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Die DISCORD-LEAKS: Ein Discord-Mitglied beschreibt, wie die Geheimdokumente aus einer geschlossenen Chat-Gruppe durchsickerten

Die Online-Gruppe, die Hunderte von Seiten mit geheimem Material erhielt, umfasste auch Ausländer
Von Shane Harris und Samuel Oakford The Washington Post, 12. April 2023
21. April 2023

Der Mann, der hinter dem massiven Leak von Geheimnissen der US-Regierung steckt [s. https://www.washingtonpost.com/world/2023/04/10/faq-leaked-pentagon-documents/ ] das die Ausspähung von Verbündeten (durch US-Geheimdienste) aufgedeckt, die düsteren Aussichten der Ukraine im Krieg mit Russland enthüllt [s. https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/12/leaked-documents-ukraine-war/ ] und dem Weiße Haus große diplomatische Probleme beschert hat, ist ein junger, charismatischer Waffennarr. Er hat streng geheime Dokumente mit einer Gruppe weit verstreuter Bekannter geteilt, die in der Isolation der Pandemie nach Gesellschaft suchten.

Die rund zwei Dutzend Mitglieder (der Chat-Gruppe)   – meist junge Männer und Jugendliche   – waren durch ihre gemeinsame Liebe zu Waffen, militärischer Ausrüstung und (ihren Glauben an) Gott verbunden und gründeten 2020 auf Discord [s. https://www.washingtonpost.com/world/2023/04/12/discord-leaked-us-intelligence-documents/ (und https://discord.com/ )] einer bei Gamern beliebten Online-Plattform, einen Chat-Club   – nur für geladene Gäste. Diese schenkten einer Nachricht voller seltsamer Akronyme und Fachausdrücke, die ihnen ein Club-Mitglied, den einige "OG" nannten, schon im letzten Jahr zukommen ließ, erst wenig Aufmerksamkeit. Weil die Worte, die "OG" gebrauchte, ungewohnt, waren, hätten nur wenige der Club-Mitglieder diese lange Nachricht überhaupt gelesen, erklärte unser Informant, der ebenfalls dem Club angehörte. Er selbst habe "OG" als älteren Anführer ihres kleinen "Stammes" verehrt, weil dieser behauptet habe, Geheimnisse zu kennen, die von der US-Regierung den normalen Menschen vorenthalten würden.

Unser Informant, der nicht nur die erste Nachricht "OGs" genau gelesen hat, , sondern auch die hunderte anderen, die über Monate hinweg regelmäßig folgten. Nach seiner Erinnerung hat es sich dabei um fast wortwörtliche Abschriften geheimer Dokumente von US-Geheimdiensten gehandelt, die OG nach eigenen Angaben während seiner Arbeit auf einer "Militärbasis", die der Informant nicht nennen wollte, angefertigt hatte. OG behauptete, er habe zumindest einen Teil seines Tages in einer gesicherten Einrichtung verbracht, in der Mobiltelefone und andere elektronische Geräte verboten waren. Dort habe er Zugang zu geheimen Informationen, gehabt, die in den Computernetzwerken der Regierung gespeichert waren oder aus den Druckern liefen, und die er kopieren konnte. OG habe einige der handgeschriebenen Kopien von Dokumenten kommentiert und die rätselhafte Geheimdienstsprache für Uneingeweihte übersetzt. Beispielsweise habe er erklärt, "NOFORN" bedeute, dass die Informationen in dem Dokument so sensibel seien, dass sie nicht an ausländische Staatsangehörige weitergegeben werden dürften.

OG erzählte der Gruppe, dass er sich stundenlang damit abmühe, die geheimen Dokumente abzuschreiben, um sie mit seinen Kameraden auf dem von ihm kontrollierten Discord-Server teilen zu können. Der Treffpunkt (im Netz) war, insbesondere für jugendliche Spieler, die (während der Covid-19-Pandemie) in ihren Wohnungen eingeschlossen und von ihren Freunden in der realen Welt isoliert waren, ein Zufluchtsort gewesen. Die Mitglieder tauschten Infos, anzügliche Witze und leeres Geschwätz aus. Sie schauten gemeinsam Filme und machten sich lustig darüber. Manchmal beteten sie auch gemeinsam. OG habe sie aber auch über das Weltgeschehen und geheime Regierungsoperationen belehrt . Er wollte "uns auf dem Laufenden halten", sagte der Informant. "Er schien zu glauben, dass sein Insiderwissen den anderen Schutz in der sie umgebenden unruhigen Welt bieten könnte."

"Er ist ein kluger Mensch und wusste natürlich, was er tat, als er diese Dokumente an uns weitergab. Es handelte sich nicht um zufällige Lecks", betonte der Informant .

