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Die USA umwerben den entfremdeten NATO-Verbündeten Türkei

Von M. K. Bhadrakumar 20.04.2024 - übernommen von indianpunchline.com
21. April 2024

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Schattiertes Relief- und Radarbild der schmalen Bosporusstraße, die Istanbul mit der riesigen Weite des Schwarzen Meeres verbindet. Quelle: United States National Aeronautics and Space Administration 

Washington hat seine alte Werkzeugkiste hervorgekramt, um seinen Verbündeten aus dem Kalten Krieg, die Türkei, wieder einzubinden und die marode Allianz wiederzubeleben, damit sie den geostrategischen Interessen der USA in einem sich rasch verändernden regionalen Umfeld dient. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die Türkei ungeachtet der Dämonisierung von Präsident Recep Erdogan als Ausreißer weiterhin eine geopolitische Realität ist und das Potenzial eines "Swing State" besitzt. [Anm. des Übersetzers: Swing state (englisch für „Schaukelstaat“) ist ein Begriff zu Wahlen in den Vereinigten Staaten, der insbesondere bei Präsidentschaftswahlkämpfen verwendet wird. Der Begriff bezeichnet einen Staat, in dem beide großen Parteien (Demokraten oder Republikaner) eine gute Chance auf den Wahlsieg haben, er also gewissermaßen auf der Kippe steht.]

Diese Erkenntnis folgt wohl der zähneknirschenden Einsicht Washingtons, dass das alte Dogma "Ihr seid für uns oder gegen uns" in einer Zeit, in der der Einfluss der USA in globalen Angelegenheiten schwindet, nicht für aufstrebende Länder wie die Türkei   – oder Indien, Indonesien, Brasilien, usw.   – gelten kann und sollte.

Tatsächlich hat die Bedeutung der Türkei für die globale Politik der USA in direktem Verhältnis zur Konfrontation der USA mit Russland stark zugenommen, die aus dem 2014 begonnenen Stellvertreterkrieg in der Ukraine hervorgegangen ist und sich zum ersten Kreis der amerikanischen Außenpolitik und Diplomatie entwickelt hat, während die chinesisch-russische Beziehung das Niveau einer Quasi-Allianz erreicht hat und das transatlantische Bündnissystem unter Druck geraten ist.

In diesem Paradigma strebt Russland jedoch weiterhin eine intrinsische, für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft mit der Türkei im historischen Kontext an, die nicht lediglich Folge der Wechselfälle der türkisch-amerikanischen Beziehungen ist. Ein solcher Ansatz ist auch deshalb klug, weil Russland und die Türkei eine schwierige gemeinsame Geschichte hatten.

Moskau konzentriert sich darauf, die Beziehungen zu Ankara mit möglichst vielen positiven Inhalten zu füllen, insbesondere unter den Bedingungen der Sanktionen, die auf türkischer Seite Interessengruppen geschaffen und Russlands "Soft Power" in Anatolien erheblich gestärkt haben. (Ein ähnliches Phänomen zeigt sich auch gegenüber Indien.)

Während Erdogan in Russland einen nützlichen Ausgleich zu den USA sieht, sieht Moskau keinen Grund, sich durch das jüngste Tauwetter in den Beziehungen der Türkei zu den USA beunruhigt zu fühlen. Möglicherweise ist dies ein Grund dafür, dass Präsident Wladimir Putin seinen längst überfälligen Besuch in der Türkei noch nicht terminiert hat, obwohl Erdogan offensichtlich sehr darauf bedacht ist, dass dieser noch vor seinem eigenen Besuch in den USA am 9. Mai stattfindet.

Dennoch kann Russland nicht umhin, sich bewusst zu machen, dass die Türkei ein einzigartiges NATO-Mitgliedsland ist, das wirklich eine Ausweitung der Beziehungen zu Russland anstrebt und sich für eine dynamische Partnerschaft in einem breiten Spektrum von Energie über Raketen bis hin zum Tourismus einsetzt   – und das außerdem ein fein austariertes Verhältnis zum Iran hat, Russlands wichtigstem westasiatischen Partner.

