Skip to main content

Doctorow: Die Doppelmoral der pro-palästinensischen Verfechter der "Meinungsfreiheit"

Von Gilbert Doctorow 15. Dezember 2023 - übernommen von gilbertdoctorow.com
16. Dezember 2023

In den letzten Tagen ist mir aufgefallen, wie die Liberalen, die die "Meinungsfreiheit" verteidigen, in der Palästina-Frage einen Fleck im Auge ihrer im Allgemeinen konservativen Gegner erkennen, aber blind sind für den Balken in ihrem eigenen Auge, wenn ich mir einen Ausdruck von Matthäus über die Bedeutung der Heuchelei ausleihen darf.

Wir haben in der vergangenen Woche erlebt, wie ein Ausschuss des Repräsentantenhauses die Präsidenten dreier führender amerikanischer Universitäten über die Art und Weise befragt hat, in der die freie Meinungsäußerung auf dem Campus missbraucht werde, um die palästinensische Sache zu fördern und offen geäußerten Antisemitismus akzeptabel zu machen. Die Medien berichten auch über die Zwangsmaßnahmen, mit denen die Geldgeber der Hochschulen die freie Meinungsäußerung auf dem Campus zum Schweigen bringen wollen, indem sie denjenigen Einrichtungen die finanzielle Unterstützung entziehen, die Studenten, die "Palästina vom Fluss bis zum Meer" skandieren, nicht suspendieren oder ausschließen. Personalvermittler für Anwaltskanzleien und andere begehrte Berufe setzen Studenten, die auf diese Weise identifiziert wurden, auf eine schwarze Liste.

In einem angesehenen ListServ-Digest, das an Diplomaten und Außenpolitikexperten in Washington verteilt wird, war kürzlich in einem Artikel von "McCarthyismus" die Rede, mit dem die Machthaber versuchen, Sympathisanten für die palästinensische Sache im Krieg zwischen Israel und Hamas auszurotten.

Ich teile die Empörung über die jüngsten eklatanten Beispiele von Intoleranz und die Verweigerung des Rechts auf eine kritische oder feindselige Haltung zum Nahostkonflikt gegenüber Israels brutaler ethnischer Säuberung in Gaza. Was ich nicht teile, ist der Glaube, dass dieser McCarthyismus etwas Neues, etwas Jüngeres in der amerikanischen Gesellschaft ist. Und ich finde es mehr als ironisch, dass dieselben Liberalen und Progressiven, die jetzt für freie Meinungsäußerung in Bezug auf Palästina plädieren, seit mehr als 20 Jahren selbst die intolerantesten Fanatiker in Bezug auf Russland und seinen Präsidenten sind.

Ich freue mich sehr, dass ich im vergangenen Jahr viele neue Abonnenten für diese Seiten gewinnen konnte. Dies zwingt mich jedoch dazu, ein wenig Hintergrundwissen über den McCarthyismus in Bezug auf Russland zu vermitteln, über den ich all die Jahre geschrieben habe. Mehr Details finden Sie in meinen drei Aufsatzsammlungen, die zwischen 2013 und 2017 erschienen sind: Stepping out of Line, Does Russia Have a Future? und Does the United States Have a Future?

                                                                             *****

Seit Ende der 1990er Jahre, als sich Russland und die Vereinigten Staaten noch unter Jelzin wegen der NATO-Bombardierung Serbiens trennten und der Kreml de facto unter amerikanisches Protektorat geriet, begann der Wirtschaftskrieg mit dem Kreml im Energiebereich. Der Russland-Feind Zbigniew Brzezinski wurde von Madeleine Albright angeworben, um dabei zu helfen, Energieflüsse nach Europa unter Umgehung Russlands einzurichten. Er arbeitete mit meinem Harvard-Kommilitonen Richard Morningstar zusammen, der in den folgenden Jahren im Außenministerium eine steile Karriere als Verschwörer gegen russische Gas- und Ölexporte machte.

Im neuen Jahrtausend verschlechterten sich die Beziehungen zwischen den USA und Russland drastisch, nachdem sich Russland 2003 gemeinsam mit Deutschland, Frankreich und Belgien gegen die geplante Invasion im Irak ausgesprochen hatte und damit den USA die dringend benötigte UN-Deckung für ihren bevorstehenden Angriffskrieg entzogen hatte. Der Beginn eines Informationskriegs gegen Russland, der mit McCarthy-Methoden Kritiker der Washingtoner Russlandpolitik zum Schweigen bringen sollte, datiert jedoch auf das Frühjahr 2007. Damit reagierte die Regierung George W. Bush auf die Rede Wladimir Putins auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar desselben Jahres, in der der russische Präsident den Vereinigten Staaten vorwarf, die Weltherrschaft aufrechtzuerhalten und ihre eigene nationale Sicherheit und Interessen auf Kosten aller anderen, insbesondere Russlands, zu optimieren.