Die von OG geposteten transkribierten Dokumente umfassten eine Reihe sensibler Themen, die nur Personen einsehen durften, die sich monatelangen Hintergrundprüfungen unterzogen hatten. Es handelte sich um streng geheime Berichte über den Aufenthaltsort und die Bewegungen hochrangiger Politiker und um taktische Aktualisierungen bei den Streitkräften, um geopolitische Analysen und um Einblicke in die Bemühungen ausländischer Regierungen, sich in Wahlen einzumischen. "Was man sich nur vorstellen kann stand in diesen Dokumenten," erläuterte der Informant.

In seinen ersten Beiträgen hatte OG seinen Mitstreitern nur einen kleinen Vorgeschmack auf die Flut von Geheimnissen gegeben, die noch kommen sollte. Weil es sich als zu mühsam erwies, Hunderte von Verschlusssachen von Hand zu übertragen, begann OG Hunderte von Fotos von den Dokumente zu posten. Es war eine erstaunliche Menge an Geheimnissen, von denen in den letzten Wochen immer mehr an die Öffentlichkeit gelangt sind. Sie stören die Außenpolitik der USA und verärgern ihre Verbündeten.

Dieser Bericht darüber, wie detaillierte Dokumente der Geheimdienste, die eigentlich nur für einen exklusiven Kreis von Militärs und Entscheidungsträgern der Regierung bestimmt waren, ihren Weg in die geschlossene OG-Gemeinschaft und dann weiter in die Öffentlichkeit fanden, basiert zum großenTeil auf mehreren längeren Interviews der Washington Post mit dem Informanten aus der Discord-Gruppe. Der hat nur unter der Bedingung, anonym bleiben zu können, mit uns gesprochen. Er ist unter 18 Jahre alt und war noch ein Teenager, als er OG kennenlernte. Die Washington Post hat von der Mutter des Informanten die Zustimmung erhalten, mit ihm sprechen und seine Äußerungen auf Video aufnehmen zu dürfen. Er hat uns jedoch darum gebeten, seine Stimme nicht unkenntlich zu machen.

Der Bericht unseres Informanten wurde von einem zweiten Mitglied (der Discord-Grupppe) bestätigt, das auch viele der von OG weitergegebenen geheimen Dokumente gelesen hat und ebenfalls anonym bleiben wollte. Beide erklärten, OGs richtigen Namen und den Staat, in dem er lebt und arbeitet, zu kennen, lehnten es aber ab, diese Informationen preiszugeben, während das FBI noch nach ihm sucht. Die Untersuchung befindet sich noch im Anfangsstadium. Das Pentagon hat eine eigene interne Untersuchung unter der Leitung eines hohen Beamten eingeleitet.

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Über ein eingeschobenes "Carousel" aufzurufende Zusatzinfos:

Die Discord Leaks

Dutzende von streng geheimen Dokumenten sind im Internet aufgetaucht. Sie enthalten sensible Informationen, die nur für hochrangige Militärs und Geheimdienstmitarbeiter bestimmt sind. In einer exklusiven Überprüfung untersuchte Die Washington Post auch zahlreiche geheime Dokumente, von denen die meisten noch nicht veröffentlicht wurden [s. https://www.washingtonpost.com/discord-leaks/ ].

Wer hat die Dokumente weitergegeben?

Jack Teixeira, ein junges Mitglied der Massachusetts Air National Guard, wurde am Donnerstag im Rahmen der Ermittlungen zur Weitergabe von Hunderten von Seiten geheimer militärischer und geheimdienstlicher Informationen verhaftet. Die Washington Post berichtete, dass er, die Informationen weitergegeben und die Dokumente mit einem kleinen Kreis von Online-Freunden auf der Chat-Plattform Discord geteilt hat.

Was verraten die durchgesickerten Dokumente über die Ukraine?

Die Dokumente offenbaren tiefgreifende Bedenken hinsichtlich des Verlaufs des Krieges und der Fähigkeit Kiews, eine erfolgreiche Offensive gegen die russischen Streitkräfte durchzuführen [s. https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/12/leaked-documents-ukraine-war/ ]. Laut einer Einschätzung der Defense Intelligence Agency (DIA, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Defense_Intelligence_Agency ), die sich unter den durchgesickerten Dokumenten befindet, sind "Verhandlungen zur Beendigung des Konflikts im Laufe des Jahres 2023 unwahrscheinlich". [s.dazu auch https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/08/intelligence-leak-documents-ukraine-pentagon/ ]

Was zeigen sie noch?