Natürlich war die persönliche Beziehung zwischen Erdogan und Wladimir Putin hier ein Schlüsselfaktor, auch wenn ihr Glanz nach den jüngsten Kompromissen der Türkei mit den USA über die schwedische NATO-Mitgliedschaft etwas nachgelassen hat, was ein schwerer Rückschlag für Russlands Kerninteressen im arktischen Norden ist, einem Gebiet, das für Moskau von großer strategischer Bedeutung ist, da dort die russische atomar bewaffnete U‑Boot‑Flotte stationiert ist.

Aus amerikanischer Sicht ist die russisch-türkische Zusammenarbeit von entscheidender Bedeutung für die Sicherheit der Schwarzmeerregion, die im Brennpunkt des Ukraine-Konflikts steht. Im Rahmen des Abkommens von Montreaux (1936) kontrolliert die Türkei die Meerengen Dardanellen und Bosporus, deren Zugang für die Expansionsstrategien der USA im Rahmen der NATO derzeit ein entscheidender Faktor sein könnte. Die Sperrung des Bosporus durch die Türkei für westliche Kriegsschiffe unter den herrschenden Kriegsbedingungen in der Ukraine verschiebt das Kräftegleichgewicht im Schwarzen Meer zugunsten Russlands.

Außerdem wirkt sich die Sicherheit des Schwarzen Meeres und des östlichen Mittelmeers auf Russlands wachsende Präsenz in Nordafrika, der Sahelzone und der gesamten Zentralafrikanischen Republik aus, die reich an Bodenschätzen sind. Nachdem es gelungen ist, Armenien in die westliche Umlaufbahn zu bringen und die russische Friedenstruppe in Berg-Karabach zu entfernen, könnte die nächste Phase ein Vorstoß der NATO zur Schließung des russischen Stützpunkts in Armenien sein. Der Einfluss der Türkei in Transkaukasien ist daher langfristig ein potenzieller Wendepunkt, da Russlands unruhige muslimische Republiken im Nordkaukasus im Fadenkreuz des Westens stehen.

Im Großen und Ganzen wird die Türkei zu einem unverzichtbaren Teilnehmer an der "überregionalen" Expeditionsagenda der NATO, die bis nach Transkaukasien und ins Kaspische Meer reicht und sich in einem weiten Bogen weiter in Richtung Zentralasien und Afghanistan ausdehnt, was das westliche Bündnissystem in einem großen eurasischen Pivot direkt in die erweiterte Nachbarschaft Indiens bringen könnte, in Anlehnung an Mackinder’s Heartland Theory   – "Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Kernland, wer das Kernland beherrscht, beherrscht die Weltinsel, wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt." (1904)

Mackinder neigte dazu, übermäßig eurozentrisch zu sein, aber die Bedeutung des eurasischen Kernlandes hat nicht nur nicht abgenommen   – es beherbergt die meisten der verbleibenden Bodenschätze der Welt   –, sondern hat nach dem Aufstieg Chinas zur Supermacht und seiner "Belt and Road Initiative" sogar noch zugenommen.

Obwohl Russland in den 1980er Jahren seinen politischen Einfluss auf Osteuropa verloren hat, kontrolliert es immer noch das Kernland. Der ehemalige nationale Sicherheitsberater der USA und inoffizielle Berater von Obama und Biden, Zbigniew Brzezinski, stützte sich in seinem 1997 erschienenen Buch The Grand Chessboard (Das große Schachbrett) stark auf Mackinders Theorie, die er mit großer Weitsicht so formuliert hat:

"Die Geopolitik hat sich von der regionalen auf die globale Dimension verlagert, wobei die Vorherrschaft über den gesamten eurasischen Kontinent als zentrale Grundlage für die globale Vormachtstellung dient. Die Vereinigten Staaten, eine nicht-eurasische Macht, genießen nun eine internationale Vormachtstellung, wobei ihre Macht direkt an drei Peripherien* des eurasischen Kontinents eingesetzt wird .... Doch gerade auf dem wichtigsten Spielfeld der Welt   – Eurasien   – könnte irgendwann ein potenzieller Rivale Amerikas entstehen."

