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«Sagen wir nein zu den Kriegen, ja zum Frieden und ja zum Überleben des Planeten»

Jeffrey Sachs’ Rede bei der Konferenz der Religionsführer der Welt in Abu Dhabi
Beitrag übernommen mit Dank von zeit-fragen.ch, Nr. 25. v. 28. November 2023
30. November 2023
 

zf. Rund drei Wochen vor der 28. Weltklimakonferenz (COP28), die dieses Jahr vom 30. November bis zum 12. Dezember in Dubai in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) stattfindet, trafen sich am 6. und 7. November in Abu Dhabi mehr als 200 hochrangige Vertreter verschiedener Weltreligionen   – unter anderen Vertreter von Baha’i, Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam, Judentum, Sikhi   – gemeinsam mit Persönlichkeiten aus indigenen Bevölkerungsgruppen, Wissenschaftlern und Politikern. Zweck der Konferenz war die Vorbereitung der Weltklimakonferenz. Verabschiedet und unterzeichnet von 28 Vertretern religiöser Gemeinschaften wurde eine umfangreiche Erklärung zum Klimaschutz («Interreligiöse Erklärung von Abu Dhabi zum Klimawandel für die COP28»)1, die weit über technische Fragen hinausgeht und grundsätzliche Fragen anspricht. So heisst es zum Beispiel: «Wir erkennen die Verbindungen zwischen Klimawandel, Migration und Konflikten an und sehen das Potential für Menschen des Glaubens als ‹Umweltfriedensstifter›, die danach streben, Mitgefühl und Vermittlungspfade in Konflikten zu schaffen.»
  Einer der Redner auf dieser Konferenz war Jeffrey Sachs, Direktor des UN Sustainable Development Solutions Network. Jeffrey Sachs ist unseren Lesern als namhafter Friedensbotschafter bekannt. Und auch in seiner im folgenden dokumentierten Rede vom 6. November2 geht es vor allem um den Frieden   – und den Zusammenhang zwischen einer am Frieden orientierten Politik und dem Schutz der natürlichen Umwelt.

«Wir stehen vor der grössten
 Bewährungsprobe der Menschheit»