Die Akten enthalten Zusammenfassungen und Geheimdienstinformationen über Gespräche zwischen führenden hochrangigen Politikern der Welt sowie Informationen über fortschrittliche Satellitentechnologie, die von den USA zur Spionage eingesetzt wird. Sie enthalten auch Informationen über Gegner wie Iran und Nordkorea [s. https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/08/intelligence-leak-documents-ukraine-pentagon/ ], sowie Verbündete wie Großbritannien, Kanada, Südkorea und Israel [s. https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/08/leaked-documents-israel-mossad-judicial-reform/ ].

Wie geht es jetzt weiter?

Das Leck hat weitreichende Folgen für die USA und ihre Verbündeten. Zusätzlich zu den Ermittlungen des Justizministeriums erklärten Beamte in mehreren Ländern, dass sie den durch die undichte Stelle entstandenen Schaden abschätzen wollen.

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"Es wurden behördenübergreifende Anstrengungen unternommen, um die Auswirkungen dieser fotografierten Dokumente auf die nationale Sicherheit der USA und auf unsere Verbündeten und Partner zu bewerten", sagte die stellvertretende Pressesprecherin des Pentagons, Sabrina Singh, in einer Erklärung

Discord teilte in einer Erklärung mit, dass es mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeite und lehnte eine weitere Stellungnahme ab.

Die Washington Post hat auch etwa 300 Fotos von geheimen Dokumenten geprüft, von denen die meisten nicht veröffentlicht wurden, darunter einige der Textdokumente, die OG geschrieben haben soll und eine Audioaufnahme eines Mannes, den die beiden informierenden Gruppenmitglieder als OG identifizierten, wie er zu ihnen spricht. Auch Chat-Aufzeichnungen und Fotos, die zeigen, wie OG mit ihnen auf dem Discord-Server kommuniziert, wurden geprüft.

Der junge Informant war beeindruckt von OGs scheinbar prophetischer Fähigkeit, wichtige Ereignisse vorherzusagen, bevor sie in die Schlagzeilen gerieten   – Dinge, die "nur jemand mit sehr hoher Zugangsberechtigung" wissen konnte. Nach eigenen Angaben war er von OG, der nach seinen Angaben Anfang bis Mitte 20 ist, hell begeistert

"Er ist fit und stark. Er ist bewaffnet und trainiert. Er verkörpert so ziemlich alles, was man von einem (Schauspieler in einem) verrückten Action-Film erwarten kann", fügte der Informant hinzu.

In einem Video, das The Washington Post auch gesehen hat, steht der Mann, den der Informant als OG bezeichnet, auf einem Schießstand, trägt eine Schutzbrille und Ohrenschützer und hält ein großes Gewehr im Anschlag. Er schreit eine Reihe rassistischer und antisemitischer Beleidigungen in die Kamera und feuert dann mehrere Schüsse auf ein Ziel ab.

Der Informant schien von OGs Draufgängertum und seinem Geschick im Umgang mit Waffen angetan zu sein. Er fühlte eine gewisse Verwandtschaft mit einem Mann, den er "wie einen Onkel" und bei einer anderen Gelegenheit als Vaterfigur verehrte.

"Ich war eine der wenigen Personen auf dem Server, die verstehen konnten, dass diese [Dokumente] echt waren", sagte der Informant. Damit hob er sich von den anderen ab, die OGs Beiträge meist ignorierten.

"Ich fühlte mich, als sei ich auf dem Gipfel des Mount Everest,", berichtete der Informant. "Ich hatte das Gefühl, dass ich bis zu einem gewissen Grad über allen anderen stand, weil ich Dinge wusste, die sie nicht wussten."

"Eine eingeschworene Familie"

Der Informant lernte OG vor etwa vier Jahren kennen-- auf einem anderen Server für Fans von Oxide, einem beliebten YouTuber, der Videos über Waffen, Schutzwesten und militärische Ausrüstung streamt. Er berichtete, eine Gruppe begeisterter Mitglieder habe den Server zu voll gefunden und einen ruhigeren Ort gesucht, um sich über Taktiken in Videospielen zu unterhalten. Deshalb hätten sie sich eine eigene kleine Gruppe gegründet.

Weitere gleichgesinnte Oxide-Fans schlossen sich der neuen Gruppe auf dem privaten Discord-Server an, der sich später den Namen "Thug Shaker Central" gab. Als dessen Administrator konnte OG die Mitglieder effektiv kontrollieren,

"Wir sind uns alle sehr nahe gekommen, wie eine enge Familie", erzählte der Informant "Wir waren aufeinander angewiesen." Andere Mitglieder, vor allem OG, hätten ihm in einer depressiven Phase sehr dabei geholfen, sich wieder emotional zu stabilisieren. ""wir haben uns sehr umeinander gekümmert." .