Es genügt zu sagen, dass Erdogans Reise ins Weiße Haus am 9. Mai, die erste derartige Veranstaltung während der Präsidentschaft Bidens, mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden wird. Biden dachte, er wolle Erdogan für seine unabhängige Außenpolitik bestrafen, indem er ihn ignoriert, aber er gibt jetzt klein bei, denn die Zusammenarbeit mit der Türkei kann ein "game changer" für die Förderung der US-Interessen in einer Reihe von Fragen sein.

Es ist jedoch eine andere Sache, dass auch Erdogan eine Wunschliste hat, die er mit Biden besprechen will, und sicherlich ein anspruchsvoller und ärgerlicher Gesprächspartner sein wird. Unterm Strich wird jede türkisch-amerikanische Jovialität durch die aufkommenden Kriegswolken in Westasien begrenzt, abgesehen von dem Vertrauensdefizit in den Beziehungen, das aus dem gescheiterten Militärputschversuch 2016 gegen Erdogan und der anschließenden Allianz des Pentagons mit kurdischen Kämpfern in Syrien resultiert, die den Separatismus innerhalb der Türkei anheizen.

Die Türkei hat sich geweigert, Sanktionen gegen Russland zu verhängen, und stattdessen ihre Bereitschaft zu einem Ausbau der Beziehungen zu Russland gezeigt. Im vergangenen Jahr besuchten über 6 Millionen russische Touristen die Türkei. In wichtigen regionalen und internationalen Fragen weicht die Haltung der Türkei zunehmend von der Washingtons ab.

So hat sich die Türkei insbesondere nicht der von den USA geführten Koalition gegen die Houthis im Roten Meer angeschlossen. In der vergangenen Woche wurde bekannt, dass sich die Türkei um die Teilnahme an der von China und Russland gemeinsam initiierten Internationalen Mondforschungsstation beworben hat (anstelle des unter dem Namen Artemis bekannten Monderkundungsprogramms der NASA).

Auch der israelische Luftangriff auf die iranische Botschaft in Damaskus am 1. April wurde von der Türkei scharf verurteilt, wohingegen die Reaktion Ankaras auf den iranischen Luftangriff auf Israel am 13. April mit Verspätung und in gedämpftem Ton erfolgte, wobei die Hauptsorge der möglichen Ausbreitung des israelischen Gaza-Konflikts in der gesamten Region galt, gefolgt von der Befürchtung, dass sich die internationale Aufmerksamkeit von der Gaza-Tragödie abwenden könnte.

In der Tat ist die Türkei das einzige NATO-Land, das sich geweigert hat, die von den USA unterstützte gemeinsame Erklärung vom Donnerstag gegen den Iran wegen dessen Vergeltungsschlag gegen Israel zu unterstützen.

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* Anm. des Übersetzers: Die “drei Peripherien” sind der westliche (Ukraine-Krieg), der südliche (Nah-Ost-Krieg) und der östliche (Taiwan-Krise) Stützpfeiler der anglo-dominierten wankenden Hegemonie. Daher versteht man auch, warum der amerikanische Kongress jetzt wieder das alte/neue Narrativ der „Achse des Bösen“ hervorkramt: die alten/neuen „Teufel“ sind Putin, Ebrahim Raisi und Xi.

Quelle: https://www.indianpunchline.com/us-woos-estranged-nato-ally-turkey/
Die Übersetzung besorgte Andreas Mylaeus

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