Eure Heiligkeiten, Eminenzen, Exzellenzen, meine Damen und Herren, wir stehen vor der grössten Bewährungsprobe der Menschheit: friedlich und nachhaltig auf einem überfüllten und miteinander verbundenen Planeten zu leben.
  Wir scheitern derzeit an dieser Aufgabe. Die Welt wird von Kriegen erschüttert. Die von Menschen verursachte Umweltzerstörung nimmt zu. Die Erde ist jetzt so warm wie seit 125 000 Jahren nicht mehr.
  Ich gebe den Politikern die Schuld, insbesondere den reichen und mächtigen Staaten.
  Gerade zu diesem Zeitpunkt, an dem sich die führenden Politiker der Welt im Vorfeld der COP28 mit der Klimakrise befassen sollten, werden wir statt dessen in einen verheerenden Krieg im Nahen Osten verwickelt.
  Die israelische Regierung hat bereits 10 000 unschuldige Zivilisten in Gaza getötet und lehnt dennoch die weltweiten Aufrufe zu einem Waffenstillstand ab. Israel begeht Kriegsverbrechen, belagert den Gaza-Streifen, bombardiert Krankenhäuser, Krankenwagen, Schulen und Wohnviertel und verursacht ein Blutbad.
  Die Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika legt ihrerseits ihr Veto gegen die Aufforderungen des UN-Sicherheitsrats und der UN-Generalversammlung ein, einen Waffenstillstand im Gaza-Streifen zu erreichen, wodurch Israels Amoklauf verlängert wird. Und während der Krieg in Gaza tobt, setzen die USA ihren rücksichtslosen Versuch fort, die Nato-Erweiterung um die Ukraine durchzusetzen, ungeachtet der nachdrücklichen Widerstände Russlands. Das Ergebnis ist ein andauernder Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, der die Ukraine völlig zerstört.
  Die Politiker der mächtigen Nationen, insbesondere meiner eigenen, haben uns in Kriege verwickelt, die die Menschen nicht wollen, und haben Massnahmen gegen den Klimawandel so weit verzögert, dass sie unser Überleben gefährden. Durch ihre unerbittliche Korruption haben die Politiker die Arbeit von Milliarden von Menschen zunichte gemacht.
  Warum tun sie das? Die Antworten sind ebenso historisch wie aktuell.
  Die erste Sünde ist Arroganz. Netanjahu glaubt, dass er und nur er allein über Leben und Tod in Gaza entscheiden kann. Er glaubt, dass er mit niemandem verhandeln muss, schon gar nicht mit den Palästinensern. Er verkennt völlig den Weg zu wahrer Sicherheit für Israel, der über Gerechtigkeit und nicht über Krieg erfolgt.
  Die zweite Sünde ist die Habgier. In vielen unserer Kriege geht es um das Streben nach Profit, wobei die Kriege weit mehr Reichtum vernichten, als jemals durch Eroberung gewonnen werden könnte.
  Die dritte Sünde ist Korruption. Die Kampagnen der US-Kongressabgeordneten werden von der US-Kriegsmaschinerie finanziert, d.h. von riesigen Konzernen mit Rüstungsaufträgen in Höhe von Hunderten von Milliarden Dollar, für die Krieg zum Geschäft wird und für die Wahlkampfspenden der Weg zur Förderung weiterer Kriege sind.
  Die vierte Sünde ist Ketzerei. Politiker hören auf falsche Propheten, die verkünden, dass ihre Nationen die natürlichen Herrscher über andere sind. Wer hat Präsident Biden gesagt, dass die USA das «unentbehrliche» Land sind? Sie sind es nicht. Sie sind nur ein Land unter 193 Nationen. Sie machen nur 4,1 Prozent der Weltbevölkerung aus. Die Welt braucht die Führung der USA nicht. Die Welt braucht die USA für eine friedliche Kooperation.
  Ich bin seit mehr als 40 Jahren in der Politikberatung tätig. Ich kann Ihnen die harte Wahrheit sagen. Die reichen und mächtigen Nationen glauben, dass sie die Welt durch Täuschung beherrschen können. Die USA haben Dutzende von verdeckten Operationen zum Sturz von Regierungen anderer Länder durchgeführt, darunter 64 gut dokumentierte Fälle von verdeckten Regimewechsel-Operationen allein zwischen 1947 und 1989. In den letzten 20 Jahren haben die USA Regierungen in Afghanistan, Haiti, Irak, Libyen und der Ukraine gestürzt, um nur einige Fälle zu nennen. Im Jahr 2011 wies Präsident Barack Obama die CIA an, Bashar al-Assad zu stürzen, was zu einem lang anhaltenden Krieg in Syrien führte, der eine halbe Million Tote forderte.
  Diese Kriegsführung und dieser unerbittliche Betrug müssen aufhören.
  Wir müssen Jesaja beherzigen und Schwerter zu Pflugscharen umschmieden. Mit den heutigen Technologien sind unsere modernen Pflugscharen und Sicheln wirkungsvoll genug, um den weltweiten Hunger zu beenden, die gesamte Menschheit zu ernähren und die Umwelt zu schützen.
  Der Krieg im Gaza-Streifen muss sofort beendet werden, bevor Israel noch mehr Blutvergiessen verursacht, damit wir uns nicht in einem regionalen Krieg wiederfinden. Israel kann seine wahre Sicherheit durch Frieden mit Palästina finden, und nur durch Frieden mit Palästina. Wenn Palästina in seinem eigenen Staat sicher ist, mit seiner Hauptstadt in Ost-Jerusalem und mit Kontrolle über die muslimischen heiligen Stätten, wird auch Israel Sicherheit und Frieden finden, und Jesajas Vision wird verwirklicht werden.
  Der Krieg in der Ukraine kann und wird aufhören, wenn die USA endlich ihre Bemühungen um eine Ausweitung der Nato auf die Ukraine einstellen und statt dessen direkt mit Russland über dringende Fragen der gegenseitigen Sicherheit verhandeln, einschliesslich einer erneuerten Diplomatie zur nuklearen Abrüstung.
  Trotz der Sünden der Reichen und Mächtigen gibt es noch Hoffnung auf Frieden, Eure Heiligkeiten und Exzellenzen. Ja, es gibt Hoffnung. Und Sie bringen diese Hoffnung.
  Die öffentliche Meinung in der Welt fordert mit überwältigender Mehrheit Frieden. Sie, die religiösen Führer der Welt, fordern Frieden und beten für Frieden. Die UN-Mitgliedsstaaten wünschen sich mit überwältigender Mehrheit Frieden, auch wenn Israel und die Vereinigten Staaten bisher die Forderungen der grossen Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten nach einem Waffenstillstand und einer Zwei-Staaten-Lösung für den israelisch-palästinensischen Konflikt ignoriert haben.
  Wenn der Rest der Welt sich für den Frieden einsetzt, wie es jetzt der Fall ist, müssen die Vereinigten Staaten und Israel auf den Ruf der Menschheit hören und ihn beherzigen.
  In seiner jüngsten weltweiten Botschaft im Vorfeld der COP28, Laudate Deum3, ruft Papst Franziskus zu einem neuen Multilateralismus auf, damit die Stimmen der ganzen Welt gehört werden und damit der Täuschung der Mächtigen Einhalt geboten wird. So schreibt der Heilige Vater: «Unsere Welt ist so multipolar und gleichzeitig so komplex geworden, dass ein anderer Rahmen für eine wirksame Zusammenarbeit erforderlich ist […]. All dies setzt die Entwicklung eines neuen Verfahrens für die Entscheidungsfindung und die Legitimierung dieser Entscheidungen voraus, da das vor mehreren Jahrzehnten implementierte Vorgehen weder ausreicht noch wirksam zu sein scheint. In diesem Rahmen wären notwendigerweise Räume für Gespräche, Konsultationen, Schlichtung, Konfliktlösung und Kontrolle erforderlich, und schliesslich eine Art verstärkte ‹Demokratisierung› im globalen Kontext, damit die verschiedenen Gegebenheiten zum Ausdruck gebracht und einbezogen werden können.»
  Lassen Sie uns daher hier in Abu Dhabi zu einem neuen und ehrlichen Dialog der Reichen mit den Armen, der Mächtigen mit den Machtlosen und der grossen Nationen mit den kleinen aufrufen. Sagen wir nein zu den Kriegen, ja zum Frieden und ja zum Überleben des Planeten.
  Lassen Sie uns den neuen Dialog heute beginnen, hier in dieser Versammlung religiöser Führer und in den Hallen der Vereinten Nationen, der Heimat von «We the Peoples» («Wir, die Völker»4) und der grössten Hoffnung der Menschheit für eine multilaterale Welt und einen nachhaltigen Planeten.
  Sagen wir den Staats- und Regierungschefs der Welt klar und deutlich: «Sie sind für das Gemeinwohl verantwortlich. Sie müssen Ihre Arroganz, Gier, Korruption und Irrlehren ablegen. Ihr derzeitiger Handlungsrahmen funktioniert nicht, daher brauchen wir Veränderungen.»
  Wir sollten uns auch darüber im klaren sein, dass es nicht das eine unentbehrliche Land gibt. Es gibt nur eine unentbehrliche Gerechtigkeit. Und mit Gerechtigkeit sind alle Länder unentbehrlich.
  Ich danke Ihnen für diese Zusammenkunft. Mögen wir überall auf der Welt die Liebe und den Respekt für unsere Mitmenschen finden, die so dringend notwendig sind.  •