OG sei der unbestrittene Anführer und sehr "streng" gewesen. Er habe eine "Hackordnung" durchgesetzt und von den anderen erwartet, dass sie die geheimen Informationen, die er weitergab, aufmerksam lasen. Wenn ihre Aufmerksamkeit nachließ, sei er wütend geworden.

Ende letzten Jahres habe sich ein verärgerter OG in eine Nachricht an alle Mitglieder Gruppe beklagt: Er verbringe jeden Tag fast eine Stunde damit, "diese langen und viel Zeit beanspruchenden Beiträge zu verfassen, die er oft noch durch Anmerkungen und Erklärungen zu Sachverhalten ergänze, die Normalbürger nicht verstünden. Seine Schüler interessierten sich aber mehr für You-Tube-Videos über Kampfausrüstungen.

"Er wurde wütend und sagte mehrmals, wenn ihr euch nicht damit befassen wollt, werde ich aufhören, weiter Beiträge zu schicken," berichtete der Informant.

Daraufhin habe OG seine Taktik geändert. Anstatt seine Zeit damit zu verbringen, Dokumente abzuschreiben, habe er sie fotografierte und die Fotos geschickt. Die Fotos von den Dokumenten seien viel anschaulicher und fesselnder als die reinen Textdarstellungen gewesen. Einige hätten detaillierte Diagramme über Entwicklungen auf dem Schlachtfeld in der Ukraine[s. https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/08/leak-documents-ukraine-air-defense/ ] und streng geheime Satellitenbilder von den Folgen russischer Raketenangriffe auf ukrainische elektrische Anlagen enthalten. Auf anderen seien mögliche Flugbahnen nordkoreanischer ballistischer Atomraketen zu sehen gewesen , welche die USA erreichen könnten. Es habe auch Fotos des chinesischen Spionageballons gegeben, der im Februar über den USA schwebte   – aufgenommen aus nächster Nähe, vermutlich von einem U-2-Spionageflugzeug. Es sei auch ein Diagramm des Ballons und der daran befestigten Überwachungstechnik zu sehen gewesen [s. auch https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/02/14/china-spy-balloon-path-tracking-weather/ ].

OG stellte ab Ende letzten Jahres pro Woche mehrere Dokumente zur Verfügung. Das Einstellen von Bildern auf dem Server nahm viel weniger Zeit in Anspruch. Es setzte OG aber auch einem größeren Risiko aus. Im Hintergrund einiger Bilder waren Gegenstände und Möbel aus dem Raum zu erkennen, in dem OG per Video über den Discord-Kanal zu der Gruppe spricht . Diese Art von Hinweisen hat sich als sehr nützlich für die Ermittler der Regierung erwiesen.

Die dramatische, aber auch recht fahrlässige Präsentation der Dokumente machte der Gruppe endlich klar, dass OG Zugang zu einigen der am strengsten gehüteten Geheimdienstinformationen der US-Regierung haben musste. "Wenn man Zugang zu geheimen Dokumenten hat, möchte man das auch zeigen, um als der große Boss zu erscheinen," vermutete der Informant. "Man will vor Freunden ein bisschen angeben, sie aber auch auf dem Laufenden halten."

In gewisser Weise hat OG ein virtuelles Spiegelbild der geheimnisvollen Einrichtung geschaffen, in der er seine Arbeitszeit verbrachte. Innerhalb des Discord-Servers war er der ultimative "Hüter der Geheimnisse", der seinen Kumpanen, Einblicke ermöglichte , die "normale Bürger" nicht hatten.

Ein Bruch der Geheimhaltung

Die Fotos von gedruckten Geheimdokumenten, die von Millionen gesehen werden konnten, lieferten natürlich auch den Bundesagenten, die nach OG suchten, sachdienliche Hinweise . Reality Winner (s. dazu auch https://sz-magazin.sueddeutsche.de/politik/reality-winner-whistleblower-usa-nsa-trump-spion-90999?reduced=true ), die 2017 geheime Dokumente der National Security Agency (NSA, s. https://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_13/LP00414_060114.pdf ) an die Nachrichten-Website The Intercept weitergab, wurde durch geheime Markierungen auf den Ausdrucken entdeckt, die halfen, die Suche einzugrenzen. OGs Dokumente scheinen auf normalem Papier gedruckt worden zu sein und waren zerknittert, weil sie vierfach gefaltet worden waren. Manche der Fotos, die OG von den Dokumenten gemacht hat, scheinen auf einem Bett aufgenommen worden zu sein. Am Rande der Dokumente waren Gegenstände wie "Gorilla Glue (ein Hochleistungskleber), ein Handbuch für ein Zielfernrohr und ein Nagelknipser zu sehen. Andere, bisher nicht veröffentlichte Bilder, die von der Washington Post geprüft wurden, zeigten gedruckte Dokumente, die auf einer rot leuchtenden Tastatur lagen.

