins Präsidialverwaltung bis zum Beginn des Ukraine-Krieges in großer Zahl vertreten, bis viele von ihnen ihre Koffer gepackt und das Land verlassen haben.
Natürlich wurden diese liberalen russischen Intellektuellen von den amerikanischen Russlandexperten stets mit großer Nachsicht behandelt, und zwar nicht nur von jenen Experten, die entschieden gegen Putin eingestellt sind. Sie waren zum Beispiel die Freunde und Informationsquellen des sonst so russlandfreundlichen Steve Cohen. Andererseits kann man fast keinen unserer Experten als konservativ im traditionellen Sinne bezeichnen, wie Paul Craig Roberts, und zwar ohne die Vorsilbe "neo".
Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus
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