In den folgenden Jahren nahm die antirussische Stimmung in der gesamten amerikanischen Gesellschaft stetig zu und wurde vom Weißen Haus voll unterstützt. Ich habe diese Stimmung im Hochschulbereich während des akademischen Jahres 2010-2011 erlebt, als ich als Visiting Fellow am Harriman Institute tätig war. Das Harriman-Institut war damals das Zentrum für Russischstudien an der Columbia University, wie schon seit seiner Gründung im Jahr 1949.

In den Jahren 2010 und 2011 war das Ausmaß der antirussischen Hysterie an der Columbia so groß, dass bei den vom Institut organisierten Vorträgen und Diskussionsrunden jeder, der eine Frage zu den Äußerungen der eingeladenen Anti-Putin-Redner stellte, sofort als "Handlanger Putins" denunziert wurde. Das Niveau des Diskurses an dieser Hochschule war schon damals auf das Niveau von einem Kindergarten (sic!) gesunken.

Im Vorfeld der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014 ließen die Medien den Russlandhassern freien Lauf, als sie über die wilden Tiere berichteten, die angeblich das schäbig gebaute Olympische Dorf durchstreiften. Doch die Hysterie erreichte ein völlig neues Niveau, als der Staatsstreich in Kiew im Februar 2014 radikale ukrainische Nationalisten an die Macht brachte, die von den Vereinigten Staaten unterstützt wurden, der russischsprachige Donbass rebellierte und die Krim für den Anschluss an die Russische Föderation stimmte. Nach dem Flugzeugabsturz von MH17 in jenem Sommer, der in Folge der Zurückhaltung wichtiger Geheimdienstdaten durch die USA nie zufriedenstellend erklärt werden konnte, wurde die amerikanische McCarthy-Ansteckung an Europa weitergegeben, um die schweren Wirtschaftssanktionen zu rechtfertigen, die von den Verbündeten auf beiden Seiten des Atlantiks gegen Russland verhängt wurden.

Zu diesem Zeitpunkt, Mitte 2014, wurden alle "abweichenden" Ansichten über Putin und Russland in den Mainstream-Medien der USA nicht mehr geduldet. Professor Stephen Cohen, der in den späten 90er Jahren dank seiner Nähe zu Gorbatschow und der liberalen, den Westen liebenden russischen Intellektuellenschicht der Liebling der US-Fernsehsender gewesen war, fand sich nun nicht nur von Kollegen geächtet, sondern stand bei den großen Medien auf der schwarzen Liste. Ich weiß das, weil wir damals in regelmäßigem Kontakt standen und er darüber gesprochen hat.

Allerdings gab es ein paar seltene Ausnahmen von diesem Blackout. Eine davon war die Stimme des Professors John Mearsheimer von der University of Chicago, der einen Aufsatz darüber schrieb, warum der Westen die Schuld an der im Donbas ausgebrochenen Ukraine-Krise und an der russischen Einnahme der Krim trägt. Sein Artikel wurde in der Herbstausgabe 2014 der Zeitschrift Foreign Affairs veröffentlicht und löste einen Sturm von kritischen Leserbriefen aus dem außenpolitischen Establishment aus. Ein Video seines Vortrags zum selben Thema, das 2015 von der University of Chicago auf youtube veröffentlicht wurde, ging viral. Es ist immer noch zugänglich und wurde von mehr als 29 Millionen Besuchern der Website angesehen.

Mearsheimers Fall war jedoch die große Ausnahme. Er war ein West Point-Absolvent. Er war kein Russland-Spezialist und wurde als jemand wahrgenommen, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Außerdem hatte er einen früheren Skandal überlebt, weil er ein Buch geschrieben hatte, in dem es um heilige Kühe ging, die heute nur noch mit großer Vorsicht öffentlich diskutiert werden dürfen:

The Israel Lobby and U.S. Foreign Policy (2007), mit dem Co-Autor Professor Stephen Walt von Harvard

Aber andere Akademiker, insbesondere Russland-Spezialisten, waren nicht so unsinkbar wie Mearsheimer, und sie zogen es vor, zu schweigen, den Kopf unten zu halten, um nicht fristlos entlassen zu werden, weil sie sich als "russische Agenten" entlarvt hatten.