Der Umfang der geleakten militärischen und geheimdienstlichen Berichte war sehr groß. Monatelang lud OG regelmäßig Seite für Seite klassifizierter US-Einschätzungen hoch, die Aufschluss darüber gaben, wie tief der US-Geheimdienst in das russische Militär eingedrungen war. Sie zeigten, dass Ägypten geplant hatte, Russland Zehntausende von Raketen zu verkaufen, und legten nahe, dass sich russische Söldner an den NATO-Verbündeten Türkei gewandt hatten, um Waffen für den Kampf gegen die Ukraine zu kaufen.

Mindestens eines der Dokumente wurde offenbar von Intellipedia (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Intellipedia ) gedruckt, einem System zum Austausch von Daten, das Geheimdienste für ihre Zusammenarbeit und die Veröffentlichung von Berichten und Artikeln nutzen.

Die Dokumente waren eine weitere Lektion für die jüngeren Gruppenmitglieder, den OG zeigen wollte, wie die Welt in Wirklichkeit funktioniert. Nach Meinung des Informanten steht OG der US-Regierung nicht feindselig gegenüber. Er beharrt auch darauf, dass OG nicht im Auftrag irgendeines anderen Landes tätig war. "OG ist kein russischer Agent und auch kein ukrainischer Agent", beteuerte der Informant. Der Raum auf dem Server, in dem er die Dokumente veröffentlichte, trug den Namen "Bär gegen Schwein", womit Russland und die Ukraine gemeint waren, und OGs eher abfällig Äußerung über diese beiden Staaten, deute darauf hin, dass er in diesem Konflikt keine Partei ergreifen wollte.

OG habe aber auch die US-Regierung nicht besonders positiv eingeschätzt. Nach Aussage des Informanten sah OG in der US-Regierung und insbesondere in deren Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten eine finstere Macht, welche die US-Bürger unterdrücken und im Dunkeln lassen wolle. OG habe über die "Übervorteilung durch die Regierung" geschimpft und erzählte seinen Online-Kollegen, die US-Regierung verberge schreckliche Wahrheiten vor der Öffentlichkeit. OG habe behauptet, die Regierung sei im Voraus darüber informiert gewesen, , dass ein weißer Rassist im Mai 2022 in einem Supermarkt in Buffalo einen Amoklauf verüben wollte. Der Anschlag forderte 10 Tote, allesamt Schwarze, und drei weitere Verletzte. Bundesbeamte der Strafverfolgungsbehörden hätten die Morde zugelassen, damit sie mehr Geld fordern konnten. Der Informant glaubt diese unbegründete Behauptung, und betrachtet sie als Beispiel für OGs tiefen Einblick in die Korruptheit von Regierungsbehörden.

OGs Gruppe selbst hatte auch eine dunkle Seite. Der spätere Name des Discord-Servers, "Thug Shaker Central", war eine rassistische Anspielung und signalisierte den Mitgliedern, dass es ihnen freistand, "schmutzige Worte" zu gebrauchen und grobe Witze zu reißen. Die jungen Mitglieder bedauerten ihr Verhalten und wollten die anrüchigen Äußerungen als ungeschickten Versuch abzutun, "witzig" zu sein.

Es handelte sich nicht um einen "Rekrutierungsserver für Faschisten", beteuerte der Informant gegenüber der Washington Post.

Den Mitgliedern sei es verbotene gewesen,mit anderen Personen über die Geheimnisse und die Dokumente zu zu sprechen, die OG mit ihnen geteilt hatte.

"Die meisten Leute auf dem Server waren klug genug, um zu erkennen, dass die Dokumente nirgendwo anders veröffentlicht werden durften", erläuterte der Informant. In der Gruppe hätten sich aber auch ausländische Staatsbürger   – unter anderem aus Russland und der Ukraine   – befunden. Es lag also eine Missachtung der NOFORN-Warnung vor, die am oberen Rand vieler der von OG geteilten Dokumenten abgedruckt war.

Der Informant schätzte, dass sich auch Menschen aus Europa, Asien und Südamerika auf dem Server tummelten, aus verschiedenen Lebensbereichen. Von den etwa 25 aktiven Mitgliedern, mit Zugang zu dem Kanal "Bär-gegen Schwein" habe etwa die Hälfte im Ausland gelebt. "Diejenigen, die sich am meisten für das geheime Material zu interessieren schienen, stammten vor allem aus dem ehemaligen Ostblock und den postsowjetischen Ländern," stellte der Informant fest. Die Ukrainer hätten vor allem wegen des Krieges in ihrem Heimatland Interesse gezeigt.