Anmerkungen der Redaktion:
1 im englischen Original: https://www.partner-religion-development.org/global-faith-leaders-summit-interfaith-statement-for-cop28/; in deutscher Übersetzung: https://www.partner-religion-development.org/weltreligionen-indigene-interreligioese-erklaerung-weltklimakonferenz-cop28/
2 im englischen Original: https://www.newsmania.co.in/2023/11/17/jeffrey-sachs-speech-to-religious-leaders-at-the-pre-cop28-faith-leaders-summit-abu-dhabi-november-6-2023/; in deutscher Übersetzung: https://www.actvism.org/wp-content/uploads/2023/11/Jeffrey-Sachs-Rede-vor-religioesen-Fuehrern-auf-dem-Pre-COP28-Faith-Leaders-Summit.pdf
3 Papst Franziskus hatte im Vorfeld der Weltklimakonferenz das Apostolische Schreiben Laudate Deum veröffentlicht. Anfang November 2023 kündigte er seine Teilnahme an der Weltklimakonferenz an. Er ist damit der erste Papst, der an einer Klimakonferenz teilnimmt.
4 Die Charta der Vereinten Nationen beginnt mit dem Satz: «Wir, die Völker der Vereinten Nationen   – fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren […].»

Quelle: https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2023/nr-25-28-november-2023/sagen-wir-nein-zu-den-kriegen-ja-zum-frieden-und-ja-zum-ueberleben-des-planeten
Mit freundlicher Genehmigung von Zeit-Fragen.ch

 

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