Der Tiefpunkt der Meinungsfreiheit in Bezug auf Russland könnte im Dezember 2015 erreicht worden sein. Damals veröffentlichte die tägliche Zusammenfassung russlandbezogener Artikel, die per E-Mail an amerikanische Universitäten und private Abonnenten verteilt wird, Johnson's Russia List (JRL), eine Ausgabe, die zu 100 % aus antirussischen Artikeln bestand. JRL veröffentlicht nur das, was Akademiker, Journalisten und andere Experten Tag für Tag veröffentlichen, und an diesem Tag im Dezember gab es keinen einzigen Artikel über Russland und Putin, der nicht verleumderisch oder Fake News war. Ich habe über dieses Problem in "A Christmas Present to Russia-Bashers from Johnson’s Russia List." in: Does Russia Have a Future? Kapitel 12 ("Ein Weihnachtsgeschenk für Russland-Basher von Johnsons Russland-Liste") geschrieben.

Übrigens habe ich genau dieselbe düstere, lähmende Form des antirussischen McCarthyismus 2015 in Deutschland erlebt, als ich zu Gast bei einer Konferenz der SPD-Denkfabrik im Taunus war. Das habe ich in einem Artikel mit dem Titel "2015 Schlangenbad Dialogue: The East-West Confrontation in Microcosm" in: Does Russia Have a Future? 2015, (Kapitel 62) (Schlangenbad Dialog: Die Ost-West-Konfrontation im Mikrokosmos") beschrieben.

Aber wie man so schön sagt: Vor dem Morgengrauen ist es immer am dunkelsten, und im neuen Jahr 2016 haben wir gesehen, dass in der Fachliteratur über Russland tausend Blumen blühten. Warum? Weil es das Jahr des Wahlkampfs von Donald Trump für die Präsidentschaft war. Trump sagte über Putin, über die NATO und andere heilige Dinge, was gewöhnliche Sterbliche, ganz zu schweigen von schüchternen Akademikern, nicht zu sagen wagten, um nicht auf der Straße zu landen, wenn nicht sogar noch schlimmer. Trump hat es im Alleingang mit den McCarthyianern in vielen Bereichen aufgenommen, von denen die russischen Angelegenheiten nur einer waren. Trump hat unwissentlich und ohne Rücksicht auf die geistige Freiheit das getan, was Elon Musk mit seiner Übernahme von Twitter bewusst angestrebt hat. Beachten Sie: Beide Verteidiger der freien Meinungsäußerung waren/sind Konservative und die Hasser der freien Meinungsäußerung waren Liberale und Progressive.

Natürlich hat es unter Bidens von der Demokratischen Partei dominierten Regierung einen Rückfall in den McCarthyismus in Bezug auf russische Angelegenheiten gegeben. Man denke nur an die ganze "cancel Russia"-Kampagne. Ich stelle fest, dass das Harriman-Institut an der Columbia University heute praktisch ein Zentrum für ukrainische Studien ist, während die Russisch-Studien in einer "Entkolonialisierungs"-Säuberungsaktion von Akademikern und Kursen untergehen.

Niemand in den USA muss heute befürchten, um Mitternacht von der Bundespolizei über seine Meinung zu Putin und seiner militärischen Sonderoperation befragt zu werden. Das kann man von Kanada nicht behaupten, wo ein gewisser ehemaliger Diplomat in der Moskauer Botschaft des Landes und vielgelesener Blogger über russische Angelegenheiten im neuen Jahrtausend namens Patrick Armstrong von Geheimdienstmitarbeitern unter Druck gesetzt wurde, zu schweigen "oder sonst". Er befolgte ihren Rat und schloss seine Webplattform. Aber Kanada hatte noch nie einen Trump an der Spitze des Landes.

Abschließend möchte ich denjenigen, die einen ausgezeichneten Insiderbericht darüber lesen möchten, wie das Management der New York Times bewusst auf den Grundsätzen herumgetrampelt ist, die in dem Motto der Gründer "all the news that's fit to print" (alle Nachrichten, die zum Druck geeignet sind) zum Ausdruck kommen, und wie Steve Cohen witzig sagte, "all the news that fits" (alle Nachrichten, die zu seinen progressiven demokratischen Vorurteilen passen), einen Aufsatz des langjährigen Op-Ed-Redakteurs der Zeitung, James Bennett, wärmstens empfehlen: "When The New York Times lost its way" (Als die New York Times ihren Weg verlor). https://www.economist.com/1843/2023/12/14/when-the-new-york-times-lost-its-way?utm_id=1834944

Die völlige Missachtung, wenn nicht gar Verachtung anderer Seiten eines Themas ist ein wesentliches Fundament, auf dem der heutige McCarthyismus aufbaut.

Quelle: https://gilbertdoctorow.com/
Mit freundlicher Genehmigung von Gilbert Doctorow
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

Weitere Beiträge in dieser Kategorie