Seit Jahren haben die US-Spionageabwehrbehörden Spieleplattformen als Magneten für Spione im Visier. Russische Geheimdienstmitarbeiter werden verdächtigt, sich mit Spielern anzufreunden, um sie als Informanten für ihre Dienste anzuwerben. Das sagte uns ein hochrangiger US-Beamter, der auch anonym bleiben wollte.

Es ist nicht klar, ob einer dieser Versuche erfolgreich war. Wenn ein ausländischer Agent einen Zugang zu dem OG-Server ergatter konnte, wäre es ihm auch möglich gewesen, die Dokumente einzusehen und Kopien davon anzufertigen, was auch "reguläre" Mitglieder getan haben.

Der Server hatte ein Leck

Den ganzen Winter über lud OG Dokumente auf den Server hoch. Niemand sprach davon, sie anderswo zu teilen. Doch am 28. Februar, begann ein anderer jugendlicher Nutzer des Thug Shaker Central-Servers ohne Wissen der Gruppe, mehrere Dutzend Fotos von geheimen Dokumenten auf einem anderen Discord-Server zu posten, der mit dem YouTuber "wow_mao" verbunden ist. Einige der Dokumente enthielten detaillierte Bewertungen der ukrainischen Verteidigungskapazitäten und zeigten, wie weit der US-Geheimdienst in die russische Militärführung hineinschauen konnte.

Am 4. März tauchten 10 Dokumente auf "Minecraft Earth Map" auf, einem Discord-Server, der sich auf das beliebte Videospiel konzentriert. Ein Nutzer, der das Konto betreibt, über das die kleinere Tranche von Bildern gepostet wurde, erklärte gegenüber der Washington Post, dass er sie über "wow_mao" erhalten habe.

Geheime und streng geheime Dokumente waren nun für Tausende von Discord-Nutzern zugänglich, die US-Behörden wurden aber erst einen Monat später auf das Leck aufmerksam. In der Zwischenzeit stellte OG Mitte März das Hochladen von Bildern ein. Am 5. April wurden geheime Dokumente zur Bewertung des Krieges in der Ukraine über russische Telegram-Kanäle und die Message-Board-Plattform "4chan" gepostet und begannen, zu Twitter zu wandern [s. https://twitter.com/AricToler/status/1644399422028087297 ]. Ein Bild, das die aktuelle Situation in der Ukraine am 1. März zeigte, war grob manipuliert worden, um die Zahl der ukrainischen Verluste in die Höhe zu treiben und die russischen Verluste herunterzuspielen.

Am nächsten Tag, kurz bevor die New York Times zum ersten Mal über das Leck berichtete (s. https://afsaneyebahar.com/2023/04/08/20695386/ ),habe sich OG verzweifelt auf dem Server gemeldet, was sehr ungewöhnlich für ihn gewesen sei, teilte der Informant mit.

"Er sagte, es sei etwas passiert, und er betete zu Gott, dass dieses Ereignis keine schlimmen Folgen haben dürfe. Das liege aber in Gottes Hand."

Kein Whistleblower

Bei aller Verachtung, die OG der US-Regierung entgegenbringt, gibt es nach Ansicht des Informanten keine Anzeichen dafür, dass er mit der Enthüllung von Dienstgeheimnissen die US-Öffentlichkeit über das von im missbilligte Verhalten der US-Regierung informieren wollte. Die als geheim eingestuften Dokumente seien nur für seine Online-Familie bestimmt gewesen, so der Informant.

"Ich würde OG keinesfalls und definitiv nicht als Whistleblower bezeichnen,", versicherte der Informant und wehrte sich vehement gegen Vergleiche mit Edward Snowden (s. https://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_13/LP06415_250315.pdf ), der geheime Dokumente über die staatliche Überwachung an Journalisten weitergegeben hatte.

Bemerkenswerterweise gab der Informant zu, auch noch in den letzten Tagen mit OG in Kontakt gestanden zu haben, obwohl bereits eine Fahndung des FBI im Gange war und das Pentagon eine eigene Suche nach der undichten Stelle eingeleitet hatte. Nach der Schließung des Thug Shaker Central-Servers verlegte OG seine Community auf einen anderen Server, um weiterhin mit ihr kommunizieren zu können.

"Er schien sehr verwirrt zu sein und nicht zu wissen, was er tun sollte", berichtet der Informant. "Er war sich völlig darüber im Klaren, was ihm passieren würde und dass er mit Konsequenzen zu rechnen hatte. Er wusste aber offensichtlich nicht, wie er sich verhalten sollte und schien ziemlich verzweifelt zu sein."

In seiner letzten Nachricht an seine Kameraden habe OG sie ermahnt, "sich bedeckt zu halten und alle Informationen zu löschen, die sich möglicherweise auf ihn beziehen könnten". Das habe alle Kopien geheimer Dokumente eingeschlossen, die OG weitergegeben hatte.

Als ihnen klar geworden sei, dass OG in großer Gefahr war und verschwinden wollte, hätten die Mitglieder seiner Thug Shaker Central-Community getrauert und geweint, als hätten sie ein Familienmitglied verloren.

In den stundenlangen Interviews drückte der Informant wiederholt seine Bewunderung und Loyalität gegenüber einem Mann aus, der auch seine jungen Anhänger in Gefahr gebracht hatte, indem er ihnen Zugang zu geheimen Informationen verschaffte und damit auch sie ins Blickfeld der Strafverfolgungsbehörden rückte.

"Ich habe nicht daran gedacht, dass er auch uns in Gefahr bringen könnte," äußerte der Informant.

Die Enthüllung der Dokumente habe Freundschaften zerbrechen lassen und auch den Informanten von dem Mann getrennt, der ihm Zuversicht und Sicherheit gab. Der Stress des Verlustes in Verbindung mit dem Ausmaß des Leaks habe ihn erschüttert und schlaflos gemacht.

Der Informant ist jetzt der Meinung, dass die ganze Welt die Geheimdokumente sehen sollte, die OG nur an eine kleine Gruppe weitergegeben hat. Er hält es für wichtig, dass die US-Bevölkerung erfährt, wofür die US-Geheimdienste ihre Steuergelder ausgeben. Er war besonders empört darüber, dass die Dokumente sogar die Überwachung ausländischer Verbündeter durch die USA beweisen.

Was der junge Mann als Offenbarung betrachtete, wird für die Länder, deren Beamte die USA seit Jahrzehnten überwachen, keine Überraschung gewesen sein. Es wird zwar selten darüber diskutiert und ist für Washington peinlich, wenn das aufgedeckt wird, aber es ist allgemein bekannt, dass die US-Geheimdienste viele befreundete Regierungen überwachen, genauso wie ausländische Verbündete versuchen, die USA zu überwachen.

Tausende von Militärangehörigen und Regierungsmitarbeitern in OGs Alter, die in ähnlichen Positionen wie er arbeiten, haben nach Ansicht von US-Beamten und Experten die die von OG geleakten Dokumente auch gesehen. Ungeachtet dessen, was seine jungen Anhänger über ihn dachten, verfügte OG über kein besonderes Wissen. Er besaß auch nicht die Fähigkeit, Ereignisse vorherzusagen. Er scheint er einigen sehr beeinflussbaren Teenagern aber eingeredet zu haben, er sei ein zweiter Jason Bourne (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Jason_Bourne_(Film) ).

Der Informant war sich sicher, dass die Behörden OG finden, aber nicht anklagen werden. ER glaubt, OG werde ohne ein ordentliches Verfahren in Guantánamo Bay inhaftiert werden, in einer "Black Site" (einem der geheimen CIA-Foltergefängnisse) verschwinden, oder wegen seines geheimen Wissens "ermordet" werden.

Sowohl der Informant als auch der OG-Anhänger, der seinen Bericht bestätigt hat, sahen keine Schuld in den Handlungen ihres Anführers und gaben stattdessen dem Teenager, der die Dokumente auf dem wow_mao-Server gepostet hatte, die Schuld an der Zerstörung ihrer Gemeinschaft.

"Vielleicht hätten wir eine bessere "Opsec" haben sollen", sagte der Informant in Anlehnung an den Jargon des Militärs und der Geheimdienstmitarbeiter für "Operations Security" (Absicherung der Operation).

Der Informant versicherte, er werde OGs Identität oder Aufenthaltsort nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben, damit der nicht gefasst werde und sich aus den USA absetzen könnte. "Ich fürchte, auch ich könnte irgendwann festgenommen werden. Sie werden wissen wollen, woher ich diesen Typen kannte, und versuchen, Informationen über ihn mir herauszubekommen. Vielleicht drohen sie mir mit einer Haftstrafe , wenn ich OGs Identität nicht preisgebe."

Bis heute haben sich die Strafverfolgungsbehörden aber noch nicht mit dem Informanten in Verbindung gesetzt. Auf die Frage, warum er bereit sei, OG zu helfen, obwohl er damit seine eigene Freiheit riskiere, antwortete der junge Mann ohne zu zögern: "Er war mein bester Freund."

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(Die nachfolgende Kurzfassung ist in in einem Kasten am Ende des Artikels abgedruckt.

Die Discord-Leaks

In exklusiven Interviews mit einem Mitglied der Discord-Gruppe, bei der auch geleakte US-Geheimdienstdokumente ausgetauscht wurden, erfuhr die Washington Post Details über den mutmaßlichen "Leaker OG". Wir erhielten auch eine Reihe bisher nicht veröffentlichter Dokumente aus einer Sammlung von Fotos geheimer Dateien, die auf einem privaten Server der Discord-Chat-Gruppe veröffentlicht wurden. Verfolgen Sie unsere Berichterstattung darüber

Wie es zu dem Leck kam: Die Washington Post erfuhr, dass die Person, die Zugang zu den Informationen hatte, die Dokumente mit einem kleinen Kreis von Online-Freunden über die Chat-Plattform Discord geteilt hat.

Der mutmaßliche Informant, der die Dokumente weitergab: Jack Teixeira, ein junger Soldat der Massachusetts Air National Guard, wurde am Donnerstag im Rahmen der Ermittlungen über die Weitergabe von Hunderten von Seiten mit geheimen militärischen Informationen verhaftet. Teixeira teilte seiner Online-Gruppe mit, dass er als technischer Mitarbeiter auf einem Stützpunkt in Cape Cod arbeitete und dort Zugang zu geheimen Dokumenten hatte. Das hat die Washington Post von einem Mitglied des Discord-Servers erfahren.

Was wir aus den geleakten Dokumenten gelernt haben: Durch das massive Dokumenten-Leak wurde eine Reihe von Geheimnissen der US-Regierung aufgedeckt, darunter das Ausspionieren von Verbündeten und die düsteren Aussichten für den Krieg der Ukraine mit Russland. Es hat dem Weißen Haus viele heiße Probleme eingebracht. Unter https://www.washingtonpost.com/world/2023/04/10/faq-leaked-pentagon-documents/ ist nachzulesen, was aus den geleakten Dokumenten zu erfahren war.

Über die Autoren

Shane Harris schreibt über Geheimdienste und nationale Sicherheit. Er war Mitglied von Reportageteams, die mit dem Pulitzer-Preis für Verdienste um die Öffentlichkeit, mit zwei George Polk Awards ausgezeichnet wurden. Er ist außerdem Gewinner des Gerald R. Ford Prize for Distinguished Reporting on National Defense. Shane ist Autor der beiden Bücher, "The Watchers" und "@War".

Samuel Oakford ist Video-Reporter für das Visual Forensics-Team der Washington Post. Bevor er zur Post kam, arbeitete er als leitender Journalist bei Storyful und als Reporter für Vice News bei den Vereinten Nationen. Außerdem war er Reporter für den zivilen Schadensbeobachter Airwars und führte Open-Source-Recherchen für das Jemen-Projekt von Bellingcat.

(Wir haben den Artikel aus der Washington Post mit DeepL-Unterstützung übersetzt und mit Links und Ergänzungen in runden Klammern und Hervorhebungen versehen. Die Links in eckigen Klammern waren bereits im Originaltext enthalten.)

Anmerkungen:

Betreibt die US-Regierung eine Art "Zentralarchiv", aus dem nicht nur streng geheime Lageberichte des Pentagons, sondern auch ebenso streng geheime Abhör- und Überwachungsprotokolle diverser US-Geheimdienste jederzeit und von entlegensten militärischen Dienststellen aus abzurufen sind? Kann ein noch so junger Soldat der Air National Guard eines US-Bundesstaates überhaupt unbegrenzten Zugang dazu haben?

Obwohl es sehr unwahrscheinlich ist, dass die US-Regierung so grob fahrlässig mit Staatsgeheimnissen umgeht, scheinen das die Interviewer der Washington Post das ungeprüft geglaubt zu haben. In Wirklichkeit muss jedoch jemand mit großen Vollmachten und "guten Gründen" Jack Teixeira ungehinderten Zugang zu den größtenteils als authentisch einzuschätzenden Geheimunterlagen verschafft haben und dabei bewusst das Risiko ihrer Veröffentlichung eingegangen sein.

Unter https://www.anti-spiegel.ru/2023/hat-wirklich-ein-junger-soldat-die-geheiminformationen-veroeffentlicht/ vermutet Thomas Röper, dass (diese) "Leaks bewusst von jenen Kräften innerhalb der (US-)Geheimdienste durchgestochen wurden, die die irrsinnige Politik der Biden-Administration aufdecken und stoppen wollen, um weiteren Schaden von den USA abzuwenden".

Über die russische Einschätzung der geleakten Dokumente hat Röper unter https://www.anti-spiegel.ru/2023/hinweise-auf-bewusste-desinformation-der-us-geheimdienste-nehmen-zu/ berichtet.

Quelle: ( https://www.washingtonpost.com/national-security/2023/04/12/discord-leaked-documents/ )
Übersetzt von Fee Strieffler und Wolfgang Jung, 21.04.23

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